Öffentliches Recht
Examensrelevante Rechtsprechung ÖR
Entscheidungen von 2020
Verstoß gegen Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG durch polizeiliches Betreten von Abgeordnetenbüros
Verstoß gegen Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG durch polizeiliches Betreten von Abgeordnetenbüros
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
An Bs Abgeordnetenbüro hängt während des türkischen Staatsbesuchs eine kleine Kurdistan-Flagge. Die Bundestagspolizei, die Bundestagspräsident S unterliegt, geht hinein und entfernt die Plakate, um Ausschreitungen zu verhindern. B ist empört und wendet sich an das BVerfG.
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Einordnung des Falls
Verstoß gegen Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG durch polizeiliches Betreten von Abgeordnetenbüros
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 12 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Um sich gegen die polizeiliche Maßnahme zu wehren, muss B gegen S ein Organstreitverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5, §§ 63ff. BVerfGG) einleiten.
Ja, in der Tat!
Jurastudium und Referendariat.
2. Das Betreten der Abgeordnetenräume des B ist zulässiger Antragsgegenstand im Organstreitverfahren (§ 64 BVerfGG), obwohl nicht S selbst, sondern die Polizei gehandelt hat.
Ja!
3. Abgeordnete des Deutschen Bundestags können im Organstreitverfahren grundsätzlich nur eigene organschaftliche Rechte geltend machen (§ 64 Abs. 1 BVerfGG).
Genau, so ist das!
4. Die Antragsbefugnis des B ergibt sich auch aus einer möglichen Verletzung seiner Rechte aus Art. 40 Abs. 2 S. 2 GG aufgrund der Durchsuchung seiner Abgeordnetenräume.
Nein, das trifft nicht zu!
5. Abgeordneten des Deutschen Bundestags steht aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG das Recht zu, ihnen zugewiesene Räumlichkeiten ohne Beeinträchtigungen durch Dritte nutzen zu können.
Ja!
6. Das polizeiliche Handeln stellt vorliegend einen Eingriff in das Recht des B aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG dar.
Genau, so ist das!
7. Eingriffe in das freie Mandat von Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) können niemals gerechtfertigt sein.
Nein, das trifft nicht zu!
8. Die Polizei beim Deutschen Bundestag übt für den Bundestagspräsidenten die ihm übertragene Polizeigewalt (Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG) in den Gebäuden des Bundestags aus.
Ja!
9. § 23 Abs. 1 DA-PVD gestattet der Polizei beim Deutschen Bundestag das Betreten eines Raums zur Abwehr einer Gefahr. Darf die Polizei die Räume immer betreten, wenn dessen Tatbestand erfüllt ist?
Nein, das ist nicht der Fall!
10. Vorliegend fehlt es bereits am legitimen Zweck der polizeilichen Maßnahme.
Nein, das trifft nicht zu!
11. Jedenfalls ist die polizeiliche Maßnahme nicht angemessen, da die rechtfertigenden Gründe die Schwere des Eingriffs nicht überwiegen.
Ja!
12. Der Antrag des B ist begründet. S hat ihn durch das Betreten der ihm zugewiesenen Abgeordnetenräume in seinem Recht aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG verletzt.
Genau, so ist das!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Julian Hafner
25.1.2022, 14:54:07
Die Norm, nach der die Polizei beim Bundestag zu handelt hat, ist leider nicht verlinkt, sodass einem nur die Möglichkeit zu raten übrig bleibt.
Lukas_Mengestu
26.1.2022, 10:04:05
Danke Julian, die DA-PVD ist leider online nicht verlinkbar. Wir haben die Frage aber etwas umformuliert, damit man nicht mehr raten muss und es eindeutig ist. Zudem hänge ich Dir hier noch die Norm im Volltext an. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Lukas_Mengestu
26.1.2022, 10:05:13
§ 23 DA-PVD lautet: „§ 23 – Betreten und Durchsuchen von Räumen (1) Die Polizei kann einen Raum ohne Einwilligung der Benutzerin/des Benutzers zur Abwehr einer Gefahr betreten. (2) Die Polizei kann einen Raum ohne Einwilligung der Benutzerin/des Benutzers durchsuchen, wenn 1. Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich in ihm eine Person befindet, die nach § 15 Absatz 3 vorgeführt oder nach § 17 in Gewahrsam genommen werden darf, 2.Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich in ihm eine Sache befindet, die nach § 25 Nr. 1 sichergestellt werden darf oder dies zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder für Sachen von bedeutendem Wert erforderlich ist.
Lukas_Mengestu
26.1.2022, 10:05:47
3. dies zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder für Sachen von bedeutendem Wert erforderlich ist. (3) Die Durchsuchung ist – außer bei gegenwärtiger erheblicher Gefahr – nur mit Genehmigung der Präsidentin/des Präsidenten des Deutschen Bundestages zulässig. Die Präsidentin/Der Präsident ist unverzüglich vom Ergebnis der Durchsuchung zu unterrichten.“
cl@ra
3.7.2022, 23:10:47
Habe noch nicht verstanden, warum hier das Organstreitverfahren statthaft ist. Könnt ihr nochmal genau erklären, warum doch eine
verfassungsrechtliche Streitigkeitvorliegt? Könnte eine Verletzung von Art. 38 I 2 GG nicht theoretisch auch in einem verwaltungsrechtlichen Verfahren geltend gemacht werden?
Nora Mommsen
8.7.2022, 13:28:34
Hallo cl@ra, der Verwaltungsrechtsweg ist gem. § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO nur für solche Streitigkeiten, die nicht-verfassungsrechtlicher Art sind. Die verfassungsrechtliche Art eines Streits wird in der Regel positiv mittels der Formel der doppelten Verfassungsunmittelbarkeit festgestellt.
Nora Mommsen
8.7.2022, 13:31:10
liegt vor, wenn sich am Verfassungsleben beteiligte Organe über verfassungsrechtliche Fragestellungen streiten. Vorliegend geht es um Rechte aus Art. 38 GG, also Abgeordnetenrechte. Die stehen zwar dem B zu, aber in seiner Funktion als Abgeordneter des deutschen Bundestages. Er ist in dieser Hinsicht ein am Verfassungsleben beteiligtes Organ. Zudem geht es um die Rechte aus Art. 38 GG, die der Verfassung unmittelbar entspringen und damit verfassungsrechtlicher Art sind. Ist es so klarer geworden? Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
cl@ra
8.7.2022, 14:05:43
Erstmal vielen Dank für die Antwort. Ganz klar ist mir das hier im konkreten Fall noch nicht. Ich hatte im Kopf, dass der
Verwaltungsrechtsweg eröffnetist, wenn der Bundestagspräsident sein Hausrecht aus Art. 40 Abs. 2 s. 1 GG ausübt. Dass er also in diesem Fall als Verwaltungsträger des Bundestages handelt und nicht als ein unmittelbar am Verfassungsleben Beteiligter, sodass ausnahmsweise bei der Ausübung des Rechts nach Art. 40 Abs. 2 s. 1 GG keine
doppelte Verfassungsunmittelbarkeitbesteht. Und deswegen wundert es mich, dass hier der Weg zum Bundesverfassungsgericht eröffnet ist. Hoffe, dass meine Frage selbst jetzt etwas klarer ist :)
Sambadi
13.4.2023, 20:44:29
Es geht hier darum, dass der Antragsteller B als Abgeordneter ein am Verfassungsleben Beteiligtes Organ ist. Laut BVerfG: "Das vorliegende Verfahren betrifft die Reichweite der Rechte, die dem Antragsgegner aus Art. 40 Abs. 2 Satz 1 GG zustehen. Diese Streitigkeit ist – zumindest im vorliegenden Zusammenhang – verfassungsrechtlicher Natur. Streitgegenständlich ist die Frage, ob und inwieweit der Antragsgegner bei der Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 40 Abs. 2 Satz 1 GG die Abgeordnetenrechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG zu berücksichtigen und zu wahren hat. Der verfassungsrechtliche Charakter folgt aus dem Abgeordnetenstatus des Antragstellers. Abgeordnete genießen aufgrund von Art. 38 GG einen besonderen Schutz, während ein solcher Schutz bei anderen Nutzern des Bundestagsgebäudes nicht besteht. Der sonst verwaltungsrechtlich geprägten Ausübung von Polizeigewalt durch den Antragsgegner kommt daher hier verfassungsrechtliche Relevanz zu.
Selina-Tamara
6.3.2023, 15:32:57
Hallo liebes Jura Fuchs Team, dieser Fall kam heute in abgewandelter Form im Examenstermin BW dran. Danke für die Aufbereitung !
Lukas_Mengestu
6.3.2023, 16:07:55
Vielen Dank für den Hinweis, Selina-Tamara! Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Sambadi
13.4.2023, 20:52:00
Stellt das Entfernen der Plakate aber nicht eine Beschlagnahme gem. Art. 40 II 2 GG dar? Das BVerfG befasst sich damit nur im Rahmen des Art. 47 GG und stellt darauf ab, dass der Antragsteller diesen nicht gerügt habe. Oder geht es darum, dass er im Ausgangsfall nicht ausdrücklich auch das Entfernen des Plakats gerügt habe? Weil in eurem verkürzten Beispiel steht nur "er ist empört". Dies betrifft nach meinem Verständnis jedoch auch das Entfernen des Plakats (und somit eine mögliche Beschlagnahme?). Danke!
DerChristoph
2.8.2024, 08:25:14
Das habe ich mich auch gefragt. Ggf. meint "Beschlagnahme" nur ein Sicherstellen zu Beweiszwecken. Oder im konkreten Fall wurden die Schilder durch die Beamten nur ab-, aber nicht mitgenommen. Das wären zwei mögliche Überlegungen, warum Art. 38 Abs. 2 S. 2 nicht einschlägig war.
Nico
22.8.2023, 14:32:36
Heute in Köln als Examensklausur (Erstes) gelaufen.
Lukas_Mengestu
22.8.2023, 15:08:24
Nice, vielen Dank für den Hinweis! Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Marvin
23.8.2023, 15:53:48
Der Fall kam in abgewandelter Form auch gestern in Hamburg im 1. Examen dran!
Lukas_Mengestu
24.8.2023, 12:05:48
Klasse, danke für den Hinweis, Marvin!