§ 3 EFZG – Verschuldete Krankheit

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Arbeitnehmerin A ist seit 2019 bei C beschäftigt. A leidet seit langem an Alkoholabhängigkeit. Sie hatte sich schon zweimal einer Entzugstherapie unterzogen. Im November 2021 erliegt A erneut ihrer Sucht und greift zur Flasche. A wird ins Krankenhaus eingeliefert und kann aufgrund der stationären Behandlung vier Wochen lang nicht arbeiten. Die Arbeitsunfähigkeistbescheinigung übermittelt sie C fünf Tage nach ihrer Einlieferung, da sie bis dahin im Koma lag. Muss C sie während ihrer Abwesenheit bezahlen?

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Einordnung des Falls

§ 3 EFZG – Verschuldete Krankheit

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 11 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. A könnte für den Zeitraum ein Anspruch auf Lohnzahlung aus § 611a Abs. 2 BGB iVm Arbeitsvertrag zustehen?

Ja!

Der Lohnanspruch aus § 611a Abs. 2 BGB setzt einen bestehenden Arbeitsvertrag voraus.A wird im Sachverhalt explizit als Arbeitnehmerin des C bezeichnet. Ein Arbeitsverhältnis besteht. Sofern die Arbeitnehmereigenschaft nicht explizit vorgegeben ist, musst Du Dich an dieser Stelle zunächst mit dem Arbeitnehmerbegriff auseinandersetzen. Arbeitnehmerin ist, wer (1) auf der Grundlage eines privatrechtlichen Vertrages verpflichtet ist, (2)im Dienste (3) eines anderen weisungsgebundende, fremdbestimmte Arbeit in (4) persönlicher Abhängigkeit (5) gegen Entgelt zu leisten (vgl. § 611a Abs. 1 S. 1 BGB).
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2. Behalten Arbeitnehmer ihren Vergütungsanspruch, wenn sie ihre Arbeitsleistung nicht erbringen (§ 326 Abs. 1 S. 1 BGB)?

Nein, das ist nicht der Fall!

Sofern die Leistungspflicht des Arbeitnehmers aufgrund von Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit erlischt (§ 275 BGB), so entfällt nach § 326 Abs. 1 S. 1 BGB auch sein Anspruch auf die Gegenleistung, sofern keine Ausnahmevorschrift greift. Bei der Arbeitspflicht des Arbeitnehmers handelt es sich um eine absolute Fixschuld, die nur innerhalb der geschuldeten Zeit erbracht und nicht nachgeholt werden kann. Wird die Leistung nicht erbracht, wird sie objektiv unmöglich (§ 275 Abs. 1 BGB).A lag im Krankenhaus und hat nicht gearbeitet. Da sie ihre Arbeitsleistung nicht nachholen kann, ist entsprechend ihr korrespondierender Lohnanspruch nach § 326 Abs. 1 S. 1 BGB erloschen. Ohne Arbeit kein Lohn!Nach der Rechtsprechung stellt die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall (§ 3 Abs. 1 S. 1 EFZG) wie die Vorschriften § 615 BGB bzw. § 616 BGB eine Sonderregel zu § 326 Abs. 1 BGB dar, die den Lohnanspruch aufrecht erhält. Folgt man dem, wäre hier zu prüfen, ob § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG den Anspruch aus § 611 Abs. 2 BGB aufrechterhält.

3. A könnte aber ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung aus § 3 Abs. 1 S. 1, 4 Abs. 1 EFZG zustehen.

Ja, in der Tat!

Nach der h.L. stellt § 3 Abs. 1 EFZG eine eigene Anspruchsgrundlage dar.Es handelt sich bloß um eine dogmatische Aufbaufrage. In der Klausur musst Du nicht erläutern, warum Du der h.L. (eigene Anspruchsgrundlage) oder der Rechtsprechung (anspruchserhaltende Norm) folgst.Ist die Arbeitnehmerin infolge einer Krankheit an ihrer Arbeit gehindert, so kann ihr gegenüber dem Arbeitgeber ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung zustehen (§ 3 Abs. 1 S. 1 EFZG). Dieser setzt voraus: (1) die Arbeitnehmerin muss zum berechtigten Personenkreis gehören (§ 1 Abs. 2 EFZG), (2) die vierwöchige Wartezeit erfüllt haben (§ 3 Abs. 3 EFZG), (3) die Arbeitsunfähigkeit muss auf der Krankheit beruhen, (4) Ursache der Arbeitsverhinderung sein und darf (5) nicht von der Arbeitnehmerin verschuldet sein.

4. A gehört zum berechtigten Personenkreis und erfüllt die notwendige Wartefrist (§§ 1 Abs. 2, 3 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 EFZG) .

Ja!

Zum berechtigten Personenkreis der Entgeltfortzahlung gehören nur Arbeitnehmer (§ 1 Abs. 2 EFZG, § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG). Entgeltfortzahlung wird zudem nur gewährt, soweit die Arbeitnehmer mindestens vier Wochen (=Wartezeit) vor der Erkrankung beschäftigt waren (§ 3 Abs. 3 EFZG).Es handelt sich bei A um eine Arbeitnehmerin. Sie ist bereits seit vier Jahren bei C beschäftigt und erfüllt damit auch die Wartezeit. Im Gesetz findet sich noch die Differenzierung zwischen Arbeiter und Angestellte (§ 1 Abs. 2 EFZG). Diese hat primär historische Bedeutung. Da die beiden Gruppen heutzutage weitgehend gleichgestellt sind und jeder Arbeitnehmer entweder Arbeiter oder Angestellter ist, kann eine Abgrenzung unterbleiben.

5. War A in dem Zeitraum ihrer Abwesenheit krank?

Genau, so ist das!

Eine Krankheit ist ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der einer Heilbehandlung bedarf. Regelwidrig ist ein körperlicher oder geistiger Zustand dann, wenn er nach allgemeiner Erfahrung unter Berücksichtigung eines natürlichen Verlaufs des Lebensgangs nicht bei jedem anderen Menschen gleichen Alters und Geschlechts zu erwarten ist.Infolge ihres Alkoholkonsums fiel A vorübergehend ins Koma und wurde vier Wochen lang stationär behandelt. Insoweit lag ein regelwidriger, heilbedürftiger Körperzustand vor.

6. Konnte A infolge der Krankheit nicht arbeiten?

Ja, in der Tat!

Krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit ist gegeben, wenn der Arbeitnehmer infolge der Krankheit seine vertraglich geschuldete Tätigkeit objektiv nicht ausüben kann oder nicht ausüben sollte, weil die Heilung nach ärztlicher Prognose verhindert oder verzögert wird.A lag vier Wochen stationär im Krankenhaus und konnte deshalb objektiv ihre Arbeitsleistung nicht erbringen.

7. A hat auch dann einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung, wenn sie die Krankheit verschuldet hat.

Nein!

Der Anspruch auf Entgeltfortzahlung ist ausgeschlossen, wenn der Arbeitnehmer die Krankheit „verschuldet“ hat (§ 3 Abs. 1 S. 1 EFZG). Nach dem Telos der Norm handelt es sich bei dem Verschulden iSv § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG um ein „Verschulden gegen sich selbst.“ Aus diesem Grund passt der strenge Verschuldensbegriff des § 276 Abs. 1 S. 1 BGB nicht, der die Verhaltensanforderungen des Schuldners gegenüber Dritten bestimmt. Die Arbeitnehmerin hat ihre Krankheit insoweit nur dann verschuldet, wenn sie in erheblichem Maße von dem Verhalten abweicht, das von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse erwartet werden muss.

8. A hat trotz ihrer bekannten Alkoholkrankheit erneut Alkohol getrunken. Hat sie damit ihre Krankheit nach § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG verschuldet?

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Arbeitnehmerin hat ihre Krankheit verschuldet, wenn sie in erheblichem Maße von dem Verhalten abweicht, das von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse erwartet werden muss. BAG: Alkoholismus als Krankheit sei nicht gänzlich heilbar. Vielmehr gehöre die Gefahr des Rückfalls zum Krankheitsbild. Allein der Umstand, dass der Betroffene trotz früherer Therapie und der Kenntnis der Gefahr erneut Alkohol getrunken habe, begründe deshalb für sich genommen noch kein Verschulden (RdNr. 28ff).A konnte sich ihrer Sucht nicht länger entziehen („erliegt“). Ihr fehlt es insoweit an der für ein Verschulden notwendigen Steuerungsfähigkeit. In der Praxis wird die Frage der Steuerungsfähigkeit in der Regel basierend auf einer fachmedizinischen Begutachtung geklärt.

9. Kann A für die vollen vier Wochen Entgeltfortzahlung verlangen (§ 3 Abs. 1 S. 1 EFZG)?

Ja, in der Tat!

Soweit die Arbeitsunfähigkeit auf derselben Krankheit beruht, ist der Anspruch auf volle Entgeltfortzahlung gegenüber dem Arbeitgeber auf sechs Wochen beschränkt. (§ 3 Abs. 1 S. 1 EFZG).A fiel lediglich für vier Wochen aus und hat insoweit für ihren kompletten Krankheitszeitraum vollen Anspruch auf Entgeltfortzahlung.Bei längerer Erkrankung zahlt die Krankenkasse im Anschluss daran bis zu 78 Wochen Krankengeld, das aber nur noch 70% der regulären Vergütung beträgt.

10. Kann C die Zahlung für die ersten fünf Tage verweigern, weil sich A erst dann krank gemeldet hat (§ 7 Abs. 1 Nr. 1 EFZG iVm § 5 Abs. 1 S. 1 EFZG)?

Nein!

Der Arbeitnehmer ist verpflichtet seine Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer unverzüglich mitzuteilen (§ 5 Abs. 1 S. 1 EFZG). Dauert sie länger als drei Tage, so ist er zudem verpflichtet, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung einzureichen (§ 5 Abs. 1 S. 2 EFZG). Verletzt der Arbeitnehmer seine Mitteilungspflicht, führt dies zudem nicht zum Erlöschen des Anspruchs. Bis zur entsprechenden Mitteilung steht dem Arbeitgeber nur ein vorübergehendes Leistungsverweigerungsrecht zu.A hat sich unmittelbar nach ihrem Aufwachen krank gemeldet, also bereits ohne schuldhaftes Zögern (=unverzüglich). Seit 1.1.2023 müssen gesetzlich Versichterte bei länger andauernder Krankheit ihre Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (§ 5 Abs. 1 S. 2 EFZG) nicht mehr selbst an den Arbeitgeber übermitteln. Dies übernehmen nun die Krankenkassen (§ 5 Abs. 1a EFZG).

11. Hat A einen durchsetzbaren Anspruch auf Entgeltfortzahlung gegen C für die Zeit ihres vierwöchigen Krankenhausaufenthaltes (§ 3 Abs. 1 S. 1 EFZG)?

Genau, so ist das!

Ist die Arbeitnehmerin infolge einer Krankheit an ihrer Arbeit gehindert, so steht ihr unter den Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG bis zu sechs Wochen ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung zu.A musste sich infolge ihrer Alkoholsucht und des Rückfalls einer vierwöchigen stationären Behandlung unterziehen. Da der erneute Konsum auf ihre Sucht zurückzuführen ist, trifft A kein Verschulden. Der Anspruch umfasst die vollen vier Wochen ihrer Abwesenheit. A hat schließlich ihre Mitteilungspflichten erfüllt, sodass C auch kein Leistungsverweigerungsrecht zusteht.Achtung: Sofern Du - wie die Rechtsprechung - § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG nicht als eigene Anspruchsgrundlage, sondern lediglich anspruchserhaltende Norm geprüft hast, muss dies sich auch im Ergebnis widerspiegeln. Der Anspruch folgt dann aus § 611a Abs. 2 BGB iVm § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG).
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