Öffentliches Recht

Europarecht

Dienstleistungsfreiheit, Art. 56 AEUV

Dienstleistungsfreiheit, Art. 56 AEUV („Van Binsbergen“)

Dienstleistungsfreiheit, Art. 56 AEUV („Van Binsbergen“)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Niederländer V mandatiert die niederländische Rechtsanwältin N ihn zu vertreten. N verlegt während des Verfahrens ihren Wohnsitz von Den Haag nach Brüssel und wird daraufhin gemäß den niederländischen Regelungen nicht mehr als Prozessbevollmächtigte zugelassen.

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Einordnung des Falls

Dienstleistungsfreiheit, Art. 56 AEUV („Van Binsbergen“)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit ist eröffnet.

Genau, so ist das!

Der sachliche Anwendungsbereich setzt eine Dienstleistung voraus. Die Dienstleistung lässt sich in Abgrenzung zu den anderen Grundfreiheiten als selbstständige, vorübergehende Leistung definieren, die einen entgeltlichen Charakter haben muss. Begünstigte sind Unionsbürger und gem. Art. 62 i.V.m. Art. 54 AEUV Gesellschaften mit Unionsbezug. Ferner ist ein grenzüberschreitender Bezug erforderlich. Rechtsanwälte erheben als Gegenleistung für ihre Tätigkeiten eine Gebühr und handeln mit Gewinnerzielungsabsicht. Eine entgeltliche Leistung ist damit unproblematisch gegeben. N ist vorliegend auch selbstständig. Durch den Umzug von N nach Belgien ist auch ein grenzüberschreitender Bezug gegeben. Der sachliche Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit ist somit eröffnet.
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2. Die Regelung, dass bei Wegzug keine Zulassung mehr als Prozessbevollmächtigte möglich ist, stellt eine unterschiedslose Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit dar.

Nein, das trifft nicht zu!

Art. 56 AEUV verlangt nicht nur die Beseitigung sämtlicher Diskriminierungen des Dienstleistungserbringers aufgrund seiner Staatsangehörigkeit, sondern auch die Aufhebung aller unterschiedslosen Beschränkungen. Unterschiedslos sind Beschränkungen dann, wenn sie inländische und ausländische Unionsbürger und Gesellschaften gleichermassen betreffen. Das Erfordernis der Niederlassung betrifft de facto EU-Ausländer, die ihren Wohnsitz häufig in einem anderen Mitgliedstaat haben, stärker als Niederländer. Es handelt sich daher nicht um eine unterschiedslose Beschränkung.

3. Bei der streitigen Regelung handelt es sich um eine versteckte Diskriminierung.

Ja!

Eine versteckte Diskriminierung liegt vor, wenn die Ungleichbehandlung an ein anderes Differenzierungskriterium als die Staatsangehörigkeit geknüpft wird. Formal liegt bei der versteckten Diskriminierung eine gleiche (unterschiedslose) Behandlung von Inländern und Ausländern vor. Durch die versteckt diskriminierende Maßnahme werden Unionsbürger oder Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten, die sich im betroffenen Mitgliedstaat niederlassen, jedoch typischerweise stärker und häufiger betroffen als Inländer. Wie bereits festgestellt werden vorliegend EU-Ausländer typischerweise häufiger ihren Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat haben und damit häufiger von der Regelung betroffen, als Inländer. Damit handelt es sich um eine versteckte Diskriminierung.

4. Vorliegend kommt die Rechtfertigung über die geschriebenen Rechtfertigungsgründe gemäß Art. 62 i.V.m. Art. 52 AEUV in Betracht.

Nein, das ist nicht der Fall!

Die in Art. 52 AEUV enthaltenen Vorbehalte erlauben es den Mitgliedstaaten Maßnahmen gegenüber anderen Staatsangehörigen vor dem Hintergrund der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit zu rechtfertigen, die sonst aufgrund der damit verbundenen Einschränkung der Niederlassungsfreiheit unzulässig wären. Vorliegend geht es darum sicherzustellen, das praktizierende Anwälte in den Niederlanden auch ihren Wohnsitz haben. Dieses Schutzziel lässt sich jedoch weder unten den Schutz der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit, noch unter den Schutz der öffentlichen Gesundheit subsumieren. Eine Rechtfertigung über die geschriebenen Rechtfertigungsgründe kommt hier daher nicht in Betracht.

5. Die Einhaltung bestimmter Berufsregeln stellt ein zwingendes Allgemeininteresse dar.

Ja, in der Tat!

Berufsregelungen werden zum Teil als zwingender Grund des Allgemeininteresses angesehen und können daher eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit rechtfertigen. Berufsregeln in diesem Sinnne sind Vorschriften über die Organisation, Befähigung, Berufspflichten, Kontrolle und Verantwortlichkeit bestimmter Berufe, die für alle im Gebiet der Leistungserbringung ansässigen Personen verbindlich sind. Diese Entscheidung ist deshalb besonders interessant, da der EuGH in einem klassischen Fall der versteckten Diskriminierung erstmalig die Rechtfertigung am Maßstab der zwingenden Gründe des Allgemeininteresses und damit anhand ungeschriebener Rechtfertigungsgründe prüft.

6. Für derartige Niederlassungserfordernisse gelten strenge Rechtfertigungsanforderungen.

Ja!

Der EuGH legt für die Rechtfertigung solcher Niederlassungserfordernisse strenge Maßstäbe zugrunde. Hintergrund ist, dass sie im Ergebnis dazu führen, dass der Dienstleistungsfreiheit kein Anwendungsbereich mehr verbleibt. Die einschränkende Maßnahme muss daher sachlich geboten sein, um die Einhaltung der Berufsregeln zu gewährleisten. Dies gilt daher nicht, wenn ansonsten keinerlei Anforderungen an die Berufsausübung gestellt werden. Vorliegend sah der EuGH die Rechtfertigungsanforderungen nicht gegeben. Die Niederlande fordern zwar den ständigen Aufenthalt im Staatsgebiet. Abgesehen davon gelten aber keinerlei Berufsausübungsregeln, was nicht für die sachliche Gebobtenheit der Maßnahme spreche. Ferner seien weniger einschränkender Maßnahmen heranzuziehen, wie z.B. eine lokale Zustellungsadresse. Die Regelung ist daher nicht mit der Dienstleistungsfreiheit vereinbar.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

ASA

asanzseg

29.4.2023, 14:37:25

Ich verstehe nicht… im Vorherigen Fall mit der zwingenden Anmeldung zur Handwerksrolle und dem dadurch verhängten Buß

geld

aufgrund von Schwarzarbeit wurde eine mögliche Rechtfertigung weder geschrieben noch ungeschrieben gänzlich abgelehnt, dabei handelte es ebenfalls um eine Berufsregelung zur Kontrolle bestimmter Berufe. Wieso wurde es in einem Fall als ungeschriebene Rechtfertigung zugelassen und in dem anderen Fall nicht ?

AN

Ani

24.3.2024, 10:58:48

Die Protagonistin ist ja hier selbst Niederländerin und somit nur zufällig von der versteckten Diskriminierung betroffen. muss man darauf im Gutachten eingehen?


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