Umsetzung bei nachträglicher Nichtigkeit des Umsetzungsaktes


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Die Bundesrepublik setzt die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung vor Ablauf der Umsetzungsfrist im Mai 2012 in nationales Recht um. Das BVerfG erklärt die nationalen Vorschriften zwei Jahre nach dem Ablauf der Umsetzungsfrist für nichtig.

Einordnung des Falls

Umsetzung bei nachträglicher Nichtigkeit des Umsetzungsaktes

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Bundesrepublik war verpflichtet, die Richtlinie bis zum Ablauf der Frist in nationales Recht umzusetzen.

Genau, so ist das!

Der Richtlinie liegt ein zweistufiges Regelungskonzept zugrunde. Auf der ersten Stufe wird die Richtlinie erlassen und richtet sich gem. Art. 288 Abs. 3 AEUV an die Mitgliedstaaten. Auf der zweiten Stufe müssen die Mitgliedstaaten die Richtlinie in ihr nationales Recht umsetzen. Die Verpflichtung zur Umsetzung der Richtlinie ergibt primärrechtlich aus Art. 288 Abs. 3 AEUV i.V.m. Art. 4 Abs. 3 EUV. Die Bundesrepublik war nach Art. 288 Abs. 3 AEUV zur Umsetzung verpflichtet und war dieser nachgekommen.

2. Die Bundesrepublik hat die Pflicht zur Umsetzung nach Art. 288 Abs. 3 AEUV der Richtlinie ungeachtet der Nichtigerklärung des nationalen Umsetzungsaktes erfüllt.

Nein, das trifft nicht zu!

Die Umsetzungspflicht beinhaltet nicht nur die ursprüngliche Umsetzung der Richtlinie in nationale Recht. Das an das Unionsrecht angepasste nationale Recht darf auch nicht nachträglich im Widerspruch zur Richtlinie abgeändert oder aufgehoben werden. Mit der Nichtigkeitserklärung durch das BVerfG existieren die zur Umsetzung der Richtlinie erforderlichen Vorschriften nicht mehr. Deutschland hat daher seine Umsetzungspflicht aus Art. 288 Abs. 3 AEUV verletzt.

3. Die Nichtumsetzung der Richtlinie ist gerechtfertigt, weil Deutschland nicht dafür verantwortlich war, dass die Vorschriften durch das BVerfG für nichtig erklärt wurden.

Nein!

Mitgliedstaaten können die Nichtumsetzung einer Richtlinie nicht mit einer Berufung auf Regelungen oder Umstände ihrer eigenen Rechtsordnung rechtfertigen. Das Europarecht ist für die Besonderheiten der nationalen Rechtsordnungen grundsätzlich blind. Eine Rechtfertigung kann sich nur dann ergeben, wenn die Umsetzung rechtlich unmöglich ist, die Mitgliedstaaten den in der Richtlinie vorgesehenen Tatbestand also unter keinen Umständen verwirklichen können. Die Nichtigkeitserklärung des BVerfG beruht auf der Anwendung des deutschen Verfassungsrechts und damit auf Umständen der eigenen Rechtsordnung. Eine Umsetzung der Richtlinie ist auch nicht rechtlich unmöglich. Die Nichtigkeitserklärung kann die fehlende Umsetzung daher nicht rechtfertigen.

4. Deutschland ist weiterhin verpflichtet, die Richtlinie umzusetzen, und muss hierfür neue nationale Vorschriften erlassen.

Genau, so ist das!

Die unionsrechtliche Umsetzungspflicht aus Art. 288 Abs. 3 AEUV besteht wegen der Aufhebung der nationalen Umsetzungsakte durch das BVerfG fort. Die ursprüngliche Umsetzung ist wegen der Aufhebung der nationalen Umsetzungsakte rechtlich nicht länger von Relevanz. In der Praxis wird die EU-Kommission den säumigen Mitgliedstaat zur Einhaltung der Umsetzungspflicht und zum Erlass neuer Regelungen zur Umsetzung der Richtlinie auffordern, sofern der Mitgliedstaat nicht von selbst der Umsetzungspflicht nachkommt.

5. Die Kommission kann gegen die Bundesrepublik ein Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 AEUV einleiten, wenn Deutschland der Aufforderung zum Erlass neuer Regelungen nicht nachkommt.

Ja, in der Tat!

Die EU-Kommission kann zur Durchsetzung der Umsetzungspflicht aus Art. 288 Abs. 3 AEUV im Wege eines Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV gegen den Mitgliedstaat vorgehen, der die Umsetzungspflicht missachtet. Wenn die Klage Erfolg hat, dann verpflichtet der EuGH den Mitgliedstaat dazu, die Umsetzung umgehend nachzuholen (Art. 260 Abs. 1 AEUV).

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DDoubleYou

DDoubleYou

29.12.2023, 15:17:37

Ist dies ein wahrer Fall und wenn ja, wie kann dieser Konflikt aufgelöst werden? Muss das BVerfG (oder die Gerichte zuvor, bei einer Individualverfassungsbeschwerde) die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit an den EuGH per Vorabentscheidung (Art. 267 AEUV) richten? Und ist das BVerfG dann an diese Entscheidung gebunden? Im vorliegenden Fall ist das Kind ja schon in den Brunnen gefallen. Der Bund muss sich also entscheiden, ob er die Entscheidung des BVerfG missachtet oder ein Vertragsverletzungsverfahren riskiert? Danke! :)

Irina95

Irina95

3.1.2024, 15:05:02

Das würde mich auch sehr interessieren 🤔

kaan00

kaan00

8.1.2024, 15:05:29

Mich auch! PS: Gibt es die Möglichkeit über neue Kommentare informiert zu werden, ohne dass man selbst kommentiert hat? Wäre super hilfreich!

Dogu

Dogu

27.4.2024, 18:46:05

Die Frage der nationalen Verfassungsmäßigkeit ist kein tauglicher Gegenstand eines Vorabentscheidungsverfahrens. Das geht nur in den Art. 267 AEUV genannten Fragen.

Whale

Whale

5.6.2024, 12:05:21

Im Fall wird ja erwähnt, dass sich der Mitgliedstaat für die Nichtumsetzung einer Richtlinie nur unter der Voraussetzung rechtfertigen kann, dass ihre Umsetzung rechtlich unmöglich ist. Weiß jemand, von einem Beispiel hierfür? Kommt hier die Identitätskontrolle in Betracht, wenn also die Umsetzung einer Richtlinie gegen Art. 79 III verstoßen würde? Und bliebe man bei einer Nichtumsetzung einfach dabei, dass in einem Vertragsverletzungsverfahren einmalig Sanktion ausgesprochen werden würde? Oder berechtigt eine Nichtumsetzung auch zu einer fortwährenden Sanktion des Mitgliedsstaats?

Whale

Whale

5.6.2024, 12:07:12

Ergänzung: Die letzte Frage bezieht sich darauf, dass der Mitgliedstaat auch die von der Kommission ausgesprochene Verpflichtung aus Art. 260 AEUV missachtet


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