Deliktisches Minus auf Ebene der Tatbestandsmäßigkeit 2 – Das vorsatzlos handelnde Werkzeug


+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs
Tags
Lernplan SR Kleiner Schein (100%)
Lernplan SR Kleiner Schein (80%)
Lernplan Strafrecht AT (100%)
Lernplan Strafrecht AT (80%)
Lernplan Examen - alle (100%)

Dr. T überreicht der gutgläubigen Krankenschwester K eine Spritze, die angeblich ein harmloses Schmerzmittel enthält. T weist K an, dieses dem Patienten P zu injizieren. Tatsächlich ist die Spritze mit tödlichem Gift gefüllt. P verstirbt.

Einordnung des Falls

Deliktisches Minus auf Ebene der Tatbestandsmäßigkeit 2 – Das vorsatzlos handelnde Werkzeug

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. K hat sich wegen Totschlags (§ 212 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht, indem sie P die Spritze injizierte.

Diese Rechtsfrage lösen [...Wird geladen] der Jurist:innen in Studium und Referendariat richtig.

...Wird geladen

Nein, das ist nicht der Fall!

K erfüllt zwar den objektiven Tatbestand des § 212 Abs. 1 StGB. Sie kannte jedoch den Tatumstand nicht, dass die Spritze ein tödliches Gift beinhaltete, an dem P sterben würde. Aufgrund dieses Tatbestandsirrtums handelte K nicht vorsätzlich (§ 16 Abs. 1 S. 1 StGB). Für eine fahrlässige Tötung (§ 222 StGB) enthält der Sachverhalt keine Anhaltspunkte.

2. T hat den objektiven Tatbestand des Totschlags an P erfüllt (§ 212 Abs. 1 StGB).

Diese Rechtsfrage lösen [...Wird geladen] der Jurist:innen in Studium und Referendariat richtig.

...Wird geladen

Nein, das trifft nicht zu!

Täter ist zunächst, „wer die Straftat selbst“ begeht (sog. Alleintäterschaft, § 25 Abs. 1 Var. 1 StGB). Täter kann aber auch sein, wer die Straftat „durch einen anderen“ begeht (sog. mittelbare Täterschaft, § 25 Abs. 1 Var. 2 StGB). Der mittelbare Täter verwirklicht die Tatbestandsmerkmale nicht eigenhändig, sondern bedient sich als „Hintermann“ eines „Werkzeugs“, das auch als „Vordermann“ bzw. „Tatmittler“ bezeichnet wird. Voraussetzung ist, dass die Tathandlung des „Vordermannes“ dem Hintermann zugerechnet werden kann.Relevante Tötungshandlung ist hier das Injizieren der Spritze mit dem tödlichen Gift. Diese Handlung führte jedoch nicht T selbst, sondern die K aus. Somit kommt allenfalls mittelbare Täterschaft in Betracht.

3. Voraussetzungen für eine Zurechnung der Handlung (§ 25 Abs. 1 Var. 2 StGB) sind (1) ein eigener Verursachungsbeitrag des Hintermannes, (2) eine unterlegene Stellung des Vordermannes und (3) eine überlegene Stellung des Hintermannes.

Diese Rechtsfrage lösen [...Wird geladen] der Jurist:innen in Studium und Referendariat richtig.

...Wird geladen

Ja!

Eine Tat „durch einen anderen“ begeht, wer die Tatbestandsverwirklichung durch tatbeherrschende Steuerung des Vordermannes zurechenbar verursacht . (1) Der Verursachungsbeitrag des Hintermannes ist die Einwirkungshandlung auf den Vordermann. (2) Die unterlegene Stellung des Vordermanns ergibt sich grundsätzlich aus dem Strafbarkeitsmangel (Ausnahme: Sonderfälle des „Täters hinter dem Täter“). Der Vordermann weist auf einer der drei Ebenen ein sog. deliktisches Minus auf, er ist nicht strafbar. (3) Die überlegene Stellung des Hintermannes setzt nach der Tatherrschaftslehre die Tatherrschaft über das Gesamtgeschehen, nach der subjektiven Lehre einen Täterwillen voraus.

4. T hat auf K unmittelbar eingewirkt, so dass K dem P Gift injizierte (Verursachungsbeitrag, § 25 Abs. 1 Var. 2 StGB).

Diese Rechtsfrage lösen [...Wird geladen] der Jurist:innen in Studium und Referendariat richtig.

...Wird geladen

Genau, so ist das!

Indem T der K die Spritze mit dem tödlichen Gift übergab und sie anwies, dem P diese zu injizieren, wirkte er unmittelbar auf sie ein.

5. K wies ein deliktisches Minus auf (unterlegene Stellung des Vordermannes, § 25 Abs. 1 Var. 2 StGB).

Diese Rechtsfrage lösen [...Wird geladen] der Jurist:innen in Studium und Referendariat richtig.

...Wird geladen

Ja, in der Tat!

Mittelbare Täterschaft setzt weiter voraus, dass beim Vordermann auf der Tatbestands-, Rechtswidrigkeits- oder Schuldebene ein Strafbarkeitsmangel vorliegt, der seine Strafbarkeit ausschließt. Für das deliktische Minus auf der Ebene des subjektiven Tatbestandes ist typisch, dass der Hintermann beim Vordermann einen Tatbestandsirrtum (§ 16 Abs. 1 StGB) hervorruft und diesen für seine Ziele ausnutzt.K unterlag einem solchen Tatbestandsirrtum und handelte vorsatzlos.

6. T wollte die Tat als eigene (Täterwille nach der subjektiven Lehre der Rspr.).

Diese Rechtsfrage lösen [...Wird geladen] der Jurist:innen in Studium und Referendariat richtig.

...Wird geladen

Ja!

Nach der subjektiven Lehre (animus-Theorie) wird bei der Abgrenzung an die Willensrichtung und an die innere Einstellung der Beteiligten zur Tat angeknüpft. Täter ist danach, wer mit Täterwillen (animus auctoris) handelt und die Tat als eigene will. Teilnehmer ist, wer mit Teilnehmerwillen (animus socii) handelt und die Tat als fremde veranlassen oder fördern will.T hatte ein eigenes Interesse an dem Tod des P und weist somit auch nach der subjektiven Lehre eine überlegene Stellung auf.

7. T hat sich wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft (§§ 212 Abs. 1, 25 Abs. 1 Var. 2 StGB) strafbar gemacht.

Diese Rechtsfrage lösen [...Wird geladen] der Jurist:innen in Studium und Referendariat richtig.

...Wird geladen

Genau, so ist das!

T handelte mit Tötungsvorsatz sowie in Kenntnis der die Irrtumsherrschaft begründenden Umstände. Er erfüllt somit auch den subjektiven Tatbestand. Weiterhin handelte er auch rechtswidrig und schuldhaft, sodass er sich wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft (§§ 212 Abs. 1, 25 Abs. 1 Var. 2) strafbar gemacht hat.

8. T hatte Tatherrschaft (nach der Tatherrschaftslehre der Literatur).

Diese Rechtsfrage lösen [...Wird geladen] der Jurist:innen in Studium und Referendariat richtig.

...Wird geladen

Genau, so ist das!

Die Tatherrschaft des mittelbaren Täters gründet sich darauf, dass er den Vordermann durch Täuschung oder Zwang beherrscht, indem er den Strafbarkeitsmangel für seine Zwecke planvoll lenkend ausnutzt und auf diese Weise die Tatbestandsverwirklichung in den Händen hält.T rief in der K einen Irrtum über die giftige Wirkung der Spritze hervor und löste mit Hilfe dieses Irrtums bewusst und gewollt das Geschehen aus, das zu dem Tod des P führen sollte. T durchschaut die Zusammenhänge und hatte folglich Irrtumsherrschaft (mittelbare Täterschaft kraft überlegenen Wissens).

Jurafuchs kostenlos testen


EDA

Eda

24.4.2020, 17:24:41

Könnte man beim Fall mit der Spritze nicht auch argumentieren, dass wenn T sicher wusste, dass K die Spritze dem P verabreichen wird, wenn er sie ihr gibt, dass er dann die maßgebliche Tathandlung ausführte indem er ihr die Spritze übergibt?

SNEU

Stefan Thomas Neuhöfer

24.4.2020, 20:11:30

Nein. Denn die „Tat“ iSd § 25 Abs. 1 StGB ist eng mit dem unmittelbaren Ansetzen (§ 22 StGB) verknüpft und bezieht sich auf die Handlung, die gewissermaßen unmittelbar in die Tatbestandsverwirklichung einmünden soll. Viele Grüße Stefan

🦊LEXD

🦊LEXDEROGANS

25.4.2020, 23:54:06

@ Eda, interessant wird die Übergabe der Spritze aber, wenn es um das unmittelbare Ansetzen zum Tötungsversuch in mittelbarer Täterschaft geht. Z. T. wird dort das „aus der (Hintermann)Hand lassen“ als ausreichend angesehen.

LAR

Lars

17.5.2020, 14:07:24

Die Frage ist grammatisch so konfus formuliert, dass sich ihr Sinngehalt wohl nur höheren Lebensformen erschließt.

Rüsselrecht 🐘

Rüsselrecht 🐘

7.9.2021, 13:57:22

In „Strafrecht Allgemeiner Teil“ von Satzger/Wessels/Beulke (49. Auflage, RdN 860) wird die mittelbare Täterschaft von T abgelehnt und auf versuchte Anstiftung zum Mord abgestellt. Als Begründung wird der fehlende Vorsatz des T hinsichtlich der objektiven Werkzeugeigenschaft der vorsatzlos handelnden K angeführt. Ich frage mich nun, wo kommt dieser Vorsatz her? Das deliktische Minus ist doch Teil der Definition der mittelbaren Täterschaft und es sollte egal sein, welches Defizit ein Tatmittler aufweist? Mir ist nicht klar, warum der Hintermann hier einen Vorsatz auf die Eigenschaften des Werkzeuges entwickeln muss.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

9.12.2021, 11:19:31

Hallo Rüsselrecht, richtig ist, dass eine mittelbare Täterschaft ein Defizit beim Tatmittler voraussetzt. Subjektiv muss der mittelbare Täter dieses Defizit aber auch kennen und ausnutzen wollen. Er muss insoweit also vorsätzlich handeln. Mir liegt leider nur die 50. Auflage vor, aber ich vermute Du beziehst Dich auf das Beispiel, in dem der Arzt von einem vorsätzlichen Handeln der Krankenschwester ausgeht, in Wirklichkeit diese aber ohne Vorsatz handelt. Hier fehlt es gerade an dem Vorsatz des Arztes ein Defizit des Vordermanns auszunuten. Da es für die Anstiftung an einer vorsätzlichen, rechtswidrigen Haupttat der K fehlt, bliebe dann noch die versuchte Anstiftung zum Mord. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

frausummer

frausummer

17.1.2022, 13:56:10

Wir haben vor kurzem im Uni Rep gesagt bekommen, dass wir tunlichst die Abgrenzung der Tatherrschaft nach animus socii und auctorius unterlassen sollen, da das völlig überholt sei und niemand mehr vertreten würde. Im Rengier steht es auch noch. Ich bin verwirrt😅

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

17.1.2022, 18:52:05

Hallo frausummer, die Rechtsprechung vertritt nach wie vor die Auffassung, dass es für die Täterschaft darauf ankomme, dass der Täter die Tat als eigene will (vgl. BGH, NJW 2009, 3488; NStZ 2008, 273). Allerdings ist der Hinweis durchaus richtig, dass es sich hierbei eigentlich nur um einen Programmsatz handelt. Denn nachgeschoben wird dann jeweils, dass dies unter "wertender Betrachtung" zu ermitteln sei. Hierbei seien dann verschiedene Anhaltspunkte maßgeblich (Grad des eigenen INteresses am Erfolg, Umfang der Tatbeteiligung, die Tatherrschaft, Wille zur Tatherrschaft). Insofern hat sich die Rechtsprechung der Literatur hier weitgehend angenähert - ohne jedoch ganz auf ihr Label animus auctorius/animus socii zu verzichen. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


© Jurafuchs 2024