+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Eine Streifenwagenbesatzung will T einer Verkehrskontrolle unterziehen. T beschleunigt seinen Pkw, um die Polizei abzuhängen. Er fährt 145 km/h (statt der erlaubten 50 km/h), überfährt eine rote Ampel und schneidet mehrere Kurven. Die Polizeibeamten geben die Verfolgung auf.
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Einordnung des Falls
Das OLG Stuttgart hat entschieden, dass Fälle von sog. „Polizeiflucht" auch unter den neuen Straftatbestand des „illegalen Autorennens" gem. § 315d StGB fallen können. Das Gericht stellte fest, dass eine Differenzierung nach Motiven absurd wäre. Der Angeklagte war vor einer Polizeistreife geflohen, fuhr dabei über rote Ampeln und überschritt die Geschwindigkeitsbegrenzung um bis zu 110 km/h. Hier sei die Absicht, die höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen gegeben. Die risikobezogene Vergleichbarkeit mit sportlichen Wettkämpfen sei offensichtlich, auch wenn das Ziel des Wettbewerbs erfolgreiche Flucht statt bloßem Sieg sei.
Dieser Fall lief bereits im 1./2. Juristischen Staatsexamen in folgenden Kampagnen
Examenstreffer Berlin/Brandenburg 2022
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Ist der objektive Tatbestand des verbotenen Kraftfahrzeugrennens aus § 315d Abs. 1 StGB erfüllt, wenn der Täter eine der in Abs. 1 Nr. 1-3 genannten Tathandlungen vornimmt?
Ja, in der Tat!
§ 315d StGB stellt verbotene Kraftfahrzeugrennen im öffentlichen Straßenverkehr unter Strafe. Die Norm schützt neben der Sicherheit des Straßenverkehrs auch Leib, Leben und Eigentum. Das Grunddelikt in § 315d Abs. 1 StGB ist ein abstraktes Gefährdungsdelikt in Form eines schlichten Tätigkeitsdeliktes. Der objektive Tatbestand des § 315d Abs. 1 StGB ist erfüllt, wenn der Täter im Straßenverkehr ein nicht erlaubtes Kraftfahrzeugrennen ausrichtet oder durchführt (Nr. 1) bzw. daran als Kraftfahrzeugführer teilnimmt (Nr. 2) oder sich als Kraftfahrzeugführer mit nicht angepasster Geschwindigkeit und grob verkehrswidrig fortbewegt (Nr. 3).
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2. Hat T den objektiven Tatbestand des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB verwirklicht, indem er mit 145 km/h vor der Polizei flüchtete?
Ja!
T hat sich als Kfz-Führer im Straßenverkehr fortbewegt. Dies müsste mit nicht angepasster Geschwindigkeit geschehen sein. Nicht angepasst ist eine Geschwindigkeit, die eine Geschwindigkeitsbegrenzung verletzt oder der konkreten Verkehrssituation zuwiderläuft (vgl. auch § 3 Abs. 1 StVO). Die grobe Verkehrswidrigkeit ist bei einem besonders schweren Verstoß gegen Verkehrsregeln gegeben. Da ein solcher insbesondere bei der doppelten Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit anzunehmen ist und T 145 km/h (statt der erlaubten 50 km/h) fuhr, hat er sich mit nicht angepasster Geschwindigkeit grob verkehrswidrig fortbewegt.
3. Setzt der subjektive Tatbestand des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB Vorsatz, Rücksichtslosigkeit und die Absicht, eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen, voraus?
Genau, so ist das!
T handelte vorsätzlich, also mit Wissen und Wollen der den objektiven Tatbestand verwirklichenden Umstände. Im Fall einer Vorsatztat handelt rücksichtslos, wer sich aus eigensüchtigen Gründen über die Belange der anderen Verkehrsteilnehmer hinwegsetzt. T handelte allein, um sich dem ihm folgenden Polizeiwagen zu entziehen, mithin rücksichtslos. Ferner ist eine überschießende Innentendenz erforderlich, nämlich das Anliegen, eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen. Fraglich und im Einzelnen umstritten ist, (1) wie der Begriff „höchstmöglich" auszulegen ist, und (2) wie genau die „Intention" beschaffen sein muss.
4. Ist nach dem LG Stade auf die „absolute Höchstgeschwindigkeit" des Fahrzeugs abzustellen?
Ja, in der Tat!
Die Absicht, eine „höchstmögliche Geschwindigkeit“ zu erreichen, soll insbesondere dem Erfordernis des Renncharakters gerecht werden. Diesen Renncharakter sieht das LG Stade erst als gegeben an, wenn der Fahrer sein Fahrzeug bis an die technischen und physikalischen Grenzen ausfährt. Da dies allenfalls in Extremsituationen denkbar ist, führt dieses Verständnis aber zu einem Leerlaufen der Norm. Im Übrigen deutet das LG Stade hier eine subjektive Tatbestandsvoraussetzung in eine objektive um. Deshalb ist nach ganz h.M. gerade nicht erforderlich, dass der Täter tatsächlich mit der fahrzeugspezifisch höchstmöglichen Geschwindigkeit gefahren ist.
5. Ist nach ganz h.M. auf die „relative Höchstgeschwindigkeit" des Fahrzeugs abzustellen?
Ja!
Nach ganz h.M. muss der Fahrer sein Kfz nicht voll ausreizen. Vielmehr komme es - in Übereinstimmung mit der Gesetzesformulierung - auf die relativ mögliche Höchstgeschwindigkeit an. Der Täter muss demnach mit seiner Fahrweise darauf abzielen, abhängig von der jeweiligen Verkehrssituation (Witterung, Verkehrsdichte, Wegführung), seinen Fahrkünsten und der Fahrzeugbeschaffenheit möglichst schnell voranzukommen. Dass es T darauf ankam, sich mit möglichst hohem Tempo fortzubewegen, wird vor allem durch sein Fahrverhalten (wie Kurvenschneiden) dokumentiert. Problematisch ist jedoch, ob sein primäres Fluchtziel dem Absichtsmerkmal entgegensteht.
6. Muss nach einer (starken) Ansicht die angestrebte höchstmögliche Geschwindigkeit das einzige oder zumindest vorrangige Ziel sein („Rasen um des Rasens willen“)?
Genau, so ist das!
Einigkeit besteht darüber, dass unter der Wendung „um [...] zu" dolus directus I zu verstehen ist. Strittig ist aber, ob dass Erreichen einer höchstmöglichen Geschwindigkeit auch Haupt- oder Alleinbeweggrund des Handelns sein muss. Da der Gesetzgeber mit der Nr. 3 besonders das Nachstellen eines Rennens erfassen wollte, wird vielfach vertreten, die Erzielung der möglichst hohen Geschwindigkeit müsse das Hauptziel des Täters sein. Folglich genügt hiernach ein möglichst schnelles Vorankommen bei der Polizeiflucht dem Absichtsmerkmal nicht, denn der zielgerichtete Wille, so schnell wie möglich zu rasen, ist dann nur ein notwendiges Zwischenziel.
7. Genügt es nach h.M. in Rspr. und Lit., dass der Täter vor einem ihn verfolgenden Polizeifahrzeug fliehen will („Raserabsicht“ als Zwischenziel)?
Ja, in der Tat!
Der h.M. genügt es, wenn der Täter die höchstmögliche Geschwindigkeit erzielen will, um ein weiterreichendes Ziel zu verwirklichen. Die Gegenansicht finde weder im Wortlaut noch in der Gesetzesbegründung eine Stütze. Vielmehr manifestiere sich gerade in der fluchtbedingten Konkurrenzsituation mit der Polizei der Rennersatzcharakter samt sämtlicher einhergehender Risikofaktoren. Hiernach schließt die Absicht des T, vor der Polizei zu fliehen (Endziel), nicht die Absicht aus, eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen (Zwischenziel). Da T auch rechtswidrig und schuldhaft handelte, ist er strafbar wegen § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB.
Dieser Auffassung hat sich auch der BGH (Urt. v. 17.2.3021 - 4 StR 225/20) angeschlossen.