Meinungsbildende Tatsachenbehauptungen, die weder eindeutig erwiesen noch eindeutig widerlegt sind


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O möchte die DDR-Vergangenheit aufklären. Er verfasst einen Beitrag über Politiker P und wirft diesem vor, Inoffizieller Mitarbeiter (IM) der Stasi gewesen zu sein. Stasi-Akten über P, die dies belegen oder widerlegen könnten, waren vernichtet worden. P erstattet Anzeige gegen O.

Einordnung des Falls

Meinungsbildende Tatsachenbehauptungen, die weder eindeutig erwiesen noch eindeutig widerlegt sind

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Tatsachenbehauptungen sind vom sachlichen Schutzbereich der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) erfasst, wenn sie geeignet sind, zur Meinungsbildung beizutragen.

Genau, so ist das!

Der Wortlaut von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG erfasst Meinungen. Dabei werden Werturteile und Tatsachen unterschieden. Werturteile zeichnen sich durch subjektive Elemente der Stellungnahme oder des Dafürhaltens aus. Im Unterschied zum Werturteil sind Tatsachen dem Beweis zugänglich. Tatsachen kennzeichnet eine objektive Beziehung zur Realität, wodurch sie wahr oder falsch sein können. Tatsachenbehauptungen sind vom sachlichen Schutzbereich der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) erfasst, wenn sie geeignet sind, zur Meinungsbildung beizutragen.

2. Bei Os Behauptung, dass P Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi gewesen ist, handelt es sich um eine wahre Tatsachenbehauptung.

Nein, das trifft nicht zu!

Unter einer Tatsachenbehauptung versteht man jede Äußerung, die durch eine objektive Beziehung zur Realität gekennzeichnet ist, wodurch sie dem Beweis zugänglich ist. Sie kann wahr oder falsch sein. Ob P tatsächlich Mitarbeiter der Stasi war, ist dem historischen Beweis durch Akten und Dokumente zugänglich. Die Behauptung, dass P Mitarbeiter der Stasi war, ist folglich eine Tatsachenbehauptung und kann entweder falsch oder wahr sein. Nach dem Sachverhalt bestehen indes keine gesicherten Informationen. Insbesondere waren die für den Nachweis der Tätigkeit als IM oft maßgeblichen Stasi-Akten des P vernichtet worden.

3. Tatsachenbehauptungen, deren Wahrheitsgehalt nicht festgestellt werden kann, unterfallen dem Schutz der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG).

Ja!

Tatsachenbehauptungen, die weder dem Bereich eindeutig erwiesener noch eindeutig widerlegter Tatsachen zugeordnet werden können, genießen den Schutz der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG). Andernfalls bestünde in diesen Fällen die Befürchtung, dass die Funktion der Meinungsfreiheit, auch in ungeklärten Tatsachenverhältnissen eine Diskussion zu ermöglichen, nicht zur Geltung kommt. Insofern dürfen keine Anforderungen an eine Wahrheitspflicht gestellt werden, die die Bereitschaft zum Gebrauch der Meinungsfreiheit mindern.

4. Der sachliche Schutzbereich der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) ist für Os Behauptungen in seinem Beitrag über P eröffnet.

Genau, so ist das!

Tatsachenbehauptungen sind vom sachlichen Schutzbereich der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) erfasst, wenn sie geeignet sind, zur Meinungsbildung beizutragen. Sofern der Wahrheitsgehalt der behaupteten Tatsache unsicher ist, besteht der Schutz der Meinungsfreiheit. Die Behauptung, dass P ein IM der Stasi war, ist wegen der vernichteten Akten weder eindeutig beweisbar noch widerlegbar. Os Äußerungen tragen zur öffentlichen Meinungsbildung bei, indem sie eine Diskussion um die Vergangenheit des P anregen. Auf Ebene der Rechtfertigung ist für Äußerungen auf unsicherer Tatsachengrundlage eine erhöhte Sorgfaltspflicht des Äußernden in die Abwägung einzubeziehen.

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VI

Vivien

29.7.2021, 08:50:05

Hallo, Wenn der Wahrheitsgehalt einer Äußerung nicht eindeutig festgestellt werden kann, ist es doch auch keine Tatsachenbehauptung, oder? Die Äußerung des O wäre demnach ein reines subjektives Urteil und hätte mit einer Tatsachenbehauptung nichts zu tun. Vergleichbar mit der Aussage "Aliens sind kleine grüne Männchen" - eine Aussage, die nicht be- oder widerlegbar und damit keine Tatsachenbehauptung sondern eine Meinung ist. Habe ich einen Denkfehler? :) Vielen Dank und liebe Grüße

MW

MW

7.8.2021, 15:24:50

Für mich ist sowohl die Stasi Behauptung wie auch das mit den Aliens aus Sicht eines „Allwissenden“ mit „wahr“ oder „falsch“ zu beantworten. Nur, weil wir die Mittel dazu nicht haben, macht es die Sache ja nicht unbeweisbar. Zumindest würde ich so subsumieren.

Ira

Ira

10.8.2021, 11:49:23

also kann man pauschal sagen, dass Fragen die mit „wahr“ oder „unwahr“ beantwortet werden könnten – unabhängig davon, ob ein Nachweis erfolgen kann – Tatsachenbehauptungen darstellen?

Skywalker

Skywalker

25.11.2021, 21:39:15

Die Vorstellung eines "Allwissenden" oder einer hypothetisch Wahr - oder Unwahrheit eigenen sich, denke ich, eher nicht um eine Tatsachenbehautptung zu definieren. Wobei sie trotzdem anregend ist (ob es dem Allwissendem überhaupt möglich wäre eine Meinung zu haben???) Das jedenfalls hier von einer Tatsachenbehauptung ausgegangen wird, lässt sich aus dem Sachverhalt entnehmen. Heißt es doch dort, dass Stasi-Akten von P .... vernichtet worden waren. Der Indikativ macht hier deutlich, dass es diese Akten tatsächlich gegeben hat und macht als Beweis dadurch P's Stasi-Zugehörigkeit zur Tatsache.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

16.12.2021, 13:49:23

Hallo ihr Lieben, da die Meinungsfreiheit in einem weiten Umfang geschützt wird, fallen in erster Linie ersichtlich unwahre Tatsachenbehauptungen aus dem Anwendungsbereich. Dabei geht es also um die Frage, ob konkret Beweise dafür vorliegen, dass eine Aussage falsch ist. Dies ist der Fall, wenn der Äußerende die Unwahrheit kennt oder die Unwharheit erwiesen ist (Schemmer, in: BeckOK-GG, 49.Ed. 15.11.2021). Bei unklaren Verhältnissen ist die Aussage zwar durch die Meinungsfreiheit geschützt. Dennoch bleibt es eine (unklare) Tatsachenbehauptung, ungeachtet dessen, ob es nun bewiesen werden kann oder nicht. Denn im Grundsatz wäre es durchaus möglich durch Befragung von Zeugen, Sichtung der Akten... den Beweis dafür anzutreten, ob P Stasi-Mitarbeiter wahr oder nicht. Während es auf die Unterscheidung bei der Eröffnung des Schutzbereiches noch nicht ankommt (geschützt sind wahre & unklare Tatsachenbehauptungen, ebenso wie Meinungen), muss man die Unklarheit dann aber auf Ebene der Rechtfertigung ggfs. zulasten des Äußernden berücksichtigen (vgl. BVerfG NJW 1999, 13222). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


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