Zivilrecht

Examensrelevante Rechtsprechung ZR

Entscheidungen von 2021

Gestörte Gesamtschuld und das Familienprivileg

Gestörte Gesamtschuld und das Familienprivileg

23. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Bei einem Autounfall im Jahre 2020 wird S verletzt. Fahrerin war seine Mutter M, Halterin seine Oma O. M, mit der S in häuslicher Gemeinschaft lebt, hatte den Unfall allein verursacht. Die Krankenversicherung K des S, die Leistungen erbracht hatte, will den Kfz-Haftpflichtversicherer V in Anspruch nehmen.

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Einordnung des Falls

Gestörte Gesamtschuld und das Familienprivileg

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 12 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. S steht ein Schadensersatzanspruch gegen O zu (§ 7 Abs. 1 StVG).

Genau, so ist das!

§ 7 Abs. 1 StVG setzt voraus: (1) Rechtsgutsverletzung, (2) Betrieb eines Kfz, (3) Haltereigenschaft des Anspruchsgegners, (4) Kausalität zwischen Betrieb und Verletzung, (5) Kein Ausschluss (§§ 7 Abs. 2, Abs. 3, 8, 15 S. 1 StVG). Die Körperverletzungen des S stellen Rechtsgutsverletzungen dar, die bei Betrieb des Kfz entstanden sind. O ist auch Halterin, sodass S gegen O ein Anspruch aus § 7 Abs. 1 StVG zusteht. § 7 Abs. 1 StVG regelt eine Gefährdungshaftung des Halters, setzt also - anders als die Haftung des Fahrzeugführers (§ 18 StVG) oder deliktische Ansprüche (§§ 823 ff. BGB) - kein Verschulden voraus.
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2. S steht weiter ein Schadensersatzanspruch gegen M zu (§§ 18 Abs. 1 StVG; 823 Abs. 1 BGB).

Ja, in der Tat!

§ 18 Abs. 1 StVG setzt voraus: (1) Fall des § 7 Abs. 1 StVG, (2) Anspruchsgegner ist Führer des Kraftfahrzeugs, (3) Keine Exkulpation (§ 18 Abs. 1 S. 2 StVG). S steht aus § 7 Abs. 1 StVG ein Anspruch gegen O zu. M kontrollierte die Bewegung und Richtung des Fahrzeugs und war somit Führerin. Die Widerlegung der Verschuldensvermutung gelingt M nicht. Daneben besteht ein Anspruch des S gegen M aus §§ 823 Abs. 1 BGB; 823 Abs. 2 BGB, 1 Abs. 2 StVO. Das Haftungsprivileg des § 1664 Abs. 1 BGB findet im Straßenverkehr keine Anwendung. Denn der Straßenverkehr lässt keinen Raum für eigenübliche Sorglosigkeit.

3. O und M haften ggü. S als Gesamtschuldner, wobei M im Innenverhältnis zu O für die gesamten Unfallfolgen allein einzustehen hat.

Ja!

Sind für den aus einer unerlaubten Handlung entstehenden Schaden mehrere nebeneinander verantwortlich, so haften diese als Gesamtschuldner (§ 840 Abs. 1 BGB). Der Innenausgleich zwischen den Geasmtschuldnern erfolgt nach § 426 BGB. Im Verhältnis zwischen Verschuldens- (§ 18 Abs. 1 StVG) und Gefährdungshaftung (§ 7 Abs. 1 StVG) hat der Fahrer den Schaden zu tragen (§ 840 Abs. 2 BGB analog). O und M haften S beide aus unerlaubter Handlung (s.o.). Im Innenverhältnis zwischen O und M trägt M dagegen den Schaden allein (§§ 426 Abs. 1, 840 Abs. 2 BGB analog).

4. S kann ausschließlich O und M wegen Schadensersatz in Anspruch nehmen.

Nein, das ist nicht der Fall!

Gem. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG kann der Dritte seinen gegen den Schädiger bestehenden Schadensersatzanspruch direkt gegen die Haftpflichtversicherung geltend machen, wenn es um die Erfüllung einer Versicherungspflicht nach dem PflVG handelt. Für den Fahrer sowie für den Halter eines Kraftfahrzeugs besteht eine Versicherungspflicht (§ 1 S. 1 PflVG). Gegen die Halterin O sowie gegen die Schädigerin M besteht ein Anspruch (§ 7 Abs. 1 und § 18 Abs. 1 StVG). S hat daher einen Direktanspruch gegen die Haftpflichtversicherungen von O und M.

5. Dieser Direktanspruch gegen die Haftpflichtversicherung (§ 115 Abs. 1 VVG) ist akzessorisch zum jeweiligen Haftpflichtanspruch.

Ja, in der Tat!

Der Direktanspruch (§ 115 Abs. 1 VVG) dient der Sicherung der Forderung des Verletzten. Er hat ggü. dem Schadensersatzanspruch gegen den Versicherungsnehmer keine selbständige Bedeutung, sondern ist insoweit akzessorisch. Besteht kein Haftpflichtanspruch, dann besteht auch kein Direktanspruch. Dies zeigt bereits der Wortlaut von § 115 Abs. 1 VVG: „auch".

6. Da die Krankenkasse im Jahr 2020 die Behandlungskosten von S übernommen hat, kann K von M Ersatz der Behandlungskosten verlangen (§§ 116 Abs. 1 S. 1, Abs. 6 S. 1 SGB X).

Nein!

Ein Schadensersatzanspruch geht unter den Voraussetzungen des § 116 Abs. 1 SGB X auf den Versicherungsträger über. Dies ist eine Legalzession, auf die die §§ 399ff. BGB Anwendung finden, § 412 BGB. Allerdings kann der übergegangene Anspruch nicht geltend gemacht werden, wenn es sich um einen Anspruch aus einer nicht vorsätzlichen Schädigung durch in häuslicher Gemeinschaft mit dem Geschädigten lebende Familienangehörige handelt (§ 116 Abs. 6 S. 1 SGB X.). Sinn ist die Wahrung des Familienfriedens. Da M und S in häuslicher Gemeinschaft gelebt haben und die Schädigung nicht vorsätzlich erfolgt ist, ist der Anspruch des S gegen M zwar auf K übergegangen (§ 116 Abs. 1 SGB X), kann aber von dieser nicht geltend gemacht werden (§ 116 Abs. 1 S. 1 SGB X). Nach § 116 Abs. 6 S. 3 SGB X n.F. (seit 01.01.2021) gilt diese Privilegierung bei Schädigungen im Straßenverkehr fortan nicht mehr.

7. Daher konnte nach damaliger Rechtslage auch der Anspruch des S gegen Ms Haftpflichtversicherung (§ 115 Abs. 1 VVG) nicht geltend gemacht werden (§ 116 Abs. 1, Abs. 6 S. 1 SGB X).

Genau, so ist das!

Nach st. Rspr. des BGH griff das Familienprivileg (§ 116 Abs. 6 SGB X a.F.) auch zugunsten des Haftpflichtversicherers ein. Zwar bestehe keine Gefährdung des Familienfriedens, wenn nicht der schädigende Angehörige sondern dessen Haftpflichtversicherung in Anspruch genommen werde. Einer dies berücksichtigenden teleologischen Auslegung stünde aber die Akzessorietät des Direktanspruchs (§ 115 Abs. 1 VVG) entgegen. Dieser müsse nach dem Gesetz das Schicksal des Haftpflichtanspruchs gegen M teilen (RdNr. 14).Nach § 116 Abs. 6 S. 3 SGB X n.F. (seit 01.01.2021) gilt diese Privilegierung bei Schädigungen im Straßenverkehr fortan nicht mehr.

8. Sind die Ansprüche des S gegen O (§ 7 Abs. 1 StVG) und gegen Os Haftpflichtversicherung (§ 115 Abs. 1 VVG) auf K übergegangen (§ 116 Abs. 1 SGB X)?

Ja, in der Tat!

Ein Schadensersatzanspruch geht unter den Voraussetzungen des § 116 Abs. 1 SGB X kraft Gesetzes auf den Versicherungsträger über. Unerheblich ist, ob es weitere Schädiger gibt, denen gegenüber der Forderungsübergang nach § 116 Abs. 6 SGB X ausgeschlossen ist. Die Forderung des S gegen O ist damit ebenso wie der Direktanspruch gegen Os Haftpflichtversicherung auf K übergegangen (§ 116 Abs. 1 SGB X). Der Anspruch kann auch geltend gemacht werden. § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X a.F. steht dem nicht entgegen, da S mit O nicht in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat.

9. Allerdings kann die Inanspruchnahme eines Gesamtschuldners nach den Grundsätzen der gestörten Gesamtschuld beschränkt sein.

Ja!

Gerecht ist die hundertprozentige Inanspruchnahme eines Gesamtschuldners nur, wenn diesem ein dem Mitverschuldensumfang entsprechender Regressanspruch gegen den Zweitschädiger zusteht (§ 426 BGB). Ist eine diesen Regress ermöglichende Gesamtschuld in ihrer Entstehung durch ein Haftungsprivileg zugunsten des Zweitschädigers gestört, so stellt sich die Frage, zu wessen Lasten diese Regressbehinderung geht. Die Rspr. differenziert hier oft danach, ob eine vertragliche oder gesetzliche Haftungsprivilegierung vorliegt.

10. Nach den Grundsätzen der gestörten Gesamtschuld wäre daher eine Inanspruchnahme der O durch K (§§ 7 Abs. 1 StVG, 116 Abs. 1 SGB X) ausgeschlossen.

Genau, so ist das!

Da der Anspruch des S gegen M und deren Haftpflichtversicherung nicht von K geltend gemacht werden kann (§ 116 Abs. 6 SGB X a.F.), sind O und M ggü. K keine Gesamtschuldner. Damit ist die Schadensverteilung nach § 426 BGB durch ein Haftungsprivileg gestört. Dies löst die Rspr. vorliegend zulasten der Geschädigten K, die O nur in dem Umfang in Anspruch nehmen könne, der ohne die Privilegierung von ihr im Innenverhältnis zu M zu tragen wäre (hier also €0). Dafür spreche einerseits, dass § 116 Abs. 6 SGB X a.F. nicht durch einen Regress bei M aufgrund fingierten Gesamtschuldverhältnisses unterlaufen werden solle; andererseits sei es ungerecht, die O den Schaden allein tragen zu lassen. Eine Klage der K gegen O wäre daher vollständig abzuweisen (RdNr. 17ff.).

11. Aufgrund der Akzessorietät des Direktanspruchs kann K damit grundsätzlich auch ggü. der Haftpflichtversicherung der O keinen Anspruch geltend machen (§§ 115 Abs. 1 VVG, 116 Abs. 1 SGB X).

Ja, in der Tat!

Der Direktanspruch (§ 115 Abs. 1 VVG) dient der Sicherung der Forderung des Verletzten. Er hat ggü. dem Schadensersatzanspruch gegen den Versicherungsnehmer keine selbständige Bedeutung, ist also ein akzessorisches Recht. Da eine Klage der K gegen O nach den Grundsätzen der gestörten Gesamtschuld abzuweisen wäre, gilt dies auch für den akzessorischen Direktanspruch gegen die Haftpflichtversicherung der O.

12. Etwas anderes ergibt sich hier aber aus der Vorschrift des § 116 Abs. 1 VVG.

Nein!

§ 116 Abs. 1 VVG regelt das Innenverhältnis von Haftpflichtversicherung und Versicherungsnehmer. Vorliegend folgt daraus, dass die Haftpflichtversicherung im Innenverhältnis zu O allein verpflichtet wäre. Damit ist eine Belastung der O gar nicht zu besorgen, was für einen Anspruch der K gegen O sprechen könnte. Nach dem BGH werde allerdings über die Grundsätze der gestörten Gesamtschuld die Haftung im Außenverhältnis bestimmt. Die Frage nach der Verteilung im Innenverhältnis stelle sich erst in einem zweiten Schritt. Es bestehe kein Grund, eine Haftung der O nur deshalb anzunehmen, weil sie haftpflichtversichert sei (RdNr. 22f.).
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