Öffentliches Recht

Europarecht

Niederlassungsfreiheit, Art. 49 AEUV

Niederlassungsfreiheit, Art. 49 AEUV („Centros")

Niederlassungsfreiheit, Art. 49 AEUV („Centros")

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Portugiesin B gründet 2012 in England die Centros Ltd und möchte in Dänemark eine Zweitniederlassung eröffnen. Der entsprechende Antrag wird abgelehnt, da die C in England keine Geschäftstätigkeit entfalte und es sich daher um einen Missbrauch der Niederlassungsfreiheit handele.

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Einordnung des Falls

Niederlassungsfreiheit, Art. 49 AEUV („Centros")

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit ist vorliegend eröffnet.

Genau, so ist das!

Der sachliche Anwendungsbereich setzt nach ständiger Rechtsprechung eine Niederlassung voraus, also eine feste Einrichtung oder Infrastruktur, die der tatsächlichen Ausübung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit auf unbestimmte Zeit dient oder zu dienen bestimmt ist. Persönliche Begünstigte der Niederlassungsfreiheit sind Unionsbürger und Gesellschaften mit Unionsbezug. In räumlicher Hinsicht ist ein grenzüberschreitender Bezug erforderlich. Die Gründung und Leitung von Unternehmen stellt eine selbstständige Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert dar, die eine Niederlassung voraussetzt. Die Centros Ltd wurde vor dem Brexit in England gegründet und ist damit eine Gesellschaft mit Unionsbezug. Auch ist ein grenzüberschreitender Bezug gegeben und es liegt keine Bereichsausnahme vor.
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2. C kann sich nicht auf Art. 49 AEUV berufen, da C die Niederlassungsfreiheit missbraucht hat, indem sie durch die Gründung in England das dänische Gesellschaftsrecht umgegangen hat.

Nein, das trifft nicht zu!

Missbräuchliches Verhalten kann grundsätzlich dazu führen, dass die Grundfreiheiten nicht anzuwenden sind. Der Umstand, dass eine Gesellschaft in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz hat, keine Tätigkeit entfaltet und ihre Tätigkeit ausschließlich oder hauptsächlich im Mitgliedstaat ihrer Zweigniederlassung ausübt, stellt allerdings noch kein solches missbräuchliches und betrügerisches Verhalten dar. Vielmehr ist das Recht eine Gesellschaft nach dem Recht eines Mitgliedstaates zu gründen und in einem zweiten Mitgliedstaat eine Zweigniederlassung zu eröffnen ja gerade durch die Niederlassungsfreiheit gewährleistet. C kann daher kein missbräuchliches Verhalten vorgeworfen, welches es Dänemark erlauben würde, auf die Gesellschaft C die Vorschriften der Niederlassungsfreiheit nicht anzuwenden.

3. Die Ablehnung des Antrags durch die dänischen Behörden kann gemäß Art. 52 AEUV gerechtfertigt werden.

Nein!

Die in Art. 52 AEUV enthaltenen Vorbehalte erlauben es den Mitgliedstaaten Maßnahmen gegenüber anderen Staatsangehörigen vor dem Hintergrund der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit zu rechtfertigen, die die Niederlassungsfreiheit beschränken und daher grundsätzlich unzulässig sind. Auch offene Diskriminierungen lassen sich so rechtfertigen. Vorliegend ist jedoch keiner der geschriebenen Rechtfertigungsgründe einschlägig. Die Ablehnung des Antrags durch die dänischen Behörden verfolgt vielmehr den Zweck die Gläubiger der Gesellschaft durch die Einhaltung der dänischen Vorschriften zu schützen.

4. Die Maßnahme Dänemarks könnte jedoch durch ungeschriebene Rechtfertigungsgründe nach der Gebhard-Formel gerechtfertigt sein.

Genau, so ist das!

Der EuGH hat in der Rechtssache Gebhard entschieden, dass Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit über die geschriebenen Rechtfertigungsgründe hinaus dann gerechtfertigt werden können, wenn sie (1) in nichtdiskriminierender Weise anwendbar sind, (2) aus zwingenden Gründen des Allgemeinwohls gerechtfertigt sind, (3) geeignet sind, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten und (4) nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des Ziels erforderlich ist. Diese Voraussetzungen werden die sog. Gebhard-Formel genannt. Der EuGH hat zunächst nur die Rechtfertigung von unterschiedslosen Beschränkungen durch die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe zugelassen. In der neueren Rechtsprechung weicht der EuGH jedoch davon ab und rechtfertigt auch verdeckte Diskriminierung mit ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen bzw. grenzt häufig nicht eindeutig zwischen verdeckter Diskriminierung und unterschiedsloser Beschränkung ab.

5. Vorliegend sind zwingende Gründe des Allgemeinwohls betroffen.

Ja, in der Tat!

Als ungeschriebene Gründe hat der EuGH verschiedene Allgemeininteressen im Sinne einer entwicklungsoffenen, nicht-abschließenden Liste anerkannt. Nicht als zwingende Gründe des Allgemeinwohls können jedoch rein administrative oder wirtschaftliche Interessen vorgebracht werden, weil ein solches protektionistisches Verhalten dem Binnenmarktgedanken widerspricht. Der Gläubigerschutz, den Dänemark durch die Untersagung der Zweigniederlassung bezweckt, ist als solcher als zwingender Grund des Allgemeinwohls anerkannt. Denn die dänischen Gesetze, die durch die Gründung in England für die C nicht zur Anwendung kommen, verfolgen den Zweck Gläubiger vor der Gefahr uneinbringlicher Forderungen oder Zahlungsunfähigkeit zu schützen.

6. Die Maßnahme ist auch geeignet und erforderlich. Sie erfüllt daher die Voraussetzungen der Gebhard-Formel.

Nein!

Das dänische Vorgehen ist nicht geeignet, das mit ihm verfolgte Ziel des Gläubigerschutzes zu erreichen. Denn wenn C in England Geschäftstätigkeiten entfaltet hätte, wäre eine Eintragung der Zweigniederlassung ohne Weiteres möglich gewesen, obwohl die Gläubiger genauso gefährdet wären. Die Maßnahme ist daher nicht geeignet, um den Gläubigerschutz zu erreichen. Außerdem kommt als milderes Mittel in Betracht den Gläubigern die Möglichkeit zur Einräumung von Sicherheiten zu geben, sodass die Maßnahme auch nicht erforderlich ist. Die Centros-Entscheidung wird teilweise bereits wie die Überseering-Entscheidung als positive Antwort auf die Frage verstanden, ob eine identitätswahrende Sitzverlegung einer Gesellschaft möglich ist. Allerdings bezieht sich der EuGH ausdrücklich nur auf die Eröffnung von Zweigniederlassungen als Teil des Gewährleistungsgehalts der Niederlassungsfreiheit, weshalb die Entscheidung nicht zwingend bereits die Unvereinbarkeit der Sitztheorie mit dem EU-Recht bedeutet.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

DAN

Daniel

16.9.2023, 11:35:25

Ich stimme dem Ergebnis zu, finde allerdings die Argumentation unschlüssig. Die Maßnahme ist geeignet zum Gläubigerschutz. Nur stützt sich die Eignung nicht auf die Tatsache, dass es keine Geschäftstätigkeit im anderen Mitgliedstaat gab, sondern alleine darauf, dass eine nicht den dänischen Vorschriften entsprechende Gesellschaft nicht ins Land gelassen werden sollte. Die Maßnahme verliert nicht ihre Geeignetheit, nur weil der Gläubigerschutz bei vorheriger Geschäftstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat (und dann erfolgter Zulassung der Zweitniederlassung) auch gefährdet wäre. Vielmehr wäre in diesem Fall auch - das dann unbestritten rechtswidrige - Versagen der Niederlassungserlaubnis zum Gläubigerschutz geeignet. Daher würde ich das Argument in der Erforderlichkeit diskutieren (in einer deutschen Verhältnismäßigkeitsprüfung in der Angemessenheit).

DAN

Daniel

30.9.2023, 15:56:14

Um mir selber meine Frage zu beantworten: Anders als wir es in der deutschen Dogmatik kennen, verneint der EuGH die Geeignetheit nicht nur, wenn die Maßnahme gar nicht förderlich zur Zweckerreichung ist, sondern auch wenn sie nicht in "kohärenter und systematischer Weise" zur Zweckerreichung beiträgt. Dieses meines Erachtens nach etwas unscharfe Verständnis von "Geeignetheit" dürfte auch hier für die Verneinung durch den EuGH ursächlich sein.


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