+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Die EU-Richtlinien 2009/72 und 73 verpflichten die Mitgliedstaaten zur Errichtung von nationalen Regulierungsbehörden, die den diskriminierungsfreien Zugang zu den Energienetzen gewährleisten sollen, u.a. indem sie hierfür ein angemessenes Entgelt festlegen.
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Einordnung des Falls
Unabhängigkeit nationaler Regulierungsbehörde
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 14 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Richtlinien der Europäischen Union (Art. 288 Abs. 3 AEUV) gelten unmittelbar in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU).
Nein, das ist nicht der Fall!
Gemäß Art. 288 Abs. 3 AEUV ist die Richtlinie nur hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel. Demnach wirkt sie – anders als die Verordnung (Art. 288 Abs. 2 AEUV) –nicht unmittelbar in den Mitgliedstaaten, sondern bedarf der Umsetzung in das nationale Recht.
Von diesem Grundsatz gibt es aber sehr klausurrelevante Ausnahmen, z.B. wenn eine Richtlinie nicht fristgemäß umgesetzt wurde und inhaltlich unbedingt sowie hinreichend bestimmt ist.
Lies Dir unbedingt Art. 288 AEUV durch. Dort findest Du die Rechtsquellen des sekundären Unionsrechts und Hinweise zu ihrem Rechtscharakter.
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2. Die Europäische Kommission ist der Ansicht, dass Deutschland (D) die Richtlinie nicht ordnungsgemäß umgesetzt hat. Kann sie ein Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 AEUV) einleiten?
Ja, in der Tat!
Die Kommission ist gemäß Art. 258 Abs. 2 AEUV befugt, den EuGH im Rahmen eines sog. Vertragsverletzungsverfahrens anzurufen, wenn sie der Auffassung ist, dass ein Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen hat. Zuvor muss sie dem Staat allerdings die Gelegenheit zur Äußerung geben.
Demnach ist hier das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV statthaft. Für dieses ist gemäß Art. 256 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV i.V.m. Art. 51 EuGH-Satzung ausschließlich der EuGH zuständig.
Klagegegenstand ist die Behauptung der Kommission, der Mitgliedstaat habe durch ein ihm zurechenbares Verhalten gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen. Dabei muss sie von der Vertragsverletzung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht überzeugt sein (Klageberechtigung). Zudem ist vor Klageerhebung ein Vorverfahren durchzuführen.
3. Die Kommission erweitert ihre Rüge im Laufe des Vorverfahrens. Kann sie einseitig den Streitgegenstand im Laufe des Verfahrens ändern?
Nein!
Eine Partei kann nicht den Streitgegenstand im Laufe des Verfahrens ändern (RdNr. 98).
Hier rügte die Kommission ursprünglich, dass § 24 S. 1 EnWG – als deutsches Umsetzungsgesetz der Richtlinie – der Bundesregierung Zuständigkeiten zuweise, die nach der Richtlinie ausschließliche Zuständigkeiten der nationalen Regulierungsbehörde seien. Später griff die Kommission noch die unzureichende Unabhängigkeit der Behörde an. Der EuGH sieht hierin keine unzulässige Erweiterung des Streitgegenstands, da beide Fragen inhaltlich verknüpft seien. Denn nach der Richtlinie hat die Behörde die ihr zugewiesenen Zuständigkeiten selbständig und unabhängig auszuüben (RdNr. 102).
Auch im deutschen Zivil- und Verwaltungsprozess ist nach Rechtshängigkeit eine einseitige Erweiterung des Streitgegenstands durch den Kläger unzulässig. Vielmehr muss dieser Klageänderung der Gegner zustimmen oder das Gericht sie für sachdienlich halten (§§ 263 ZPO, 91 VwGO). 4. Die Klage der Kommission ist begründet, wenn der geltend gemachte Verstoß gegen das Unionsrechts tatsächlich vorliegt.
Genau, so ist das!
Dies ist der Fall, wenn die von der Kommission geltend gemachten Tatsachen zutreffen, diese dem Mitgliedstaat zurechenbar sind und sich hieraus ein nicht zu rechtfertigender Verstoß gegen das primäre oder sekundäre Unionsrecht ergibt.
Es kommt also hier darauf an, ob Deutschland gegen die Verpflichtungen aus den Richtlinien 2009/72 und 2009/73 verstoßen hat, indem es diese nicht ordnungsgemäß umsetzte.
Hintergrund: Die Richtlinien betreffen den europäischen Energiemarkt. Hier gibt es eine Zweiteilung zwischen Unternehmen, die die Energie produzieren, und solchen, die die Netze betreiben und damit die Energie verteilen (Netzbetreiber). Da für Energieproduzenten typischerweise nur ein Netzbetreiber in Betracht kommt, besteht ein Ungleichgewicht in den Vertragsverhandlungen. Dieses möchte die Richtlinien ausgleichen, u.a. indem sie den nationalen Regulierungsbehörden die Befugnis übertragen, anstelle des Netzbetreibers ein angemessenes Entgelt für den Netzzugang festzulegen.
5. Art. 37 Abs. 1, 6 der Richtlinie 2009/72 und Art. 41 Abs. 1, 6 der Richtlinie 2009/73 verleihen der nationalen Regulierungsbehörde die Zuständigkeit, die Tarife für den Zugang zu den Energienetzen festzulegen.
Ja, in der Tat!
Nach der Richtlinie gehören die Bestimmung der Methoden zur Berechnung oder Festlegung der Bedingungen für den Anschluss an und den Zugang zu den nationalen Netzen, einschließlich der anwendbaren Tarife, zu den Zuständigkeiten, die den Regulierungsbehörden unmittelbar vorbehalten sind (RdNr. 105).
Zudem sehen Art. 35 Abs. 4 Buchst. a und Abs. 5 Buchst. a der Richtlinie 2009/72 sowie Art. 39 Abs. 4 Buchst. a und Abs. 5 Buchst. a der Richtlinie 2009/73 vor, dass die Regulierungsbehörde ihre Zuständigkeit unabhängig von öffentlichen Einrichtungen bzw. politischen Stellen ausüben (RdNr. 107). 6. Zudem muss die Regulierungsbehörde ihre Zuständigkeiten unabhängig von öffentlichen Einrichtungen bzw. politischen Stellen ausüben können (s. u.a. Art. 35 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2009/72).
Ja!
Dies bedeutet, dass die Behörde gegenüber den öffentlichen Einrichtungen völlig frei handeln kann und dabei vor jeglicher Weisung und Einflussnahme geschützt ist. Sie muss die ihr aufgrund der Richtlinie zugewiesenen Befugnisse also selbständig allein aufgrund des öffentlichen Interesses treffen können ohne externen Weisungen anderer unterworfenen zu sein (RdNr. 109 f.).
Diese Unabhängigkeit auch von Verwaltungsorganen oder politischen Stellen sei notwendig, damit die von der Regulierungsbehörde getroffene Entscheidungen unparteiisch und nicht diskriminierend sind und so die Ziele der Richtlinien erreicht werden (RdNr. 112). 7. Eine Auslegung von Art. 37 Abs. 1 und 6 RL-2009/72 in dem Sinne, dass es der Regierung freisteht, die Methoden zur Berechnung der Netzzugangstarife festzulegen, steht im Einklang mit der Richtlinie.
Nein, das ist nicht der Fall!
Eine solche Auslegung des Art. 37 Abs. 1 und 6 RL-2009/72 bzw. Art. 41 Abs. 1 und 6 RL-2009/73 in dem Sinne, dass es einer nationalen Regierung freisteht, die von der Regulierungs
behörde anzuwendenden Methoden zur Berechnung der Netzzugangstarife festzulegen, liefe den Zielen der Richtlinien zuwider (RdNr. 113).
8. Somit verstößt § 24 S. 1 EnWG, der der Bundesregierung u.a. die Zuständigkeit überträgt die Methoden zur Bestimmung der Entgelte für den Netzzugang festzulegen gegen die Richtlinien.
Ja, in der Tat!
§ 24 S. 1 EnWG überträgt der Bundesregierung außerdem die Befugnis zu regeln, in welchen Fällen und unter welchen Voraussetzungen die Regulierungsbehörde selbst die Bedingungen oder Methoden für den Netzzugang festlegen kann. Damit überträgt er der Bundesregierung unmittelbar bestimmte Zuständigkeiten, die nach der Richtlinie ausschließlich der nationalen Regulierungsbehörde – in Deutschland der BNetzA – vorbehalten sind (RdNr. 114 f.).
Die Unabhängigkeit der Regulierungsbehörde – hier der BNetzA – wird somit durch Rechtsakte beschränkt, hier die von der Bundesregierung auf Grundlage von § 24 EnWG erlassenen Rechtsverordnungen (RdNr. 116). 9. Die in § 24 S. 1 EnWG enthaltene Regelung ist vor dem Hintergrund, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des Unionsrechts Verfahrensautonomie genießen, gerechtfertigt.
Nein!
Bei der Umsetzung und Durchsetzung des Unionsrechts gilt der Grundsatz der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie. Demnach verfügen sie bei der Umsetzung der Richtlinie hinsichtlich der Wahl der Mittel und Wege zu ihrer Durchführung einen weiten Wertungsspielraum. Diese Freiheit enthebt die Mitgliedstaaten aber nicht ihrer Verpflichtung, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die vollständige Wirksamkeit der Richtlinie entsprechend ihrer Zielsetzung zu gewährleisten (RdNr. 118).
Daraus folgt, dass die Mitgliedstaaten bei der Organisation und Strukturierung ihrer Regulierungsbehörde zwar über eine Autonomie verfügen, diese Autonomie jedoch unter vollständiger Beachtung der in den Richtlinien festgelegten Ziele und Pflichten auszuüben ist. Diese sollen sicherstellen, dass die Behörde der Ausübung der ihnen vorbehaltenen Zuständigkeiten ihre Entscheidungen unabhängig erlassen (RdNr. 119). 10. Die Regelung in § 24 S. 1 EnWG, wonach die Bundesregierung die wesentlichen Regelungen durch Rechtsverordnung trifft, dient der Sicherstellung der demokratischen Legitimation der Regulierungsbehörde, hier der Bundesnetzagentur.
Genau, so ist das!
Aus dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) leitet das BVerfG den Grundsatz des demokratischen Verwaltungsaufbaus ab. Danach müssen alle staatlichen Entscheidungen inhaltlich und personell demokratisch legitimiert und somit letztlich auf den Volkswillen zurückzuführen sein.
Die Bundesregierung legitimiert das Handeln der nachgeordneten Regulierungsbehörde – der BNetzA – inhaltlich, indem sie auf Grundlage der vom Parlament erlassenen Verordnungsermächtigung das Handeln der Regulierungsbehörde inhaltlich steuert. Das Parlament als Urheber der Verordnungsermächtigung ist durch die Wahlen zum Bundestag demokratisch legitimiert.
Personell wird das Behördenhandeln dadurch legitimiert, dass die Bundesregierung, welche wiederum vom demokratisch gewählten Parlament gewählt wird (genauer: der Bundeskanzler, der wiederum die Minister ernennt), die Behördenleiter bestimmt und diese ihre Mitarbeiter. 11. Die demokratische Legitimation hoheitlichen Handelns und der damit verbundene Grundsatz der repräsentativen Demokratie ist für die EU rechtlich unerheblich.
Nein, das trifft nicht zu!
Nach Art. 10 Abs. 1 EUV beruht die Arbeitsweise der Union auf dem Demokratieprinzip bzw. dem Grundsatz der repräsentativen Demokratie, der den in Art. 2 EUV genannten Wert der Demokratie konkretisiert (RdNr. 124).
Der Grundsatz der repräsentativen Demokratie spiegelt sich auch in dem Gesetzgebungsverfahren wider, in dem die Richtlinien 2009/72 und 2009/73 erlassen wurden. Als den Mitgliedstaaten gemeinsamer Grundsatz ist er zudem bei der Auslegung dieser Richtlinien zu berücksichtigen (RdNr. 125).
12. Verbietet es das europarechtliche Demokratieprinzip, dass es außerhalb des hierarchischen Verwaltungsaufbaus unabhängige Stellen gibt, die Aufgaben wahrnehmen, die der politischen Einflussnahme entzogen sind?
Nein!
Nach dem Verständnis des EuGH stehe dies dem Demokratieprinzip nicht entgegen, solange diese unabhängigen Behörden an das Gesetz gebunden und der Kontrolle durch die zuständigen Gerichte unterworfen bleiben.
Der Umstand, dass der Regulierungsbehörde eine von der allgemeinen Staatsverwaltung unabhängige Stellung zukommt, sei für sich allein damit noch nicht geeignet, diesen Behörden die demokratische Legitimation zu nehmen, sofern sie nicht jeder parlamentarischen Einflussmöglichkeit entzogen sind (RdN. 126).
Hier sieht man, dass sich das Demokratieverständnis des EuGH von dem des BVerfG unterscheidet. Nach dem EuGH ist eine inhaltliche demokratische Legitimation nämlich nicht erforderlich. Ausreichend und zulässig ist, wenn die Personen, die die Leitung der Behörde ausüben, vom Parlament oder von der Regierung ernannt werden. Zudem muss eine nachträgliche unabhängige Überprüfung der Entscheidung der Regulierungsbehörde möglich sein (RdNr. 127 f.). Die Entscheidung des EuGH birgt daher ein erhebliches verfassungsrechtliches Konfliktpotential. 13. Kann Deutschland sich gegenüber der EU erfolgreich auf das Demokratieprinzip berufen, um der Bundesregierung Zuständigkeiten der Regulierungsbehörde zu übertragen.
Nein, das ist nicht der Fall!
Da eine inhaltliche Legitimation des Behördenhandelns nach dem europäischen Demokratieverständnis nicht erforderlich ist, kann das Demokratieprinzip die Regelung des § 24 S. 1 EnWG nicht rechtfertigen.
Vielmehr muss nach der Richtlinie die Unabhängigkeit der nationalen Regulierungsbehörde sowohl vor der Regierung als auch vor dem Parlament gewährleistet sein. Die Regelung des § 24 S. 1 EnWG widerspricht dem und setzt die Richtlinie daher unzureichend um (RdNr. 130).
Relevant an dieser Entscheidung ist somit insbesondere, dass nach dem EuGH mit Unabhängigkeit der Behörden auch Unabhängigkeit vom Gesetzgeber meint. Dies ist nach dem deutschen Verständnis von demokratischer Legitimation problematisch (s.o.). 14. Die Klage der Kommission gegen Deutschland hat Erfolg.
Ja, in der Tat!
Deutschland hat seine Verpflichtungen aus der Richtlinie nicht ordnungsgemäß umgesetzt und somit in zurechenbarer Weise gegen sekundäres Unionsrecht verstoßen.
Der EuGH erlässt nach Art. 260 Abs. 1 AEUV ein Feststellungsurteil. Der verurteilte Mitgliedstaat ist verpflichtet, den unionsrechtswidrigen Zustand unverzüglich zu beseitigen.
Wenn Dich dieses spannende Thema interessiert, hör Dir gerne unsere Podcast-Folge zu dem Urteil an. In dieser werden vor allem das Demokratieprinzip und die Grundsätze demokratischer Legitimation sowie die Auswirkungen der Entscheidung für den deutschen Verwaltungsaufbau besprochen .