Verschuldensmodifikation 1 (Grundsätzliches)


mittel

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Onkel O schenkt seinem Neffen N einen alten Motorroller. Dabei übersieht O leicht fahrlässig, dass die Bremsen aufgrund der langen Standzeit nicht mehr funktionieren. Bei der ersten Fahrt hat N einen Unfall und verletzt sich. Der Roller bleibt unbeschädigt.

Einordnung des Falls

Verschuldensmodifikation 1 (Grundsätzliches)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. O hat eine Pflicht aus dem Schenkungsvertrag verletzt (§§ 516 Abs. 1, 280 Abs. 1 BGB).

Ja, in der Tat!

Den Schuldner treffen neben den Leistungspflichten auch Schutz- und Rücksichtnahmepflichten auf die sonstigen Rechte und Rechtsgüter des Gläubigers (§ 241 Abs. 2 BGB). N hat eine Verletzung seines Körpers durch die Schenkung des defekten Motorrollers erlitten. Damit hat O die Pflicht zum Schutz der sonstigen Rechtsgüter des N verletzt.

2. O hat diese Pflichtverletzung auch zu vertreten (§280 Abs. 1 Satz 2 BGB).

Nein!

Grundsätzlich hat der Schuldner Vorsatz und jede Art Fahrlässigkeit zu vertreten, soweit nichts anderes bestimmt ist (§ 276 Abs. 1 BGB). Im Falle der Schenkung kommt jedoch eine Haftungserleichterung (Privilegierung) in Betracht. Der Schenker hat nur Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten (§ 521 BGB). O hat den Defekt der Bremsen nur fahrlässig übersehen. Damit hat O die Pflichtverletzung nicht zu vertreten.

3. O hat durch die Schenkung des defekten Motorrollers kausal die Rechtsgüter des N verletzt (§ 823 Abs. 1 BGB).

Genau, so ist das!

N hat durch den Unfall eine Verletzung erlitten. Er wurde damit an seinem Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit geschädigt. Dies geschah auch kausal und zurechenbar durch die Schenkung des Motorrollers. Hätte O dem N nicht den defekten Roller übergeben, hätte dieser keinen Unfall gehabt und sich dabei verletzt. Dass man mit einem Roller mit defekten Bremsen verunglücken kann, liegt auch nicht außerhalb jeder Lebenserfahrung. Weiterhin unterfällt der Schutz der körperlichen Unversehrtheit dem Schutzzweck der Norm und ist damit zurechenbar.

4. Die Begriffe "Verschulden" und "Vertretenmüssen" sind identisch.

Nein, das trifft nicht zu!

Das Verschulden ist terminologisch vom Vertretenmüssen zu unterscheiden. Verschulden ist der Oberbegriff für die Schuldformen "Vorsatz" und "Fahrlässigkeit". Es beschreibt das objektiv pflichtwidrige und subjektiv vorwerfbare Verhalten einer Person. Vom Begriff des Vertretenmüssen ist dagegen zusätzlich zu Vorsatz und Fahrlässigkeit auch eine mildere oder strengere Haftung umfasst, soweit diese durch Gesetz oder Vertrag bestimmt ist (§ 276 Abs. 1 BGB). Damit stellt das Vertretenmüssen einen Überbegriff (Verschulden und Haftungsmodifikationen) dar.

5. O hat die kausale Rechtsgutsverletzung auch zu verschulden (§ 823 Abs. 1 BGB).

Nein!

Grundsätzlich hat der Schädiger im Deliktsrecht Vorsatz und Fahrlässigkeit zu verschulden (vgl. § 823 Abs. 1 BGB). Eine Haftungsmodifikation wie in § 276 Abs. 1 BGB ist dabei im Gesetz nicht angelegt. Dennoch wird von der h.M. eine Haftungsmodifikation aus dem Vertragsrecht in das Deliktsrecht übertragen, wenn diese ansonsten unterlaufen werden würde. Ohne eine Modifikation des Verschuldens würde O trotz der Privilegierung in § 521 BGB im Deliktsrecht bereits wegen leichter Fahrlässigkeit haften. Daher muss die Wertung des Vertragsrechts auch ins Deliktsrecht übertragen werden. Damit hat O die Rechtsgutsverletzung nicht zu verschulden.

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Jopies

Jopies

2.10.2021, 23:32:50

Ich verstehe euch an dieser Stelle nicht. Erst sagt ihr Verschulden und Vertretenmüssen sind unterschiedlich, weil beim Vertretenmüssen zum Verschulden noch Haftungsmodifikationen hinzukommen, das Verschulden davon aber unabhängig ist. Bei der nächsten Frage geht es dann darum ob ein Verschulden vorliegt. Eure Antwort lautet nein, weil die Haftungsmodifikation aus §521 greift. Ich glaube das ist widersprüchlich.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

3.10.2021, 20:34:35

Hallo Jopies, die Terminologie ist hier in der Tat etwas tricky. Wie auch schon im Fall beschrieben handelt es sich bei dem "Vertretenmüssen" iSd § 276 BGB zunächst einmal um den Oberbegriff, unter den folgende vier Elemente fallen: a) Vorsatz b) Fahrlässigkeit c) Fälle milderer Haftung (zB Verleiher haftet nur für Vorsatz + grobe Fahrlässigkeit, § 599 BGB) d) Fälle schwererer Haftung (zB Verantwortlichkeit während des Verzuges auch für bloßen Zufall, § 287) Verschulden iSd § 823 BGB dagegen beschränkt sich grundsätzlich auf die Elemente a) "Vorsatz" und b) "Fahrlässigkeit". Soviel zunächst einmal zum Grundsatz. Das bedeutet also, dass man zB im Falle des Verzuges einen Schaden "zu vertreten" hat, obwohl der Schaden rein zufällig entstanden ist und man ihn nicht "verschuldet" hat - also weder vorsätzlich, noch fahrlässig den Schaden herbeigeführt hat. Eine deliktische Haftung würde in diesem Fall dagegen mangels Verschulden ausscheiden. In der vertraglichen Sonderbeziehung kann also die Haftung deutlich verschärft sein im Vergleich zur deliktischen Haftung. Umgekehrt hält man es dagegen für wertungswidersprüchlich, wenn im Rahmen der vertraglichen Sonderbeziehung eine Haftungsmilderung besteht, die dann aber nicht zum Tragen kommt, weil der Geschädigte einfach einen deliktischen Anspruch geltend macht. Aus diesem Grund wendet man zB die Haftungsmilderung des § 521 BGB auch im Deliktsrecht an. Terminologisch bleibt es aber dann dabei, dass im Grundsatz der Schaden "verschuldet" war (also einfache Fahrlässigkeit vorlag), aber der Anspruch im Ergebnis aufgrund der Haftungsmodifikation versagt wird. Das Ergebnis wird also nachträglich korrigiert. So etwas klarer? Beste Grüße Lukas - für das Jurafuchs-Team

Jopies

Jopies

10.10.2021, 17:48:40

Ich glaube ich habe jetzt ungefähr verstanden was ihr wollt aber davon ergibt sich null aus den Aufgaben oder den Antwortbegründungen. Diese bleiben sehr verwirrend.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

10.10.2021, 19:03:43

Danke Jopies! Wenn es für Dich jetzt etwas klarer ist, dann ist das schon mal super. Wir haben die Aufgabe nun trotzdem noch einmal überarbeitet, um die Unterscheidung etwas klarer zu machen :). Letztlich handelt es sich schlicht um eine Wertungsfrage, dass trotz Fahrlässigkeit ein Verschulden von der hM abgelehnt wird. Rein terminologisch ist das aber tatsächlich widersprüchlich. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

EVA

evanici

11.9.2023, 15:53:49

Ich glaube, der Hinweis in Deiner ersten Antwort, dass das insbesondere in eine Richtung funktioniert, ist sehr erhellend! Also dass bei Wertungswidersprüchen zum Vertragsrecht der Verschuldensmaßstab entsprechend teleologisch reduziert bzw. angeglichen wird, umgekehrt aber vertraglich mehr zu vertreten sein kann als man deliktisch zu verschulden hat...

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

11.9.2023, 18:23:26

Das freut mich zu hören!

Im🍑nderabilie

Im🍑nderabilie

14.6.2022, 12:17:31

Noch eine Frage dazu: Werden dann ausschließlich die milderen Haftungsmodifikationen übertragen, oder auch die strengeren? Danke!

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

16.6.2022, 13:54:24

Hallo Imonderabilie, lediglich Haftungserleicherungen (Beschränkung auf grobe Fahrlässigkeit/eigenübliche Sorgfalt) werden übertragen, damit die vertraglichen Vereinbarungen nicht durch die gesetzlichen Ansprüche unterlaufen werden. Bei Haftungsverschärfungen ist dies indes nicht notwendig. Einer Übertragung von Haftungsverschärfungen wird hier dagegen nicht vorgenommen. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-team


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