Wie prüfst Du den Rücktritt vom beendeten Versuch im Fall des § 24 Abs. 1 S. 2 StGB?
- Kein fehlgeschlagener Versuch
- Beendeter Versuch
- Keine Vollendung, ohne Zutun des Täters
- Rücktrittshandlung: Ernsthaftes Bemühen der Erfolgsabwendung (§ 24 Abs. 1 S. 2 StGB)
- Freiwilligkeit
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
T vergiftet fünf Gläser Babynahrung und verteilt sie in fünf Märkten, wobei er den Tod von Babys billigend in Kauf nimmt. Ohne den genauen Standort zu nennen, teilt er dies den Konzernen mit und droht, er werde dies wieder tun, wenn er nicht €11,75 Mio. bekäme. Die Gläser werden gefunden.
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Einordnung des Falls
Der Lebensmittelerpresser-Fall ist ein Strafrecht-Klassiker. Der Täter vergiftete fünf Gläser Babynahrung und stellte sie auf Ladenregale. Um Geld zu erpressen, schickte er später anonyme E-Mails, die vor den vergifteten Gläsern warnten, ohne die genauen Standorte zu nennen. Die Gläser wurden gefunden und entfernt, bevor Schaden entstand. Hier ist problematisch, ob der Täter bereits unmittelbar zur Tat angesetzt hatte. Es handelt sich hier um einen Fall der mittelbaren Täterschaft, da der Täter vorhatte, die Eltern der Kinder als dolose Werkzeuge dazwischenzuschalten. Maßgeblich für die Beurteilung ist die herrschende Entlassungsformel.
Dieser Fall lief bereits im 1./2. Juristischen Staatsexamen in folgenden Kampagnen
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Examenstreffer 2021
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Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 11 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Hat T sich wegen „vollendeten Totschlags" (§ 212 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht, indem er die vergifteten Gläser verteilte?
Nein, das trifft nicht zu!
Da niemand gestorben ist, ist die Tat nicht vollendet. Jedoch ist der Versuch des Totschlags nach §§ 12, 23 Abs. 1 StGB strafbar. Dann müsste T
Tatentschluss zur Tötung eines Menschen gehabt haben, also entsprechenden Vorsatz. T nahm billigend in Kauf, dass Babys sterben könnten. Der BGH geht davon aus, T hätte daher
Tatentschluss zur Tötung in unmittelbarer Täterschaft gefasst. Dabei übersieht er, dass nicht bloß ein zwingender Mitwirkungsakt des Opfers selbst in Rede steht, sondern ein Elternteil die vergiftete Babynahrung als vorsatzlos handelndes Werkzeug verabreicht hätte. Damit besaß T
Tatentschluss zur Tötung in mittelbarer Täterschaft.
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2. Hat T nach allen Ansichten zur Tatbestandsverwirklichung „unmittelbar angesetzt" (§ 22 StGB), weil Babys bereits konkret gefährdet waren?
Nein!
Das Versuchsstadium ist erreicht, wenn der Täter subjektiv die Schwelle zum „Jetzt geht es los“ überschreitet und objektiv zur tatbestandsmäßigen Angriffshandlung ansetzt, so dass sein Tun ohne wesentliche Zwischenakte in die Erfüllung des Tatbestandes übergeht. Da T sich vorstellte, die Eltern als undolose Werkzeuge einzuschalten, fragt sich, wie sich das unmittelbare Ansetzen bei der mittelbaren Täterschaft bestimmt. Unstrittig liegt ein Versuch vor, wenn der Tatmittler ohne weitere Zwischenakte das geschützte Rechtsgut konkret gefährdet. So liegt es hier nicht, da die Gläser gefunden wurden. Fraglich ist, ob bereits deren Verteilung ausreicht.
3. Hat T nach der „modifizierten Entlassungsformel der Rspr." zur Tatbestandsverwirklichung unmittelbar angesetzt (§ 22 StGB)?
Nein, das ist nicht der Fall!
Überwiegend wird eine Vorverlagerung des Versuchsbeginns angenommen, wenn der Täter den Geschehensablauf bewusst aus der Hand gegeben hat (Entlassungsformel), nach der Rspr. aber nur, wenn der Erfolgseintritt innerhalb eines überschaubaren Zeitraums nach dem Tatplan gewiss ist (modifizierte Entlassungsformel). Mit dem Verteilen der Gläser mag T das Geschehen aus der Hand gegeben haben. Dass jemand die Babynahrung kaufen und einem Baby verabreichen würde, stand für T aber nicht fest. Vielmehr nahm er dies bloß billigend in Kauf. Gleichwohl bejaht der BGH hier das unmittelbare Ansetzen, ohne dies zu erklären. Ferner handelte T rechtswidrig und schuldhaft.
4. Richtet sich vorliegend der „strafbefreiende Rücktritt vom Versuch nach § 24 Abs. 1 S. 1 Var. 1 StGB" (sog. Rücktritt vom unbeendeten Versuch)?
Nein, das trifft nicht zu!
Nach h.M. richtet sich der Rücktritt des mittelbaren Täters nach § 24 Abs. 2 StGB. Der BGH geht hier indes von einer unmittelbaren Täterschaft aus und stellt daher auf § 24 Abs. 1 S. 1 StGB ab. Da T nach dem Verteilen der Gläser bereits alles getan hatte, was er nach seiner Vorstellung tun musste, um den tatbestandsmäßigen Erfolg herbeizuführen, ist das konkrete Versuchsgeschehen als beendet zu bewerten. Wie auch der Rücktritt nach § 24 Abs. 2 S. 1 StGB, setzt der Rücktritt vom beendeten Versuch nach § 24 Abs. 1 S. 1 Var. 2 StGB voraus, dass der Täter die Tatvollendung freiwillig verhindert, weshalb sich die Annahme des BGH nicht auswirkt.
5. Genügt den „Anforderungen an die Tatverhinderung" (§ 24 Abs. 1 S. 1 Var. 2 StGB), dass T den Konzernen mitteilte, vergiftete Babynahrung platziert zu haben?
Ja!
Während eine Mindermeinung eine optimale Rücktrittsleistung fordert, kommt es nach der h.L. und dem BGH - in Übereinstimmung mit dem Wortlaut - nicht darauf an, ob dem Täter schnellere oder sicherere Möglichkeiten der Erfolgsabwendung zur Verfügung stehen. Erforderlich sei aber stets, dass der Täter eine neue Kausalkette in Gang setzt, die für die Nichtvollendung der Tat jedenfalls mitursächlich wird, und dass der Täter den Tatvorsatz vollständig aufgibt. Vorliegend hat T den Opfern nicht bloß nach Art eines Glücksspiels eine Chance gegeben. Vielmehr ermöglichten die Angaben des T gezielte Maßnahmen zum Auffinden der vergifteten Produkte.
6. Hätte T für einen wirksamen Rücktritt seine deliktische Absicht aber insgesamt aufgeben müssen?
Nein, das ist nicht der Fall!
Einem wirksamen Rücktritt steht nach Ansicht des BGH nicht entgegen, dass T seinen Willen nicht aufgegeben hatte, zu einem späteren Zeitpunkt erneut vergiftete Gläser in den Märkten zu verteilen, sofern seine Zahlungsforderungen nicht erfüllt würden. Denn zu einem hierdurch begangenen erneuten Tötungsversuch hatte T noch nicht unmittelbar angesetzt (§ 22 StGB). Schließlich hat T auch freiwillig gehandelt, da er aus autonomen Motiven die Konzerne über die vergifteten Gläser informierte. Sein fortbestehendes Erpressungsziel ändert daran nichts. T ist strafbefreiend zurückgetreten, und zwar auch vom Mordversuch (Heimtücke, Habgier, Ermöglichungsabsicht).
7. Hat T sich wegen „vollendeter" räuberischer Erpressung mit Todesfolge (§§ 253 Abs. 1, 255, 251 StGB) strafbar gemacht, indem er die vergifteten Gläser verteilte und Geld forderte?
Nein, das trifft nicht zu!
Es wurde kein Geld gezahlt. Mithin ist das Grunddelikt nicht vollendet. Ferner ist die schwere Folge nach § 251 StGB ebenfalls nicht eingetreten, da niemand verletzt wurde. In Betracht kommt aber eine Strafbarkeit wegen versuchter räuberischer
Erpressung mit versuchter Todesfolge (§§ 253 Abs. 1, 255, 251, 22, 23 Abs. 1 StGB). Der Versuch ist strafbar nach §§ 23 Abs. 1, 12 Abs. 1 StGB. § 251 StGB ist ein erfolgsqualifiziertes Delikt, dessen Versuch nach allgemeiner Ansicht auch in der Weise möglich ist, dass der bei der Tat vom Vorsatz umfasste Tod nicht eintritt (sog. Versuch der Erfolgsqualifikation). Dies folgt aus §§ 11 Abs. 2, 18 StGB.
8. Besaß T „Tatentschluss" zu einer räuberischen Erpressung mit Todesfolge (§§ 253 Abs. 1, 255, 251 StGB)?
Ja!
T wollte durch
Drohung mit gegenwärtiger
Gefahr für Leib und Leben die Konzerne zu einer Geldzahlung bewegen und einen entsprechenden Vermögens
schaden hervorrufen. Dass die
Gefahr den Babys der Käufer und nicht den Erpressungsopfern selbst drohte, ist unerheblich. Es genügt, wenn das genötigte Erpressungsopfer die Drittbe
drohung selbst als Übel empfindet. Überdies beabsichtigte er eine rechtswidrige und stoffgleiche Bereicherung. Zudem nahm er billigend in Kauf, dass durch die von ihm vergiftete und verteilte Babynahrung Babys sterben könnten, weshalb er
Tatentschluss hinsichtlich einer räuberischen
Erpressung mit Todesfolge besaß.
9. Hat T sich wegen „Versuchs der räuberischen Erpressung mit versuchter Todesfolge" strafbar gemacht, da an den weiteren Voraussetzungen keine Zweifel bestehen?
Nein, das ist nicht der Fall!
Indem T die vergifteten Gläser verteilte und die Geldforderung mit der
Drohung verband, weitere vergiftete Produkte zu platzieren, hat er unmittelbar zur Tat angesetzt (§ 22 StGB). Weiter handelte T rechtswidrig und schuldhaft. Allerdings ist der Rücktritt vom versuchten erfolgsqualifizierten Delikt in den Fällen des Versuchs der Erfolgsqualifikation auch dadurch möglich, dass der Täter - wie hier geschehen - das Eintreten der schweren Folge verhindert. Somit ist T nicht nur von der versuchten Tötung, sondern auch von dem Versuch der Erfolgsqualifikation strafbefreiend zurückgetreten (§ 24 Abs. 1 S. 1 Var. 2 StGB).
10. Hat T sich wegen „vollendeter" besonders schwerer räuberischer Erpressung (§§ 253 Abs. 1, 255, 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB) strafbar gemacht, indem er die vergifteten Gläser verteilte und Geld forderte?
Nein, das trifft nicht zu!
Die Tat ist nicht vollendet, da kein Geld gezahlt wurde. Jedoch ist der Versuch nach §§ 23 Abs. 1, 12 Abs. 1 StGB strafbar. T besaß
Tatentschluss hinsichtlich §§ 253 Abs. 1, 255 StGB. Zudem hielt er die vergifteten Gläser für geeignet, den Tod von Babys herbeizuführen, so dass er auch
Tatentschluss für die Qualifikation nach § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB fasste (Verwendung eines gefährlichen Werkzeuges). Indem T die vergifteten Gläser verteilte und die Geldforderung mit der
Drohung verband, weitere vergiftete Produkte zu platzieren, hat er unmittelbar zur Tat angesetzt (§ 22 StGB). Außerdem handelte er rechtswidrig und schuldhaft.
11. Liegt zumindest ein „Teil-Rücktritt von der Qualifikation" vor, obwohl ein Rücktritt von der versuchten räuberischen Erpressung ausscheidet?
Nein!
Ein Rücktritt vom Versuch der §§ 253, 255 StGB kommt nicht in Betracht. Aber auch ein Teil-Rücktritt von § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB greift nicht, weil T durch die Verwendung des Drohmittels die Qualifikation bereits vollendet hatte und die qualifikationsbegründende erhöhte
Gefahr schon eingetreten war. Durch die Verhinderung des Verzehrs der vergifteten Babynahrung ist T daher von dieser Qualifikation nicht wirksam zurückgetreten. Hierfür hätte er seinen
Tatentschluss im Ganzen aufgeben müssen, was er aber nicht getan hat. T hat sich nach §§ 253, 255, 250 Abs. 2 Nr. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB strafbar gemacht. § 314 Abs. 1 Nr. 2 StGB steht hierzu in Tateinheit.