Zulässigkeit der Liquorentnahme nach § 81a StPO

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

X ist wegen eines Bagatelldelikts angeklagt. Amtsrichter A hat Bedenken wegen der Zurechnungsfähigkeit des X und ordnet eine Liquorentnahme (ärztliche Untersuchung der Gehirn- und Rückenmarksflüssigkeit) an. X meint, dass dadurch seine körperliche Unversehrtheit verletzt wird.

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Einordnung des Falls

Zulässigkeit der Liquorentnahme nach § 81a StPO

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der sachliche Schutzbereich des Rechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG) ist eröffnet.

Genau, so ist das!

Der sachliche Schutzbereich des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG) schützt die körperliche Integrität im biologisch-physiologischen Sinn. Die Liquorentnahme gefährdet die körperliche Integrität des X. Der sachliche Schutzbereich des Rechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG) ist eröffnet. Der persönliche Schutzbereich des Rechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG) ist bei natürlichen Personen stets eröffnet, sodass du diesen Punkt kurzhalten kannst.
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2. Die Liquorentnahme stellt einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit dar.

Ja, in der Tat!

Ein Eingriff ist jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht (moderner Eingriffsbegriff). Die Entnahme der Flüssigkeiten geht zwingend mit einer Verletzung des Körpers einher. Zudem ist ein solcher Eingriff nicht vollkommen risikolos. Ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit liegt folglich vor.

3. Der Eingriff ist jedoch gerechtfertigt, weil der Richter die Ergebnisse für den Strafprozess benötigt.

Nein!

In die körperliche Unversehrtheit kann aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden (Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG (einfacher Gesetzesvorbehalt)). § 81a StPO stellt ein solches Gesetz dar. Danach sind körperliche Untersuchung zur Feststellung von Tatsachen grundsätzlich zulässig. Die Maßnahme muss jedoch verhältnismäßig sein. Die Liquorentnahme stellt einen erheblichen körperlichen Eingriff dar. X ist jedoch nur wegen Bagatelldelikten angeklagt, weshalb die Maßnahme unverhältnismäßig ist. Demnach kann der Eingriff nicht gerechtfertigt werden.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Skra8

Skra8

18.7.2024, 17:38:02

Jahrhunderte medizinischen Fortschritts, und wir stechen Menschen in die Wirbelsäule, um ihren Geisteszustand zu überprüfen?

TI

Timurso

19.7.2024, 10:13:48

Die BVerfG-Entscheidung ist von 1963. Ob das heute noch praktiziert wird, weiß ich nicht.

Skra8

Skra8

19.7.2024, 10:50:34

Schon klar, dass die Entscheidung nicht gestern getroffen wurde, allerdings ändert das doch nichts an der Absurdität, dass wir keine besseren Alternativen hatten.

Nora Mommsen

Nora Mommsen

23.7.2024, 14:23:56

Hallo Skra8, danke für deine Frage! In der Tat mutet das ein wenig mittelalterlich an. Ohne vom Fach zu sein scheint es aber bis heute durchaus eine geeignete Methode zu sein um bestimmte Diagnosen stellen zu können. Bei einigen kommt es dann nicht unbedingt auf den Nachweis durch Biomarker im Liquor an, sondern da die "Zieldiagnose" ein Ausschlussdiagnose ist und zunächst andere Erkrankungen ausgeschlossen werden müssen, die sich durch Entzündungswerte im Liquor nachweisen lassen. Auf diese Angaben aber keine Gewähr ;) Einen Neurologen haben wir leider noch nicht im Team... Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

ROBE

Robert

4.8.2024, 11:12:15

Die Entnahme von Liquor zu Diagnosezwecken ist ein modernes und einigermaßen ungefährliches Verfahren und nicht „mittelalterlich“. Vielleicht hilft es manchmal, sich erstmal zu informieren, bevor man sich fachfremd aufregt.

Skra8

Skra8

4.8.2024, 12:57:47

Hi Robert, ohne Dir zu nahe zu treten, denke ich, dass Du Dich in der Nachricht von heute Vormittag im Ton vergriffen hast und den Inhalt von Noras Nachricht missverstanden hast. Zunächst hat sich niemand fachfremd aufgeregt. Weiterhin hat auch niemand behauptet, dass es eine mittelalterliche Methode ist, sondern es wurde lediglich hervorgehoben, dass die Methodik mittelalterlich wirkt. Im Übrigen möchte ich Dir deutlich widersprechen, wenn Du sagst, dass es sich um ein "modernes Verfahren" handelt. Zwar ist es richtig, dass der Eingriff als Low-Risk-Eingriff gilt und im Rahmen der modernen Medizin unverzichtbar ist, denn weder das MRT- noch das CT-Verfahren können alle vergleichbaren Werte liefern. Allerdings wurde die erste Lumbalpunktion bereits 1891 vorgenommen. Wir können natürlich darüber diskutieren, ob die Weiterentwicklung des Verfahrens es zu einem modernen Verfahren macht. Aber ich meine, dass man bei einem Verfahren, das vor 133 Jahren erfunden wurde, guten Gewissens sagen kann, dass es nicht modern ist, sondern heutzutage lediglich modern angewandt wird, denn das grundlegende Verfahren wurde im Laufe der Zeit nicht wirklich verändert, sondern nur die Technik und Ausrüstung. Gerade in diesem Licht erscheint die Frage eines Laien, ob wir es in 133 Jahren nicht geschafft haben, ein wirklich moderneres Verfahren zu entwickeln, um vergleichbare Diagnostik zu gewährleisten, mehr als verständlich.


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