Tenorierung einer Klage gem. § 255 ZPO

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration zum Fall zur Tenorierung Klage gem. § 255 ZPO (BGH 9.11.2017 , IX ZR 305/16): Der Eigentümer eines Choarchivs begehrt Herausgabe dessen und Schadensersatz vor Gericht.

K ist Eigentümer eines Chorarchivs und begehrt dessen Herausgabe von B nach § 985 BGB im Klagewege. In einem Rechtsstreit möchte er gleichzeitig Schadensersatz geltend machen, falls B das Archiv nicht herausgibt. B bestreitet das Eigentum des K.

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Einordnung des Falls

Tenorierung einer Klage gem. § 255 ZPO

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Sind auf den Anspruch des K aus § 985 BGB §§ 280 Abs. 1, 3, 281 BGB anwendbar?

Genau, so ist das!

Zwar sind die Vorschriften zum Eigentümer-Besitzer-Verhältnisses (EBV) in §§ 986ff. BGB ein abschließendes System. Dies gilt aber nur, soweit die Normen eine Rechtsfolge erfassen. §§ 989, 990 BGB erfassen nur den Schadensersatz wegen Zerstörung, Verschlechterung oder sonstiger Unmöglichkeit der Sachherausgabe. Das EBV enthält aber keinen Anspruch bei Vorenthaltung der Sache, deren Herausgabe weiterhin möglich ist. In diesem Fall sind die allgemeinen schuldrechtlichen Vorschriften der §§ 280 Abs. 1, 3, 281 BGB anwendbar. Um die Wertungen des EBV nicht zu unterlaufen, setzt die Anwendung aber voraus, dass der Besitzer verklagt oder unredlich ist.
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2. Kann K im Rechtsstreit mit B gleichzeitig die Ansprüche auf Herausgabe des Chorarchivs und auf Schadensersatz wegen Nichtherausgabe geltend machen?

Ja, in der Tat!

Nach dem zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff besteht ein Anspruch aus (1) tatsächlicher Grundlage und (2) geltend gemachter Rechtsfolge. K begehrt zwei verschiedene Rechtsfolgen, nämlich Herausgabe und Schadensersatz. Es handelt sich um zwei unterschiedliche prozessuale Ansprüche. Wenn K diese gleichzeitig verfolgt, handelt es sich um eine zulässige objektive Klagehäufung (§ 260 ZPO).

3. Kann K durchsetzen, dass das Gericht dem B im Urteil eine Frist zur Herausgabe im Sinne des § 281 BGB setzt?

Ja!

Nach § 255 Abs. 1 ZPO ("Fristbestimmung im Urteil") kann der Kläger dem Beklagten im Urteil eine Frist zur Herausgabe des Chorarchivs setzen lassen. Im Falle des erfolglosen Fristablaufs kann er dann direkt Schadensersatz verlangen. Dies ermöglicht dem Kläger ein vereinfachtes Vorgehen, weil er in nur einem Rechtsstreit sowohl den Herausgabeanspruch titulieren als auch die Frist bei Nichterfüllung setzen lassen kann und ein weiterer Streit um die Angemessenheit der Frist vermieden wird.

4. Kann K, obwohl noch nicht alle Anspruchsvoraussetzungen der §§ 985, 281 Abs. 1 BGB vorliegen, den Anspruch bereits jetzt klageweise geltend machen?

Genau, so ist das!

Künftige Leistungen können unter den Voraussetzungen des § 259 ZPO geltend gemacht werden. Künftige Leistung meint, dass der geltend gemachte Anspruch schon entstanden ist, aber noch unter einer Bedingung steht, von einer Gegenleistung abhängig ist oder von einer Zug-um-Zug Leistung abhängt. Die Geltendmachung setzt voraus, dass "den Umständen nach die Besorgnis gerechtfertigt ist, dass der Schuldner sich der rechtzeitigen Leistung entziehen werde" (§ 259 ZPO). Dies ist dann der Fall, wenn der Schuldner den Anspruch im Prozess oder vorher ernstlich bestreitet. Hier liegt beides vor: Der Schadensersatzanspruch des K wegen Nichtherausgabe des Chorarchivs ist bereits entstanden (und steht im Verhältnis zum Herausgabeanspruch in elektiver Konkurrenz). Der Anspruch steht jedoch noch unter der Bedingung, dass K den Schadensersatz verlangt (§ 281 Abs. 4 BGB). Die Besorgnis rechtzeitiger Leistung folgt vorliegend daraus, dass B das Eigentum des K bestreitet.

5. Erlischt das Wahlrecht des Klägers zwischen Herausgabe und Schadensersatz immer durch die Klageerhebung?

Nein, das trifft nicht zu!

Die Entscheidung, ob der Kläger den Herausgabeanspruch oder den Anspruch auf Schadensersatz vollstrecken möchte, kann in das Zwangsvollstreckungsverfahren übertragen werden. Die §§ 255, 259 verfolgen das Ziel, die Geltendmachung der Rechte durch den Gläubiger (K) zu vereinfachen. Damit wäre es unvereinbar, wenn er sich bereits im Erkenntnisverfahren auf einen Primär- oder Sekundäranspruch festlegen müsste (RdNr. 12).

6. Muss K, um sich das Wahlrecht zu erhalten, dies ausdrücklich beantragen?

Ja!

Das Klagebegehren muss dann aber die Klarstellung enthalten, dass der Kläger sich die endgültige Wahl zwischen Herausgabe- und Schadensersatz vorbehalten möchte (RdNr. 17). Wird B verurteilt, Schadensersatz zu leisten für den Fall, dass er das Chorarchiv nicht herausgibt, ist das Wahlrecht erloschen, wenn die Frist abgelaufen ist. Die Verurteilung steht dann unter der Bedingung, dass B das Archiv nicht herausgibt (§ 158 Abs. 1 BGB). Es ist dann nicht erkennbar, dass die Pflicht zur Leistung von Schadensersatz von einem weiteren Verlangen des K abhängen soll (RdNr. 19). Merke: Um das klägerische Wahlrecht zu erhalten, muss sich dieses aus dem Klagebegehren ergeben, z.B.: „... B für den Fall, dass die Herausgabe nicht fristgerecht erfolgt und K Schadensersatz verlangt (§ 281 Abs. 4 BGB), an K einen Betrag in Höhe von … zu zahlen.“
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

CAR

Carlita

25.3.2021, 22:54:02

Toller Überblick, aber die vorletzte Frage ist insbesondere für Leute, die den Fall kennen, missverständlich. Denn im konkreten Fall ist das Wahlrecht des K durch Klageerhebung erloschen - weil er sich die Wahl in seinem

Klageantrag

nicht offen gelassen hat. Vielleicht die Frage abstrakter formulieren :)

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

10.12.2021, 10:55:27

Vielen Dank für Carlita, wir haben das jetzt ein wenig abstrakter formuliert, um Missverständnissen vorzubeugen :-) Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team :

DerChristoph

DerChristoph

19.6.2024, 09:34:23

Woraus ergibt sich die weitere Rechtsfolge, wenn das Wahlrecht zugunsten des Schadensersatzes ausgeübt wurde? Bislang wäre K ja weiterhin

Eigentümer

, der aber durch den Schadensersatz "befriedigt" wurde. Kann er weiterhin - ggf. durch einen neuen Prozess - Besitzverschaffung fordern und hätte dann den erlangten Schadensersatz wieder herauszuzahlen? Oder gibt er durch Ausübung des Wahlrechtes auch sein Eigentum auf?

Nils

Nils

3.10.2024, 03:37:13

Das müsste von der materiellen Rechtskraft des Urteils erfasst sein, wonach der Inhalt eines formell rechtskräftigen Urteils nicht erneut zum Gegenstand eines Verfahrens werden kann, also „unantastbar“ ist. Schau mal hier: https://www.uni-trier.de/fileadmin/fb5/prof/BRZIPR/veranstaltungen/examen/examen_mat145erg.pdf

Rechtsanwalt B. Trüger

Rechtsanwalt B. Trüger

16.10.2024, 08:57:29

Ich stehe leider komplett auf dem Schlauch. Wieso kann hier wahlweise auch SE nach § 281 gefordert werden. Worin liegt das vertragliche Schuldverhältnis zwischen den Parteien? Was übersehe ich?


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