Verfassungswidrigkeit des Verbots des Mitführens eines Blindenhundes


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Die Sehbehinderte S ist in physiotherapeutischer Behandlung. Der einzig zumutbare Weg dorthin führt durch den Warteraum der Gemeinschaftspraxis G. G verbietet S aber den Durchgang mit ihrem Führhund. S beantragt erfolglos die Duldung ihres Durchgangs unter Hinweis auf § 19 AGG.

Einordnung des Falls

Verfassungswidrigkeit des Verbots des Mitführens eines Blindenhundes

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 11 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Das BVerfG prüft innerstaatliches Recht und dessen Anwendung stets am Grundgesetz sowie an der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GrCh).

Nein, das trifft nicht zu!

Innerstaatliches Recht und dessen Anwendung prüft das BVerfG in erster Linie am Maßstab der Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte des GG (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG). Dies gilt gleichermaßen für Fälle, die im Anwendungsbereich des Unionsrechts liegen, durch dieses aber nicht vollständig determiniert sind. Wenn das Unionsrecht die Rechtslage vollständig determiniert, ist die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GrCh) der einschlägige Prüfungsmaßstab für das BVerfG (RdNr. 32).

2. Der vorliegende Fall ist vom BVerfG nach den Grundrechten des Grundgesetzes und nicht nach der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu beurteilen.

Ja!

Richtig, denn hier handelt es sich um einen nicht vollständig unionsrechtlich determinierten Bereich. Das AGG dient der Umsetzung verschiedener Richtlinien der Europäischen Union, die in ihrem Anwendungsbereich aber auf ein Benachteiligungsverbot aus Gründen der Rasse oder ethnischen Herkunft beschränkt sind (vgl. RL 2000/43/EG – sog. Anti-Rassismusrichtlinie). BVerfG: Mit der Einbeziehung des Merkmals der Behinderung in § 19 AGG sei der deutsche Gesetzgeber im Rahmen seines Gestaltungsspielraumes über die unionsrechtlichen Vorgaben hinausgegangen (RdNr. 33). Somit sind die Grundrechte des GG hier der einschlägige Prüfungsmaßstab des BVerfG.

3. Nach dem Grundgesetz darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG).

Genau, so ist das!

Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG untersagt auf die Behinderung bezogene Ungleichbehandlungen, die für den behinderten Menschen zu einem Nachteil im Sinne eines Ausschlusses von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten führen. Erfasst werden dabei auch mittelbare Benachteiligungen, bei denen sich die Ungleichbehandlung nicht als Ziel, sondern als Nebenfolge einer Maßnahme darstellt. BVerfG: Das Verbot der Benachteiligung von Menschen mit Behinderung (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG) sei Grundrecht und zugleich objektive Wertentscheidung. Daraus folge, dass der Staat eine besondere Verantwortung für behinderte Menschen trägt (RdNr. 35, 37).

4. In zivilrechtlichen Streitigkeiten zwischen Privaten finden die Grundrechte des Grundgesetzes unmittelbar Anwendung.

Nein, das trifft nicht zu!

Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Zwischen Privaten entfalten die Grundrechte ihre Wirkung im Wege der mittelbaren Drittwirkung. BVerfG: Sie haben als objektive Grundsatznormen Ausstrahlungswirkung auf private Rechtsbeziehungen, die vor allem bei der Interpretation von Generalklauseln und anderen auslegungsfähigen und wertungsbedürftigen Normen zur Geltung zu bringen ist (RdNr. 34). Nach dem Willen des Verfassungsgebers fließe das Verbot der Benachteiligung behinderter Menschen (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG) als Teil der objektiven Werteordnung auch in die Auslegung des Zivilrechts ein (RdNr. 37).

5. S kann sich im Rahmen der Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG auch auf das Recht auf persönliche Mobilität aus Art. 20 der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) berufen.

Nein!

Mit der Verfassungsbeschwerde kann S nur Grundrechtsverletzungen geltend machen (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG). Dazu zählen völkervertraglich begründete Rechte nicht, sie stehen innerstaatlich im Rang eines Bundesgesetzes (Art. 59 Abs. 2 GG). Aber BVerfG: Wegen der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG seien deutsche Rechtsvorschriften nach Möglichkeit so auszulegen, dass ein Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen des Bundes nicht entsteht. Somit sei Art. 20 BRK bei der Auslegung zivilrechtlicher Normen zu berücksichtigen – danach sind Maßnahmen zu treffen, um für Menschen mit Behinderungen unabhängige persönliche Mobilität sicherzustellen, u.a. durch erleichterten Zugang zu tierischer Hilfe (RdNr. 39f.).

6. Anspruchsgrundlage für die von S begehrte Duldungspflicht ist § 21 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG.

Genau, so ist das!

Der bzw. die Benachteiligte kann bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot „die Beseitigung der Beeinträchtigung verlangen“ (§ 21 Abs. 1 S. 1 AGG). Dann müsste (1) der Anwendungsbereich des zivilrechtlichen Benachteiligungsverbots (§ 19 AGG) eröffnet sein und (2) eine Benachteiligung im Sinne des Gesetzes (§ 3 Abs. 1, Abs. 2 AGG) vorliegen. Die Fachgerichte verneinen jedoch eine solche Benachteiligung der S, da sie nicht tatsächlich daran gehindert werde, die Räume zu durchqueren, sondern sich lediglich „daran gehindert sehe“. Im Übrigen stünden hygienische Gründe der Annahme einer Benachteiligung entgegen (RdNr. 11ff.).

7. Im Rahmen der Urteilsverfassungsbeschwerde sind die Entscheidungen der Fachgerichte in vollem Umfang einer verfassungsrechtlichen Prüfung durch das BVerfG zugänglich.

Nein, das trifft nicht zu!

Das BVerfG ist keine Superrevisionsinstanz, sodass bei der Urteilsverfassungsbeschwerde ein eingeschränkter Prüfungsmaßstab gilt. Die Auslegung und Anwendung einfachen Rechts ist primär Aufgabe der Fachgerichte und kann vom BVerfG nur darauf überprüft werden, ob sie Auslegungsfehler enthalten, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des betroffenen Grundrechts beruhen (sog. spezifisches Verfassungsrecht). Dies ist der Fall, wenn die Normauslegung die Tragweite des Grundrechtes nicht hinreichend berücksichtigt oder zu einer unverhältnismäßigen Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit führt.

8. Die fachgerichtliche Auslegung der einschlägigen AGG-Vorschriften verstößt gegen das verfassungsrechtliche Verbot der Benachteiligung von Behinderten (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG).

Ja!

BVerfG: Das letztinstanzliche Urteil verkenne die Bedeutung und Tragweite des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG bei der Ausstrahlung in das Zivilrecht. Hier liege jedenfalls eine mittelbare Benachteiligung vor (§ 3 Abs. 2 AGG). Das Urteil vergleiche die S nicht mit anderen – nicht behinderten – Personen, sondern erwarte von ihr, sich ohne ihre Führhündin einer unbekannten oder wenig bekannten Person anzuvertrauen und sich, ohne dies zu wünschen, anfassen und führen zu lassen. Dies komme einer Bevormundung gleich, die den „Paradigmenwechsel“ des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verkenne (RdNr. 41f.).

9. Eine Ungleichbehandlung von Menschen mit Behinderung (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG) ist nur gerechtfertigt, wenn dafür zwingende Gründe vorliegen.

Genau, so ist das!

Rechtfertigungen von unmittelbaren oder mittelbaren Ungleichbehandlungen kommen nur in engen Grenzen in Betracht. Die rechtliche Schlechterstellung Behinderter ist nur zulässig, wenn zwingende Gründe eine solche rechtfertigen. Eine dies bewirkende Maßnahme muss unerlässlich sein, um behindertenbezogenen Besonderheiten Rechnung zu tragen (dazu grundlegend BVerfGE 99, 341 (357) – Testamentserrichtung).

10. Die Benachteiligung ist aus hygienischen Gründen gerechtfertigt.

Nein, das trifft nicht zu!

BVerfG: Es sei bereits zweifelhaft, ob hygienische Gründe mit Blick auf das gelegentliche Mitführen eines Blindenführhundes einen sachgerechten Grund für das Durchgangsverbot darstellen können. Jedenfalls verkenne das letztinstanzliche Urteil, dass es sich vorliegend um einen Warteraum handelt, den Menschen „mit Straßenschuhen und in Straßenkleidung betreten oder unter Umständen in einem Rollstuhl aufsuchen müssen“ . Es sei daher fernliegend, dass das gelegentliche Durchqueren der S mit ihrem Führhund zu einer nennenswerten (Mehr-)Beeinträchtigung der hygienischen Verhältnisse in der Gemeinschaftspraxis führen könnte (RdNr. 43).

11. Das Verbot ist zudem unangemessen und deshalb unverhältnismäßig.

Ja!

BVerfG: Im Übrigen sei das Durchgangsverbot auch unangemessen. Die wirtschaftlichen Interessen der Gemeinschaftspraxis seien angesichts der kurzen Aufenthaltszeit der S nur gering beeinträchtigt. Das Durchgangsverbot führe jedoch zu erheblichen Nachteilen für S und sei mit dem Benachteiligungsverbot (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG) nicht vereinbar, das Menschen mit Behinderung gerade ermöglichen soll, so weit wie möglich ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Für diese Auslegung spreche auch das in der BRK formulierte Ziel der Achtung individueller Autonomie sowie der vollen und wirksamen Teilhabe an der Gesellschaft (RdNr. 47).

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Schaafrichter Johannes

Schaafrichter Johannes

10.3.2020, 22:28:00

Am Anfang der Einheit wird gefragt, ob das behindertenbedingte Benachteiligungsverbot eingeschränkt werden kann und die Frage verneint. Am Ende wird festgestellt, dass eine Einschränkung des Rechts aber aus zwingenden Gründen möglich ist.

GEL

gelöscht

8.4.2020, 20:46:09

Da muss ich dir leider widersprechen. Es wird lediglich ausgesagt, dass eine Benachteiligung aufgrund der Behinderung verboten ist. Dies ist auch der Grundsatz. Jedoch ist im Einzelfall immer eine Abwägung möglich, wie es auch hier vom BVerfG gemacht wurde. Es gibt kein absolutes Benachteiligungsverbot.

LEE

Lee

10.9.2020, 21:36:13

Ich finde die Aussage, dass eine Urteilsverfassungsbeschwerde einer vollständigen verfassungsrechtlichen Kontrolle unterliegt, für richtig. Das einfache Recht ist kein Verfassungsrecht. Insofern finde ich die Aussage und Antwort nicht ganz passend.

Delfinsohn

Delfinsohn

26.5.2021, 11:05:29

Kannst du das etwas ausführen? Ich kann dir nicht ganz folgen...


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