Strafrecht

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Bayrisches Oberlandesgericht entscheidet: Containern strafbar?

Bayrisches Oberlandesgericht entscheidet: Containern strafbar?

13. Mai 2023

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration: A wühlt in einem Supermarktcontainer nach weggeworfenem Essen.

Supermarktbetreiber S stellt einen verschlossenen Container auf seinem Gelände auf. Dort wirft er alle nicht mehr verkäuflichen Lebensmittel hinein und lässt sie dann vom Entsorgungsunternehmen abholen. A bricht den Container auf, entnimmt einige Lebensmittel und nimmt sie mit nach Hause.

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Einordnung des Falls

Das Bayerische Oberlandesgericht bestätigte die Verurteilung von zwei Studentinnen wegen Diebstahls, nachdem sie weggeworfenes Essen aus einem verschlossenen Supermarktcontainer genommen hatten („Containern“). Zwar seien die Lebensmittel ausgesondert worden, um sie entsorgen zu lassen. Dadurch habe der Supermarkt das Eigentum aber nicht aufgegeben. Die Supermärkte hätten nämlich kein Interesse daran, für die gesundheitliche Unbedenklichkeit zu haften. Damit sind weggeworfene Lebensmittel mit Kleiderspenden oder Sperrmüll gleichzusetzen. In solchen Fällen sollen die Sachen einer weiteren Verwendung zugeführt werden.

Dieser Fall lief bereits im 1./2. Juristischen Staatsexamen in folgenden Kampagnen
Examenstreffer BaWü 2023

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Macht sich strafbar (Diebstahl, § 242 Abs. 1 StGB), wer einem anderen eine fremde, bewegliche Sache wegnimmt, um sie sich rechtswidrig zuzueignen?

Ja, in der Tat!

Diebstahl (§ 242 Abs. 1 StGB) setzt voraus, dass jemand einem anderen eine (1) fremde, (2) bewegliche Sache (3) wegnimmt , um sie (4) sich oder einem anderen rechtswidrig zuzueignen. Eine Sache ist fremd, wenn sie (1) nach bürgerlichem Recht (auch) im Eigentum einer anderen Person steht und nicht herrenlos ist. Eine bewegliche Sache ist (2) ein körperlicher Gegenstand, der tatsächlich fortbewegt werden kann. Wegnahme meint, (3) den Bruch fremden und die Begründung neuen Gewahrsams, wobei Gewahrsam die vom Willen getragene tatsächliche Sachherrschaft ist.
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2. Sind die Lebensmittel in dem Müllcontainer bewegliche Sachen?

Ja!

Die nicht mehr verkäuflichen, eventuell auch schon verdorbenen, Lebensmittel sind körperliche Gegenstände, die tatsächlich fortbewegt werden können. Beim Diebstahl kommt es auf den wirtschaftlichen Wert der Sachen nicht an. Es ist also unerheblich, ob die Lebensmittel aufgrund des Verderbens noch einen Wert haben.

3. Sind die Lebensmittel sind für A fremd?

Genau, so ist das!

Eine Sache ist fremd, wenn sie (1) nach bürgerlichem Recht (auch) im Eigentum einer anderen Person steht und nicht herrenlos ist. Herrenlos ist eine Sache, wenn der Eigentümer den Besitz mit Verzichtswillen aufgibt. BayObLG: Die Lebensmittel ständen noch immer im Eigentum des S. Der Verzichtswille folge hier noch nicht aus dem bloßen Entsorgen der Lebensmittel im Müllcontainer. Gegen den Verzichtswillen spräche hier das Absperren des Containers auf dem eigenen Grundstück. Es läge außerdem kein Verzichtswille vor, wenn der Eigentümer das Eigentum nur zugunsten einer bestimmten anderen Person (oder Organisation) aufgeben will (RdNr. 8ff.).

4. Hat A fremde, bewegliche Sachen weggenommen (§ 242 Abs. 1 StGB)?

Ja, in der Tat!

Wegnahme ist, der Bruch fremden und die Begründung neuen Gewahrsams. S hatte noch immer die tatsächliche Sachherrschaft über die Lebensmittel, da der Müllcontainer auf seinem Grundstück stand. Er hatte auch den erforderlichen Beherrschungswillen, denn er wollte die Lebensmittel solange in seinem Gewahrsam halten, bis sie vom Entsorgungsunternehmen abgeholt würden. Diesen Gewahrsam hat A gebrochen, indem sie die Lebensmittel aus dem Container nahm und das Grundstück des S damit verließ.

5. Hat A sich wegen Diebstahls strafbar gemacht (§ 242 Abs. 1 StGB)?

Ja!

A hat den objektiven Tatbestand des Diebstahls verwirklicht. Der Diebstahl erfordert im subjektiven Tatbestand neben dem Vorsatz noch die Zueignungsabsicht. Zueignungsabsicht bedeutet, dass der Täter die Sache wegnimmt, um sie dem anderen zu enteignen und sich selbst anzueignen. A entnahm die Lebensmittel zum Eigengebrauch aus dem Container und handelte somit sowohl vorsätzlich als auch mit Zueignungsabsicht. Mangels entgegenstehender Anhaltspunkte handelte sie auch rechtswidrig und schuldhaft.

6. Hat A ein Regelbeispiel des § 243 Abs. 1 StGB erfüllt?

Genau, so ist das!

In besonders schweren Fällen wird der Diebstahl anstatt mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren mit Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten bis zu zehn Jahren bestraft. Das Gesetz listet Regelbeispiele für besonders schwere Fälle auf. Nach § 243 Abs. 1 Nr. 2 StGB liegt ein besonders schwerer Fall u.a. dann vor, wenn der Täter eine Sache stiehlt, die durch ein verschlossenes Behältnis gegen Wegnahme besonders gesichert ist. Der Müllcontainer war verschlossen, um die Lebensmittel vor Diebstahl zu schützen. Da jedoch nach § 243 Abs. 2 StGB ein besonders schwerer Diebstahl nach den § 243 Abs. 1 Nr. 1 - 6 StGB an geringwertigen Sachen (Grenze: 25 €, vgl. Fischer, StGB, 64. Aufl. 2017, § 243 Rn. 24f.) nicht in Betracht kommt und das Diebesgut hier keinen Verkaufswert hatte, hat A keinen besonders schweren Fall des Diebstahls begangen.

7. Stellt die Verurteilung der A wegen Diebstahls einen verfassungswidrigen Eingriff in ihre allgemeine Handlungsfreiheit dar (Art. 2 Abs. 1 GG)?

Nein, das trifft nicht zu!

BVerfG: Die A werde durch die Verurteilung zwar in ihrer allg. Handlungsfreiheit eingeschränkt, dies sei jedoch gerechtfertigt und verhältnismäßig, da es Sache des Gesetzgebers sei, den Bereich strafbaren Handelns festzulegen und dadurch den Schutz des Eigentums nach Art. 14 Abs. 1 GG sicherzustellen. Selbst wenn das Strafrecht im Hinblick auf die Staatszielbestimmung des Schutzes natürlicher Lebensgrundlagen (Art. 20a GG) geändert werden könnte, sei dies für die jetzige Bewertung der Verfassungswidrigkeit irrelevant, denn das BVerfG prüfe nicht, ob der Gesetzgeber die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung gefunden habe (BVerfG, 3).
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Prüfungsschema

Wie prüfst Du die Strafbarkeit wegen versuchten Diebstahls (§§ 242 Abs. 1, 2, 22, 23 Abs.1 StGB)?

  1. Vorprüfung: (1) Kein vollendeter Diebstahl; (2) Strafbarkeit des Versuchs (§ 242 Abs. 2 StGB)
  2. Tatbestandsmäßigkeit
    1. Tatentschluss
      1. Vorsatz bezüglich der Wegnahme einer fremden beweglichen Sache
      2. Zueignungsabsicht
      3. Vorsatz bezüglich der Rechtswidrigkeit der erstrebten Zueignung
    2. Unmittelbares Ansetzen (§ 22 StGB)
  3. Rechtswidrigkeit
  4. Schuld
  5. Strafaufhebungsgrund: Rücktritt (§ 24 Abs. 1, 2 StGB)
    1. Kein Fehlschlag
    2. Beendeter/Unbeendeter Versuch + Rücktrittshandlung
    3. Freiwilligkeit
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

lucylawless

lucylawless

29.1.2021, 18:28:45

Wegen des geringen Wertes der Lebensmittel verwirklicht die Täterin doch gerade kein Regelbeispiel oder verstehe ich das falsch?

TJU

Tr(u)mpeltier junior

6.2.2021, 18:34:46

Die Frage ist etwas tricky gestellt. Denn ein regelbeispiel nach Abs. 1 ist verwirklicht, deswegen lautet die Antwort zurecht "stimmt". Die Verwirklichung des regelbeispiels führt aufgrund des geringen Wertes der Sachen im Ergebnis ausnahmsweise gem Abs 2 nicht zu einer strafschärfung.

TJU

Tr(u)mpeltier junior

6.2.2021, 18:36:15

Deswegen kam dir die Antwort vllt auf den ersten Blick falsch vor :)

Eigentum verpflichtet 🏔️

Eigentum verpflichtet 🏔️

9.2.2021, 23:14:22

So ist es TJ! Haben wir auch am Ende der jeweiligen Erklärung ausgeführt :)

CLA

chuck lawris

7.3.2022, 07:46:30

Gibt es denn überzeugende rechtliche Gründe für eine Entscheidung gegen das OLG? Wenn man es sauber durchsubsumiert, kann man mE auf kein anderes Ergebnis kommen, es sei denn, man fängt an, mit "Billigkeit" oder so etwas herumzuwurschteln. Bei mir türmt sich zumindest nur das Gefühl von schreiender Ungerechtigkeit auf, aber methodisch ist das doch alles sauber?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

7.3.2022, 10:33:09

Hallo chuck lawris, in der Tat ist es hier schwierig zu einem anderen Ergebnis zu kommen. Den besten Anknüpfungspunkt bietet dabei ein großzügiger Umgang mit der Herrenlosigkeit und des Besitzaufgabewillens. Aber in Konstellationen wie hier (abgeschlossener Behälter, Container auf dem Betriebsgelände, Entsorgungsunternehmen) erscheint ein anderes Ergebnis in der Tat schwer begründbar. Auch vor dem BVerfG sind die Studentinnen letztlich gescheitert (BVerfG NStZ 2021, 483). Letztlich wäre es insofern Sache des Gesetzgebers hierfür Ausnahmetatbestände zu schaffen oder generell die Supermarktbetreiber in die Pflicht zu nehmen, aktiv etwas gegen Lebensmittelverschwendung zu unternehmen. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

PAT

Patrick

14.4.2022, 14:29:06

In solchen Fällen fällt die Beantwortung der Umfrage nicht leicht. Rein rechtlich gesehen hat das Gericht m.E. richtig entschieden. Moralisch/Politisch gesehen stehe ich auf der anderen Seite. Da Politik aber Aufgabe der Legislative und Exekutive ist und nicht der Judikative, befand ich die gerichtliche Entscheidung letztlich für richtig.

Edward Hopper

Edward Hopper

3.4.2023, 18:48:16

Wieso ging das zum OLG, Rechtslage ist doch ziemlich obvious?

SE.

se.si.sc

3.4.2023, 22:18:52

Letztlich musst du das den Verurteilten und seinen Verteidiger fragen. Ich könnte mir aber vorstellen, dass die erhebliche Diskussion, die der Fall in der Fachwelt und auch der allgemeinen Öffentlichkeit mit sich gebracht hat, dazu beigetragen hat. Immerhin war der Diebstahl hier ja "gut gemeint" und man wollte vielleicht deshalb die Sache im Wege der Sprunrevision rechtlich erneut klären lassen.

Edward Hopper

Edward Hopper

12.4.2023, 21:43:11

Ist schon cringe zu meinen, dass das Ergebnis bei eindeutiger Rechtslage eine Instanz höher anders ausfallen werde nur weil es "gut gemeint" war.

SE.

se.si.sc

14.4.2023, 19:39:03

"Gut gemeint" war die dahinter stehende moralische Überzeugung; "Diebstahl" von weggeworfenen Lebensmitteln sollte halt nach Überzeugung er Angeklagten (es waren wohl m

ehre

re) nicht strafbar sein, deswegen gab es im Anschluss auch noch eine Gehörsrüge und man ging sogar bis vors BVerfG (beides ohne Erfolg). Rechtlich hat man das natürlich schon etwas sauberer aufgezogen: Konkret ging es um eine eventuelle

Dereliktion

an den weggeworfenen Lebensmitteln und um das verfassungsrechtliche Argument der Sozialbindung des Eigentums nach Art 14 GG und das Zusammenspiel mit Art 20a GG. Ob man das Ergebnis vor diesem Hintergrund immer noch so offensichtlich findet, muss jeder für sich selbst entscheiden.

Edward Hopper

Edward Hopper

27.4.2023, 18:48:47

Dereliktion

an Gegenständen, die ein einem festen Behältnis, mit Schloss versehen, auf einem Privatgrundstück, mit einem Zaun umzäumt der wiederum selbst verschlossen war. Good Luck with that in court und Klausur

BENKE

BenKenobi

25.5.2023, 17:54:49

Ich finde auch nicht, dass die verfassungsrechtliche Frage hinter der Reichweite von § 242 I StGB in diesem Fall so offensichtlich ist. Die einfachgesetzliche Rechtslage lässt m.E. nur schwer vertretbar eine andere Lösung zu. Wir haben aber wohl alle schon mal in einer Klausur ein Gesetz wegen Verfassungswidrigkeit verworfen oder zumindest durch eine verdassungskonforme Auslegung korrigieren müssen. Den bedeutendsten Entscheidungen des BVerfG liegen bestimmt Beschwerdeführer zugrunde, die Mut zur Argumentation hatten. Die Frage, ob Lebensmittel derart verschwendet werden sollten, ist durchaus diskussionswürdig, wenn wir allerlei Fragen offensichtlich verwerfen würde, käme ja nichts zustande.

SI

sina2211

7.7.2023, 23:34:08

Könnte man hier auch einen Notstand zumindest anprüfen? So wie es mittlerweile bei den Klimaaktivisten-Fällen gemacht wird.

Jurista

Jurista

12.9.2023, 14:03:54

Wo und wie würde man in der Prüfung die allg. Handlungsfreiheit einbauen? Oder ist das nur etwas für das 2. StEx?

MEEN

meentangled

9.1.2024, 20:42:39

Gute Frage, würde mich auch interessieren

Vanessa

Vanessa

15.1.2024, 08:51:12

Der Fall kam in einem Handlungsabschnitt genau so dran.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

15.2.2024, 16:22:48

Lieben Dank für den Hinweis, Vanessa!


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