+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
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Klassisches Klausurproblem
Die Kita der vierjährigen Lina hat wegen eines kurzfristigen Streiks der Erzieherinnen zwei Tage geschlossen. Da ihr alleinerziehender Vater Viktor (V) so schnell keine anderweitige Betreuung organisieren kann, meldet er seiner Arbeitgeberin Anna (A), für die er schon 15 Jahre arbeitet, dass er an diesen beiden Tagen nicht zur Arbeit komme. Hat V für die beiden Tage einen Anspruch auf Lohn?
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Einordnung des Falls
Persönliche Annahmeverhinderung (§ 616 BGB) bei kurzfristig notwendiger Betreuung des Kindes (Klausurlösung)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 13 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. V könnte für die beiden Fehltage einen Lohnanspruch aus § 611a Abs. 2, 616 BGB haben.
Ja!
Der Lohnanspruchs aus § 611a Abs. 2 BGB setzt zunächst einen bestehenden Arbeitsvertrag voraus.Zwischen V und A bestand auch während der Fehlzeit ein ungekündigtes Arbeitsverhältnis. § 611a Abs. 2 BGB ist die zentrale Anspruchsgrundlage im Hinblick auf Lohnansprüche des Arbeitnehmers. Nur in bestimmten Sonderfällen wie der Fortzahlung während des Urlaubs (§ 11 BUrlG) oder bei Feiertagen (§ 2 EFZG) musst Du gesonderte Anspruchsgrundlagen prüfen.
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2. Da V seine Arbeitsleistung nicht erbracht hat, könnte sein Anspruch auf Lohn nach § 326 Abs. 1 S. 1 BGB untergegangen sein.
Genau, so ist das!
Sofern die Leistungspflicht des Arbeitnehmers aufgrund von Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit erlischt (§ 275 BGB), so entfällt nach § 326 Abs. 1 S. 1 BGB auch sein Anspruch auf die Gegenleistung, sofern keine Ausnahmevorschrift greift.Ohne Arbeit kein Lohn!
3. V war es an den Streiktagen unmöglich, seine Arbeitsleistung zu erbringen (§ 275 Abs. 1 BGB).
Nein, das trifft nicht zu!
Unmöglichkeit liegt vor, wenn der Leistungspflicht ein dauerhaftes und unüberwindbares Hindernis entgegensteht. Es genügt, dass der Schuldner das Hindernis nicht überwinden kann (subjektive Unmöglichkeit). Erst recht liegt Unmöglichkeit aber vor, wenn dies für niemanden möglich ist (objektive Unmöglichkeit).Faktisch wäre es V möglich gewesen, zur Arbeit gehen. Er will dies (verständlicherweise) nicht, um seine Tochter zu betreuen. Dies begründet aber zunächst keine Unmöglichkeit nach § 275 Abs. 1 BGB.
4. Für V könnte es aber unzumutbar gewesen sein, an den Streiktagen seine Arbeitsleistung zu erbringen (§ 275 Abs. 3 BGB)
Ja!
Bei persönlich zu erbringenden Leistungen besteht ein Leistungsverweigerungsrecht, wenn bei der Abwägung des Leistungshindernisses des Schuldners mit dem Leistungsinteresse des Gläubigers, dem Schuldner die Erbringung der Leistung nicht zumutbar ist (§ 275 Abs. 3 BGB).
5. Muss V seine Leistung „persönlich erbringen"?
Genau, so ist das!
Eine persönlichen Leistungspflicht besteht, wenn diese unvertretbar ist, also nicht durch eine andere Person erfüllt werden kann. Eine persönliche Leistungspflicht kann sich aus -der Parteivereinbarung, -dem Gesetz (§§ 613, 664, 691, 713 BGB ), oder -der Natur des Schuldverhältnisses ergeben. Bei der Pflicht zur Arbeitsleistung handelt es sich nach der gesetzlichen Vermutung um eine höchstpersönliche Pflicht (§ 613 BGB).
6. War es V zumutbar, an den Streiktagen zur Arbeit zu gehen (§ 275 Abs. 3 BGB)?
Nein, das trifft nicht zu!
Unzumutbar ist die Leistung, wenn bei Abwägung der Belastung, welche die Leistung für den Schuldner mit sich bringt, und dem Interesse des Gläubigers an der Leistung, das Interesse des Schuldners überwiegt.Hier kollidiert Vs Arbeitspflicht mit seiner Pflicht die Personensorge für L auszuüben (§§ 1626 Abs. 1, 1631 Abs. 1 BGB). Gerade bei kleinen Kindern ist es wichtig, diese nicht unbeaufsichtigt allein zu Hause zu lassen, um von ihnen Schäden für Leib und Leben abzuwenden. Angesichts dieser gewichtigen Rechtsgüter und aufgrund der fehlenden alternativen Betreuungsmöglichkeiten, überwiegt Vs Interesse zuhause zu bleiben. Es war also unzumutbar für ihn, zur Arbeit zu gehen.Aus der Wertung des § 45 SGB V wird abgeleitet, dass bei Kindern bis zu einem Alter von 12 Jahren ein Betreuungsbedarf besteht.
7. Muss A die Tage nacharbeiten, die er wegen der Betreuung seiner Tochter gefehlt hat?
Nein!
§ 275 Abs. 3 BGB stellt zunächst lediglich eine vorübergehende Einrede dar und führt normalerweise nicht automatisch zum endgültigen Untergang der Leistungsplicht. Bei der Arbeitspflicht der Arbeitnehmerin handelt es sich allerdings um eine absolute Fixschuld. Die geschuldete Arbeitsleistung kann also nur innerhalb der geschuldeten Zeit erbracht und nicht nachgeholt werden. Wird die Leistung zu diesem Zeitpunkt nicht erbracht, so wird sie allein durch Zeitablauf objektiv unmöglich (§ 275 Abs. 1 BGB).An den Streiktagen selbst war es V unzumutbar zu arbeiten (§ 275 Abs. 3 BGB). Da es sich bei der Arbeitspflicht allerdings um eine absolute Fixschuld handelt, führt die Einrede der Unzumutbarkeit aufgrund des Zeitablaufs letztlich auch zur dauerhaften Unmöglichkeit der Arbeitsleistung (§ 275 Abs. 1 S. 1 BGB). Damit entfällt grundsätzlich auch der Gegenleistungsanspruch nach § 326 Abs. 1 S. 1 BGB.
8. Ls kurzfristiger Betreuungsbedarf könnte einen persönlichen Hinderungsgrund darstellen, sodass Vs Lohnanspruch nach § 616 BGB aufrechterhalten wird.
Genau, so ist das!
Nach § 616 S. 1 BGB bleibt der Lohnanspruch erhalten, wenn (1) die Norm anwendbar ist, (2) der Arbeitnehmer am Erbringen seiner Arbeitsleistung gehindert ist, (3) die Verhinderung auf einem in seiner Person liegenden Grund beruht und (4) ohne sein Verschulden erfolgt. (5) Schließlich darf sie nur für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit andauern.
9. Ist § 616 BGB grundsätzlich anwendbar?
Ja, in der Tat!
§ 616 BGB stellt eine dispositive Norm dar. Die Anwendung kann also durch Arbeits- oder Tarifvertrag ausgeschlossen werden.Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Anwendung des § 616 BGB arbeits- oder tarifvertraglich ausgeschlossen wurde.Bei Krankheit des Kindes wird § 616 BGB nicht durch den unbezahlten Freistellungsanspruch aus § 45 Abs. 3 S. 1 SGB V verdrängt. Denn dieser besteht nur, soweit kein Anspruch auf bezahlte Freistellung besteht (§ 45 Abs. 3 S. 1 SGB V a.E). Soweit die Voraussetzungen des § 616 BGB vorliegen, geht dieser also vor.
10. Der Streik der Erzieherinnen stellt ein objektives Leistungshindernis dar, sodass Vs Verhinderung nicht auf einem in seiner Person liegenden Grund beruht.
Nein!
Ein in der Person liegender Grund besteht nicht bei objektiven Leistungshindernissen, da diese nicht aus der persönlichen Sphäre des Arbeitnehmers stammen. Dies ist der Fall, wenn der Hinderungsgrund nicht nur den konkreten Arbeitnehmer trifft, sondern in gleicher Weise eine Vielzahl anderer Personen. Der Streik der Erzieherinnen trifft eine unbestimmbare Anzahl an Arbeitnehmern und ist damit grundsätzlich als objektives Hindernis zu werten. Der Streik stellt allerdings bloß den Auslöser für Ls Betreuungsbedarf dar. Der entscheidende Grund für Vs Arbeitsverhinderung ist letztlich aber seine elterliche Pflicht zur Personensorge (§§ 1626 Abs. 1, 1631 Abs. 1 BGB). Diese trifft allein A und zwar subjektiv für sein eigenes Kind. Sie stellt damit einen in seiner persönlichen Sphäre liegenden Umstand dar, der ihm die Arbeit unzumutbar macht.
11. V hat seine Arbeitsverhinderung aber zu verschulden, weil er keine anderweitige Betreuungsmöglichkeit organisiert hat.
Nein, das ist nicht der Fall!
Ein Lohnfortzahlungsanspruch nach § 616 S.1 BGB scheidet aus, wenn die Arbeitsverhinderung mit Verschulden des Arbeitnehmers eingetreten ist. Es handelt sich nicht um ein Verschulden gegenüber dem Arbeitgeber, sondern ein Verschulden gegen sich selbst (Rechtsgedanke der Mitverantwortung, § 254 BGB). Entsprechend genügt nicht jedes fahrlässige Handeln (vgl. § 276 BGB). Ein Verschulden im Sinne des § 616 BGB liegt vielmehr nur dann vor, wenn grob gegen das von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartenden Verhalten verstoßen wird.V hatte keinen Einfluss auf den Streik der Erzieherinnen. Er konnte so kurzfristig keine Betreuungsmöglichkeit organisieren. Somit kann V kein Verschulden gegen sich selbst vorgeworfen werden.
12. V fehlt zwei volle Tage. Handelt es sich dabei noch um eine „verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit“?
Ja, in der Tat!
Um zu ermitteln, ob es sich um eine verhältnismäßig erhebliche Zeit handelt, sind die Dauer des Arbeitsverhältnisses mit der Dauer der Verhinderungszeit zueinander ins Verhältnis zu setzen. Die Rechtsprechung legt dieses Tatbestandsmerkmal restriktiv aus. Für die Betreuung von Familienangehörigen und Kindern liegt die Obergrenze bei fünf Arbeitstagen pro Jahr (unabhängig von der Dauer des Arbeitsverhältnisses).V fehlt lediglich zwei Tage. Es ist nicht ersichtlich, dass er zuvor im Jahr bereits wegen der Betreuung seiner Tochter zuhause bleiben musste.
13. Hat V für die beiden Tage, in denen er gefehlt hat, Anspruch auf Lohn aus § 611a Abs. 2, 616 BGB?
Ja!
Ein wirksames Arbeitsverhältnis zwischen V und A bestand. Zwar ist As Pflicht zur Arbeitsleistung an den beiden Tagen nach § 275 Abs. 3 iVm Abs. 1 BGB endgültig erloschen. Dies führt aber nicht gleichzeitig zum Untergang von Vs Lohnanspruch, da die Voraussetzungen des persönlichen Verhinderungsgrundes nach § 616 BGB vorliegen und Vs Lohnanspruch somit erhalten bleibt.In einer Klausur musst Du Deine Prüfung im Gesamtergebnis nicht noch einmal im Einzelnen zusammenfassen. Hier genügt die bloße Feststellung des Lohnanspruchs unter Angabe der entsprechenden Norm.„V hat gegen A auch für seine beiden Fehltage einen Anspruch auf Lohn nach §§ 611a Abs. 2, 616 BGB.“