Verhältnis zu Vertrag & Delikt- Fremdbesitzerexzess im Zweipersonenverhältnis


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Klassisches Klausurproblem

Die unerkannt geisteskranke G vermietet dem M für eine Party einige ihrer teuren Champagnergläser. Als M grob fahrlässig versucht, die Gläser jeweils mit einem Finger zu balancieren, gehen alle zu Bruch.

Einordnung des Falls

Verhältnis zu Vertrag & Delikt- Fremdbesitzerexzess im Zweipersonenverhältnis

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. M haftet der G aus dem Vertragsverhältnis (§§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB).

Nein!

Voraussetzung für eine Schadensersatzpflicht aus Vertrag ist zunächst das Vorliegen eines wirksamen Vertrages. Da G jedoch nach § 104 Nr. 2 BGB geschäftsunfähig war, ist der Mietvertrag (§§ 535 ff. BGB) nichtig. Vertragliche Ansprüche scheiden daher aus.

2. Zum Zeitpunkt des schadensbegründenden Ereignis bestand eine Vindikationslage zwischen M und G.

Genau, so ist das!

G war zu Beginn Eigentümerin der Gläser, ein Eigentumsverlust ist nicht erkennbar. M war zum Zeitpunkt der Beschädigung im Besitz der Gläser. Ein Recht zum Besitz (§ 986 Abs. 1 BGB) würde ein wirksamer Mietvertrag verleihen. Da dieser jedoch nichtig ist, lag kein Besitzrecht zugunsten des M vor.

3. G hat gegen M einen Schadensersatzanspruch aus §§ 989, 990 Abs. 1 BGB.

Nein, das trifft nicht zu!

Die Voraussetzungen für einen Schadensersatzanspruch aus §§ 989, 990 BGB sind (1) das Vorliegen einer Vindikationslage, (2) Verschlechterung, Untergang oder sonstige Unmöglichkeit der Herausgabe, (3) Bösgläubigkeit, (4) Verschulden des Anspruchsgegners und (5) ein Schaden beim Anspruchssteller. M war nicht bekannt und musste auch nicht bekannt sein, dass G geschäftsunfähig war und er so das Besitzrecht nicht erlangen konnte. Er war daher redlich, weshalb der Schadensersatzanspruch aus §§ 989, 990 BGB ausgeschlossen ist.

4. Aufgrund der Sperrwirkung des EBV ist das Deliktsrecht (§§ 823 ff. BGB) unstreitig nicht anwendbar.

Nein!

Grundsätzlich sind deliktsrechtliche Vorschriften bei Vorliegen des EBV durch § 993 Abs. 1 Hs. 2 BGB gesperrt. Dies würde hier aber dazu führen, dass M aufgrund des nichtigen Vertrages nicht haftet, während er bei Wirksamkeit des Vertrages vertraglichen Schadensersatzansprüchen ausgesetzt wäre. Dies wird allgemein als unbillig erachtet. Die h.M. nimmt daher eine teleologische Reduktion des § 993 Abs. 1 Hs. 2 BGB vor. Dies wird damit begründet, dass der Fremdbesitzer, der sein Besitzrecht überschreitet, nicht schutzwürdig sei. Denn er hätte die Sache auch bei bestehendem Besitzrecht nicht beschädigen dürfen. Daher sei die direkte Anwendung der §§ 823 ff. BGB möglich.Das Überschreiten des vermeintlich bestehenden Besitzrechts durch den Besitzer wird als Fremdbesitzerexzes bezeichnet.

5. Ein Teil der Literatur lehnt die teleologische Reduktion des § 993 Abs. 1 Hs. 2 BGB beim Fremdbesitzerexzess ab. Stünden G nach dieser Ansicht damit keine deliktischen Ansprüche gegen M zu?

Nein, das ist nicht der Fall!

Nach teilweise vertretener Ansicht wird statt der teleologischen Reduktion des § 993 Abs. 1 Hs. 2 BGB die analoge Anwendung des § 991 Abs. 2 BGB befürwortet. Diese gesetzliche Regelung passe auch auf diese Konstellation, obwohl sie nach dem Wortlaut nur für das Dreipersonenverhältnis Anwendung findet. Über diesen Weg finden die §§ 823 ff. BGB ebenfalls Anwendung. Die generelle Ablehnung von deliktischen Schadensersatzansprüchen in der vorliegenden Situation wird aber von keiner Ansicht vertreten, sondern lediglich die rechtliche Begründung ist umstritten.

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PH

Philippe

5.7.2022, 22:59:22

Aber wenn ich mich recht erinnere besteht doch ein Unterschied, wenn ein Dritter die Verschlechterung oder den Untergang zu verschulden hat, weil im Rahmen des § 991 BGB auch § 278 BGB Anwendung findet, nicht hingegen bei der "blanken" Anwendung von §§ 823 ff infolge einer Ausnahme von der Sperrwirkung.

PH

Philippe

5.7.2022, 23:11:47

Das gilt zumindest dann, wenn man § 991 als teilweisen Rechtsgrundverweise auf § 989 sieht (so Staudinger/Thole, § 991 Rn. 27).

Nora Mommsen

Nora Mommsen

23.7.2022, 11:24:34

Hallo Philippe, das ist genau das Argument mit dem die andere Meinung eine analoge Anwendung des § 991 Abs. 1 BGB befürwortet. Danach sei es nicht gerechtfertigt, dass der gutgläubige unberechtigte Fremdbesitzer im Drei-Personen-Verhältnis schärfer haften soll als der gutgläubige unberechtigte Besitzer im Zwei-Personen-Verhältnis. Die herrschende Meinung hält daran fest, dass § 991 Abs. 2 BGB eben auf Drei-Personen-Verhältnisse zugeschnitten ist und die HAftung des unmittelbaren Besitzers an die Haftung aus dem Vertrag mit dem mittelbaren Besitzer anknüpft. Dies sei nicht auf Zwei-Personen-Verhältnisse übertragbar, denen jede vertragliche Haftungsgrundlage fehlt. Wir haben einen entsprechenden Hinweis auf die abweichende Meinung in der Aufgabe ergänzt. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

LKWeisser

LKWeisser

24.11.2023, 16:11:24

Es bestand doch schon keine

Vindikationslage

, wieso muss ich dann überhaupt noch weiter prüfen

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

24.11.2023, 16:35:46

Hi LKWeisser, schau Dir hierzu gerne noch einmal die zweite Frage inklusive Hinweis an. Die Voraussetzungen der

Vindikationslage

sind hier tatsächlich erfüllt. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

LKWeisser

LKWeisser

25.11.2023, 14:57:19

Upsi danke, war schon spät in der Nacht

JUL

Julian

12.1.2024, 18:25:46

Ich verstehe nicht ganz, warum die m.M. auch §§ 823 ff. BGB anwendet. Würde man § 991 II BGB analog anwenden, hätten wir doch einen Anspruch aus §§ 991 II, 989 BGB analog. Oder sagt die Mindermeinung, dass im Rahmen des Anspruches gem. §§ 991 II, 989 BGB analog im Rahmen der Verantwortlichkeit die §§ 823 ff. BGB inzident zu prüfen sind?

CR7

CR7

21.1.2024, 12:53:20

Die mM konstruiert aus einem Zwei-Personenverhältnis (hier G und M) quasi ein Drei-Personenverhältnis (fiktive dritte Person wird hinzugefügt, aber ohne nennenswerte Merkmale). Dann wird geschaut, wie denn in diesem Fall hier M gegenüber G haften würde. M würde zum einen aus §§ 280 I, 241 II BGB haften, aber da der Vertrag unwirksam ist, bleibt nur noch § 823 I BGB übrig, der für G schlechter ist, weil das Vertretenmüssen nicht vermutet wird, sondern das Verschulden nachzuweisen ist. Und da zwischen mittelbarem Besitzer und unmittelbaren Besitzer keine

Vindikationslage

(denn Eigentümer ist die fiktive dritte Person) bestehen kann, kann auch § 993 I Hs. 2 BGB nicht greifen. So konstruierst du quasi eine Umgehung der Sperrwirkung zugunsten des Eigentümers und zulasten des unverklagten, redlichen Besitzers, der aber nicht besser stehen darf, als wenn der Vertrag wirksam wäre.

PET

Petrus

10.3.2024, 08:09:57

Käme hier auch ein Anspruch wegen Rücksichtnahmepflichtverletzung aus §§ 280 I, 311 II Nr. 3, 241 II BGB in Betracht? Ich habe irgendwie im Hinterkopf, dass nichtige Verträge als ähnliche geschäftliche Kontakte angesehen werden können.


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