Öffentliches Recht

Europarecht

Niederlassungsfreiheit, Art. 49 AEUV

Niederlassungsfreiheit, Art. 49 AEUV („Hartlauer")

Niederlassungsfreiheit, Art. 49 AEUV („Hartlauer")

23. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Nach österreichischem Recht wird die Errichtung von neuen Krankenanstalten nur bewilligt, wenn Bedarf besteht. Die deutsche H mbH beantragt in Wien eine Bewilligung zur Eröffnung eines Ambulatoriums, der negativ beschieden wird, da kein Bedarf bestehe.

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Einordnung des Falls

Niederlassungsfreiheit, Art. 49 AEUV („Hartlauer")

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit ist vorliegend eröffnet.

Ja, in der Tat!

Der sachliche Anwendungsbereich setzt nach ständiger Rechtsprechung eine Niederlassung voraus, also eine feste Einrichtung oder Infrastruktur, die der tatsächlichen Ausübung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit auf unbestimmte Zeit dient oder zu dienen bestimmt ist. Persönliche Begünstigte der Niederlassungsfreiheit sind Unionsbürger und Gesellschaften mit Unionsbezug. In räumlicher Hinsicht ist ein grenzüberschreitender Bezug erforderlich. Die Eröffnung eines Ambulatoriums stellt eine selbstständige Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert dar, die das Anmieten einer Unterkunft sowie das Anstellen von Personal erfordert. Eine Niederlassung ist damit gegeben. Die H-GmbH ist in Deutschland gegründet und damit eine Gesellschaft mit Unionsbezug. Auch ist ein grenzüberschreitender Bezug gegeben und es liegt keine Bereichsausnahme vor.
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2. Bei der österreichischen Regelung handelt es sich um eine unterschiedslose Beschränkung der Niederlassungsfreiheit.

Ja!

Jede unterschiedslose Maßnahme, welche die Ausübung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit behindert oder weniger attraktiv macht, stellt eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar. Das Bewilligungserfordernis hindert die H- GmbH dazu in Österreich eine Niederlassung zu eröffnen und damit daran, von den Freizügigkeitsrechten Gebrauch zu machen. Die Maßnahme knüpft aber weder offen noch versteckt an die Rechtsordnungszugehörigkeit der H an, sodass es sich vorliegend nicht um eine Diskriminierung, sondern um eine unterschiedslose Beschränkung handelt, die für österreichische Gesellschaften genauso gilt. Zur Erinnerung: Die Niederlassungsfreiheit verbietet nach herkömmlicher Leseart nur Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit. Der EuGH hat die Niederlassungsfreiheit in der Gebhard-Entscheidung zu einem Beschränkungsverbot weiterentwickelt.

3. Die geschriebenen Rechtfertigungsgründe des Art. 52 AEUV können nur Diskriminierungen rechtfertigen.

Nein, das ist nicht der Fall!

Durch geschriebene Rechtfertigungsgründe lassen sich zwar offene Diskriminierungen rechtfertigen. Umgekehrt gilt allerdings auch, dass sich mit den geschriebenen Rechtfertigungsgründen erst recht versteckte Diskriminierung und unterschiedslose Beschränkungen rechtfertigen lassen. (Erst-Recht-Schluss)Vorliegend kommt daher eine Rechtfertigung der unterschiedlosen Beschränkung gemäß der geschriebenen Rechtfertigungsgründe des Art. 52 AEUV in Betracht.

4. Vorliegend könnte der Rechtfertigungsgrund der öffentlichen Gesundheit einschlägig sein.

Ja, in der Tat!

Der Begriff der öffentlichen Gesundheit wird wie alle geschriebenen Rechtfertigungsgründe unionsrechtsautonom ausgelegt. Umfasst werden einerseits seuchenpolizeiliche Erwägungen, wie z.B. der präventive Schutz gegen die Ausbreitung von Krankheiten. Andererseits ist der generell Schutz des Gesundheitssystems im Mitgliedstaat erfasst. Aufgrund der besonderen Bedeutung der Gesundheit für das Leben der Menschen erkennt der EuGH an dieser Stelle ein breiteren Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten an. Der Bedeutungsgehalt der geschriebenen Rechtfertigungsgründe wird vom EuGH mit Blick auf die verschiedenen Grundfreiheiten aufgrund der unterschiedlichen Lebenssachverhalte auch unterschiedlich ausgelegt. Während es beispielsweise bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit eher um das Recht zur Einreise und zum Aufenthalt im Kontext epidemischer Krankheiten geht, sind bei der Niederlassungsfreiheit oft strukturelle Versorgungsfragen betroffen.

5. Die Beschränkung der Bewilligung auf Bedarfsfälle verfolgt ein Ziel, welches vom Schutz der öffentlichen Gesundheit umfasst wird.

Ja!

Aus der Rechtsprechung des EuGH folgt, dass unter den Schutz der öffentlichen Gesundheit u.a. (1) das Ziel der Aufrechterhaltung einer hochwertigen, allgemein zugänglichen ärztliche Versorgung und (2) das Ziel der Vermeidung der erheblichen Gefährdung der finanziellen Gleichgewichts des sozialen Gesundheitssystems fallen. Vorliegend könnte die Beschränkung der Eröffnung von Krankenanstalten einerseits erforderlich sein, um ein bestimmtes Niveau des Gesundheitsschutzes sicherzustellen. Vor dem Hintergrund des zweiten Ziels könnte die Maßnahme einschlägig sein, da die finanziellen Mittel für die Gesundheitsversorgung begrenzt sind und nicht verschwendet werden dürfen. Eine vorherige Planung der Verteilung von medizinischen Anstalten kann daher zum Zwecke der öffentlichen Gesundheit unerlässlich sein. Der Rechtfertigungsgrund der öffentlichen Gesundheit ist daher einschlägig.

6. Sobald ein geschriebener Rechtfertigungsgrund einschlägig ist, ist die beschränkende Maßnahme gerechtfertigt.

Nein, das ist nicht der Fall!

Das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes stellt die erste Ebene der Prüfung dar. Auf zweiter Ebene muss allerdings geprüft werden, ob der Rechtfertigungsgrund im Einzelfall auch verhältnismäßig angewandt wurde, also geeignet und erforderlich zum Erreichen des Ziels ist. Erst wenn dies bejaht werden kann, ist die beschränkende Maßnahme gerechtfertigt und stellt keine Verletzung der Niederlassungsfreiheit dar. Als Hilfe kann an dieser Stelle die deutsche Grundrechtsdogmatik herangezogen werden. Das Vorliegen des Rechtfertigungsgrundes ist die Schrankenprüfung, die verhältnismäßige Anwendung des Rechtfertigungsgrundes die sog. Schranken-Schrankenprüfung. Achtet aber darauf, dass der EuGH diese Begrifflichkeit nicht verwendet und sich die Grundfreiheiten auch nicht im gleichen Maße dogmatisieren lassen.
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