Öffentliches Recht

Examensrelevante Rechtsprechung ÖR

Entscheidungen von 2020

Verfassungsmäßigkeit der elektronischen Fußfessel

Verfassungsmäßigkeit der elektronischen Fußfessel

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

S hat wegen wiederholter Sexualstraftaten eine Freiheitsstrafe von 20 Jahren verbüßt. Bei seiner Freilassung ordnet das letztinstanzliche Gericht Führungsaufsicht (§ 68ff. StGB) mit elektronischer Aufenthaltsüberwachung (eAü) an (§ 68b Abs. 1 S. 1 Nr. 12 StGB). Als S verurteilt wurde, gab es den § 68b StGB noch nicht.

Diesen Fall lösen 78,6 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

Einordnung des Falls

Verfassungsmäßigkeit der elektronischen Fußfessel

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 19 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Bei der elektronischen Aufenthaltsüberwachung (eAü) wird der Verurteilte zum Tragen einer elektronischen Fußfessel verpflichtet, die den Aufenthaltsort des Trägers übermittelt.

Genau, so ist das!

Bei der eAü werden die Aufenthaltsdaten via GPS an eine Aufsichtsstelle nach § 463a StPO übermittelt. Die so erhobenen Daten werden bis zu zwei Monate gespeichert. Sie ist für Personen gedacht, bei denen die begründete Wahrscheinlichkeit der Begehung schwerer Gewaltstraftaten besteht. Die eAü soll die Überwachung von Weisungen erleichtern und die Betroffenen von der Begehung von Straftaten abhalten, indem sie ein erhöhtes Entdeckungsrisiko schafft. Die eAü muss nicht mit dem Urteil, sondern kann gemäß § 68d Abs. 1 StGB auch nachträglich angeordnet werden.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

2. Dürfen staatliche Überwachungsmaßnahmen in den Kernbereich privater Lebensgestaltung eingreifen und zu einer lückenlosen Überwachung führen?

Nein, das trifft nicht zu!

Die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und die - stark durch die Menschenwürde geprägten - Gewährleistungen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) schützen den Kernbereich privater Lebensgestaltung und entziehen ihn einem staatlichen Zugriff. Nach der Objektformel liegt ein Verstoß gegen die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) vor, wenn der Adressat einer Maßnahme zum bloßen Objekt staatlichen Handelns würde. BVerfG: Das wäre bei einer Totalerfassung der Freiheitswahrnehmung der Fall (RdNr. 210). Eine solche liege vor, wenn lückenlos alle Bewegungen und Lebensäußerungen erfasst und die Erstellung eines Persönlichkeitsprofils ermöglicht würde (RdNr. 251). Klausurfälle, in denen eine staatliche Maßnahme unmittelbar am Maßstab von Art. 1 Abs. 1 GG geprüft wird, sind selten. Denke immer auch an andere Grundrechte mit starkem Menschenwürdekern.

3. Die Möglichkeit, den Aufenthaltsort des S gemäß § 68b Abs. 1 S. 1 Nr. 12 StGB i.V.m. § 463a Abs. 4 StPO jederzeit festzustellen, ist ein Eingriff in die von Art. 1 Abs. 1 GG absolut geschützte Menschenwürde.

Nein!

BVerfG: Die bloße anlassbezogene Feststellbarkeit des Aufenthaltsortes mittels GPS-gestützter Observation erreiche den unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung dann nicht, wenn der Maßnahmeadressat weder optischer noch akustischer Kontrolle unterliege (RdNr. 246). Das genüge, um einen - stets verfassungswidrigen - Eingriff in Art. 1 Abs.1 GG auszuschließen (RdNr. 246f.). Das BVerfG stützt dieses Ergebnis auch auf die gesetzlich vorgesehenen Schutzmaßnahmen: Durch § 463a Abs. 4 S. 1 HS 2 StPO werde eine zielgerichtete Erhebung von Daten innerhalb der Wohnung ausgeschlossen, soweit dies technisch möglich sei (RdNr. 208, 243). Daten, die versehentlich darüber hinaus erhoben würden, würden unverzüglich gelöscht.

4. S muss die Fußfessel alle 16 Stunden zwei Stunden lang aufladen. Außerdem stört sie beim Tragen von Arbeitsstiefeln. Die Maßregel ist daher ein Eingriff in seine Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs.1 GG.

Nein, das ist nicht der Fall!

Eingriffe in die Berufsfreiheit werden nach der sog. Drei-Stufen-Theorie in objektive Zulassungsregeln, subjektive Zulassungsregeln und Ausübungsregeln unterschieden. Um ein Ausufern des Schutzbereichs der Berufsfreiheit zu verhindern, soll bei Ausübungsregeln die Schwelle zum Eingriff jedoch erst errreicht sein, wenn das staatliche Verhalten zumindest eine objektiv berufsregelnde Tendenz hat. Das ist dann der Fall, wenn eine hoheitliche Handlung unmittelbar oder mit gravierender Auswirkung mittelbar in den Schutzbereich des Art. 12 Abs.1 GG fällt. Die eAü hat nur mittelbare und geringe Wirkungen auf die Berufsausübungsfreiheit des S. Ein Eingriff liegt nicht vor.

5. Die eAü könnte in den Schutzbereich der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs.1 GG) eingreifen.

Ja, in der Tat!

Art. 13 Abs.1 GG schützt den räumlich-gegenständlichen Bereich der Privatsphäre. Dem Einzelnen soll das Recht, „in Ruhe gelas- sen zu werden“, gerade in seinen Wohnräumen gesichert sein. Die Vorschrift gewährt einen absoluten Schutz des Verhaltens in den Wohnräumen, soweit es sich als individuelle Entfaltung im Kernbereich privater Lebensgestaltung darstellt. Für diese benötigt jeder Mensch ein räumliches Substrat, in dem er für sich sein und sich nach selbstgesetzten Maßstäben frei entfalten, also die Wohnung bei Bedarf als „letztes Refugium“ zur Wahrung seiner Menschenwürde nutzen kann (RdNr. 228).

6. Das GPS-Signal schaltet in der Wohnung des S automatisch auf Funk und zeigt nur noch an, dass er sich in seiner Wohnung befindet – nicht den Raum. Entfällt dadurch ein Eingriff in Art. 13 Abs. 1 GG?

Ja!

BVerfG: Durch die Umstellung des Signals auf Funk werde verhindert, dass eine genaue Überwachung des Betroffenen im häuslichen Bereich stattfindet. Diese bloße Präsenzkontrolle führe nicht zu einer Einschränkung der freien Entfaltung und Privatsphäre in seinen Wohnräumen (RdNr. 332). Dass dieses Ergebnis überzeugt, lässt sich durch eine Vergleichsbetrachtung untermauern: Würde der Staat etwa den Eingang eines Hauses beobachten, um zu überprüfen, dass eine Person sich dauerhaft dort aufhält, dürfte ein Eingriff in die Schutzbereich von Art. 13 Abs. 1 GG ebenfalls entfallen.

7. Die Pflicht zum Tragen einer elektronischen Fußfessel greift in den Schutzbereich des informationellen Selbstbestimmungsrechts des S ein (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG).

Genau, so ist das!

Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ist eine Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG). Es gewährleistet die Befugnis des Einzelnen, selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen. Beim Umgang mit personenbezogenen Daten durch staatliche Stellen ist zwischen Erhebung, Speicherung und Verwendung der Daten zu unterscheiden. Die Erfassung und die Auswertung der Daten bilden grundsätzlich je eigene Eingriffe(RdNr. 199). Die Pflicht zum Tragen der eAü hat zur Folge, dass staatliche Stellen persönliche Daten über S erlangen. Er selbst bestimmt also nicht über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten.

8. Ein Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs.1 GG) kann nur dann gerechtfertigt sein, wenn er auf einer verfassungskonformen gesetzlichen Grundlage beruht.

Ja, in der Tat!

Das informationelle Selbstbestimmungsrecht ist eine Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, das verfassungsrechtlich schwerpunktmäßig in Art. 2 Abs. 1 GG verankert ist. Es kann daher ebenfalls durch die sog. Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG beschränkt werden, d.h. durch die Rechte anderer, die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz. Die - praktisch bedeutsame - verfassungsmäßige Ordnung umfasst alle formell und materiell verfassungsmäßigen Rechtsnormen. Zur verfassungsmäßigen Ordnung zählt auch § 68b Abs. 1 S. 1 Nr. 12 StGB, soweit diese Norm verfassungskonform ist.

9. Der verfassungsrechtliche Kompetenztitel für den Erlass von Maßregeln folgt aus Art. 74 Nr. 1 Var. 2 GG (Strafrecht). § 68b Abs. 1 S. 1 Nr. 12 StGB ist folglich formell verfassungskonform.

Ja!

Zum Strafrecht i.S.d. Art. 74 Nr. 1 Var. 2 GG gehören alle, einschließlich nachträgliche repressive oder präventive staatliche Reaktionen auf Straftaten, die an Straftaten anknüpfen, ausschließlich für Straftäter gelten und ihre Rechtfertigung aus der Anlasstat beziehen. Die elektronische Aufenthaltsüberwachung nach § 68b Abs. 1 S. 1 Nr. 12 StGB unterfällt als Maßnahme der Führungsaufsicht der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes für das Strafrecht
 nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG (RdNr. 186). Die Norm ist formell verfassungsgemäß. Die Norm und ihre Anwendung müssen überdies auch materiell verfassungsgemäß sein.

10. S sieht sich durch die Fußfessel stigmatisiert. Verstößt § 68b Abs. 1 S. 1 Nr. 12 StGB gegen das Resozialisierungsgebot (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG)?

Nein, das ist nicht der Fall!

Aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ergibt sich ein verfassungsrechtlich garantierter Anspruch auf Resozialisierung. Danach muss dem Täter einer Straftat die Chance offen stehen, sich nach Verbüßung seiner Strafe wieder in die Gesellschaft einzuordnen (RdNr. 194). Dies geschehe durch die Vermittlung der Fähigkeit zur verantwortlichen Lebensführung.BVerfG: Die Fußfessel sei ohne weiteres unter der Kleidung zu verbergen. Nur bei intimen Kontakten sei eine Kenntnisnahme unvermeidlich. Dadurch werde aber die „verantwortliche Lebensführung“ des Betroffenen nicht wesentlich erschwert (RdNr. 294).

11. Die Anlasstat wurde abgeurteilt, bevor die eAü eingeführt wurde. Verstößt die Anordnung der eAü gegen das Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 2 GG)?

Nein, das trifft nicht zu!

Nach Art. 103 Abs. 2 GG kann eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Art. 103 Abs. 2 GG findet jedoch nur Anwendung, wenn es sich um Strafen handelt. Strafe i.S.d. Art. 103 Abs. 2 GG ist die Verhängung eines dem Schuldausgleich dienenden Übels wegen eines rechtswidrigen und schuldhaften Verhaltens (RdNr. 334).Maßregeln dienen nicht dem Schuldausgleich, sondern präventiven Zwecken. Bei der Führungsaufsicht und der eAü handelt es sich um Maßregeln. § 68 Abs. 1 S. 1 Nr. 12 StGB fällt nicht in den Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 2 GG.

12. Die Anlasstat wurde abgeurteilt, bevor die eAü eingeführt wurde. Es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die Anordnung gegen den Vertrauensschutz (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) verstößt.

Ja!

Aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) folgt, dass mögliche staatliche Eingriffe voraussehbar sein müssen. Sind sie es nicht, handelt es sich um eine Rückwirkung. Dabei ist zwischen der Rückbewirkung von Rechtsfolgen (sog. „echte“ Rückwirkung) und der tatbestandlichen Rückanknüpfung (sog. „unechte“ Rückwirkung) zu unterscheiden. „Echte“ Rückwirkungen liegen vor, wenn die Rechtsfolgen eines Gesetzes für einen bereits abgeschlossenen Sachverhalt gelten sollen. Sie sind grundsätzlich unzulässig. „Unechte“ Rückwirkungen betreffen rückwirkend einen Sachverhalt, der noch nicht abgeschlossen ist. Diese können nach Abwägung mit dem Gemeinwohl zulässig sein.Die Grundsätze der „echten“ und „unechten“ Rückwirkung sind verfassungsrechtliche Klausurklassiker und sollten Dir geläufig sein.

13. Bei der Einführung des § 68b Abs. 1 S. 1 Nr. 12 StGB handelt es sich um eine sog. „unechte“ Rückwirkung.

Genau, so ist das!

Die tatbestandliche Rückanknüpfung („unechte“ Rückwirkung) betrifft nicht den zeitlichen, sondern den sachlichen Anwendungsbereich einer Norm. Die Rechtsfolgen eines Gesetzes treten erst nach Verkündung der Norm ein, ihr Tatbestand erfasst aber Sachverhalte, die bereits vor der Verkündung „ins Werk gesetzt“ worden sind. Gemäß § 2 Abs. 6 StGB ist über Maßregeln nach dem Gesetz zu entscheiden, das zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Maßregeln gilt. Zum Zeitpunkt der Anordnung der eAü war § 68b Abs. 1 S. 1 Nr. 12 StGB schon in Kraft. Die Anlasstat hat den anordnungsbegründenden Sachverhalt (Gefahr) „ins Werk gesetzt“, ohne ihn abzuschließen (Fortbestand der Gefahr).

14. Die „unechte“ Rückwirkung des § 68b Abs. 1 S. 1 Nr. 12 StGB ist nach Abwägung mit den Gemeinwohlinteressen gerechtfertigt. Ein Verstoß gegen den Vertrauensschutz entfällt damit.

Ja, in der Tat!

Zweck der eAü ist die Verhütung von schwersten Straftaten gegen das Leben, die sexuelle Selbstbestimmung und ähnliche höchstrangige Verfassungsgüter. BVerfG: Bei der Abwägung falle ins Gewicht, dass nicht der Eintritt der Führungsaufsicht als solche, sondern nur deren konkrete Ausgestaltung neu geregelt wurde. Das Interesse der Allgemeinheit wiege damit schwerer als das Vertrauen der Betroffenen in den Bestand der geltenden Rechtslage (RdNr. 338ff.). Das BVerfG führte außerdem an, dass die Betroffenen vor der Einführung der eAü gemeinhin einer polizeilichen Dauerobservation unterworfen. Durch die Neuregelung und die Anordnung der eAü anstelle einer Dauerobservation verringere sich somit die Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigungen.

15. Dadurch, dass § 68b Abs. 1 S. 1 Nr. 12 StGB keine Grundrechte benennt, die durch die eAü eingeschränkt werden, verstößt die Norm gegen das Zitiergebot (Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG).

Nein!

Primärer Zweck des Zitiergebots aus Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG ist die sog. Besinnungs- und Warnfunktion. Der Gesetzgeber soll bei Grundrechtseingriffen innehalten und nur die wirklich gewollten Folgen herbeiführen. Bei offensichtlichen Grundrechtseingriffen komme dem Zitiergebot indes keine Bedeutung zu (RdNr. 230). BVerfG: Bei § 68b Abs. 1 S. 1 Nr. 12 StGB handele es sich um einen solchen offensichtlichen Grundrechtseingriff (RdNr. 341). Am Zitiergebot wird die Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsgrundlage in der Klausur nicht scheitern - sonst kämest Du nicht mehr zur weiteren verfassungsrechtlichen Prüfung. Vergiss daher nicht das Zitiergebot, aber verwende darauf nicht viel Zeit.

16. § 68b Abs. 1 S. 1 Nr. 12, S. 3 StGB muss auch dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung tragen. Ist die Norm geeignet, erforderlich und angemessen?

Genau, so ist das!

Die Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsgrundlage zum Eingriff in Grundrechte setzt deren Verhältnismäßigkeit voraus.BVerfG: Der Schutz der Allgemeinheit vor schweren Straftaten ist ein legitimer Zweck. Die Geeignetheit für spezialpräventive Wirkungen zum Schutz der Allgemeinheit lasse sich zwar empirisch nicht nachweisen. Dadurch werde die Maßnahme aber nicht ungeeignet. Zur Beurteilung der Zwecktauglichkeit stehe dem Gesetzgeber nämlich ein weiter Beurteilungsspielraum zu (RdNr. 263). Die eAü sei gegenüber der Dauerobservation bereits das mildere Mittel, also erforderlich. Der tiefen Eingriffsintensität stünde der Schutz höchstrangiger Verfassungswerte gegenüber – sie sei damit auch angemessen (= verhältnismäßig im engeren Sinne). § 68b Abs. 1 S. 1 Nr. 12, S. 3 StGB ist somit auch materiell verfassungsgemäß.

17. Begegnet es verfassungsrechtlichen Zweifeln, wenn die im Rahmen von § 463a Abs. 4 StPO erhobenen Daten nicht nur zur Prävention von Straftaten, sondern auch zur Strafverfolgung verwendet werden?

Ja, in der Tat!

Erhobene Daten dürfen nur im Rahmen des zu ihrer Erhebung beabsichtigten Zwecks verwendet werden (Grundsatz der Zweckbindung, vgl. BVerfGE 141, 220). Allerdings kann der Gesetzgeber eine Nutzung der Daten auch zu anderen Zwecken als denen der ursprünglichen Datenerhebung erlauben (Zweckänderung), wenn dies verhältnismäßig ist. Wann eine Zweckänderung verhältnismäßig ist, orientiert sich am Grundsatz der hypothetischen Datenneuerhebung. Als Maßregel ist Zweck der eAü die Verhütung, nicht die Verfolgung von Straftaten. Ohne den Grundsatz der Zweckbindung könnten erhobene Daten Anlass für unvorhersehbare Maßnahmen in der Zukunft schaffen.

18. Die Verwendung der im Rahmen von § 463a Abs. 4 StPO erhobenen Daten zur Strafverfolgung genügt dem Grundsatz der hypothetischen Datenneuerhebung.

Ja!

Der Grundsatz der hypothetischen Datenneuerhebung besagt, dass die neue Nutzung der Daten dem Schutz von Rechtsgütern oder der Aufdeckung von Straftaten eines solchen Gewichts dienen müssen, die verfassungsrechtlich ihre Neuerhebung mit vergleichbar schwerwiegenden Mitteln rechtfertigen könnten. Der Rückgriff auf die Daten ist nur zulässig zur Verfolgung von schweren Straftaten i.S.d. § 66 Abs. 3 S. 1 StGB. BVerfG: Eine hypothetische Neuerhebung der Aufenthaltsdaten zur Verfolgung schwerer Straftaten wäre mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu vereinbaren (RdNr. 308). Damit könnte auch die Zweckänderung verhältnismäßig sein.

19. Die Verwendung der Daten zur Strafverfolgung verstößt gegen die Selbstbelastungsfreiheit. Die Zweckänderung ist daher unverhältnismäßig.

Nein, das ist nicht der Fall!

Aus dem Rechtsgrundsatz nemo tenetur se ipsum accusare folgt, dass niemand gezwungen werden darf, zur eigenen strafrechtlichen Verurteilung beizutragen (RdNr. 190). Dabei statuiert der nemo-tenetur-Grundsatz eine Aussagefreiheit. Demgegenüber verletzen bloße Mitwirkungspflichten das Verbot der Selbstbelastung nicht (RdNr. 310). BVerfG: Die Verpflichtung, die Fußfessel betriebsbereit bei sich zu führen, stelle eine Mitwirkungspflicht dar, durch die die Aussagefreiheit des Betroffenen im Strafverfahren aus § 136 Abs. 1 Satz 2, § 136a, § 243 Abs. 5 Satz 1 StPO nicht eingeschränkt werde. Die Zweckänderung ist damit verhältnismäßig. Die Entscheidung ist nicht unumstritten. In der Klausur kommt es hier darauf an, schichtweise alle rechtlichen Angriffspunkte auf die eAü zu identifizieren und abzuarbeiten.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

Jurafuchs kostenlos testen


Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

PPAA

Philipp Paasch

3.6.2022, 23:28:56

Die Norm des §68b StGB dürfte bereits auch deshalb nicht gegen das Zitiergebot verstoßen, weil es sich bei dem StGB um vorkonstitutionelles Recht handelt.

ENU

ehemalige:r Nutzer:in

4.6.2022, 15:02:44

Die Norm wurde doch später eingefügt

PPAA

Philipp Paasch

7.6.2022, 23:30:45

Aber nicht das StGB selbst. Oder gab es jemals einen Hinweis hinter einem Paragraphen, dass er Grundrechte einschränke?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

15.6.2022, 09:40:29

Hallo Philipp, in der Tat findet sich im StGB bei keinem Paragraphen ein Hinweis darauf, dass er Grundrechte einschränke. Dies lässt sich indes nicht allein mit dem Hinweis erklären, dass das StGB an sich ein vorkonstitutionelles Gesetz darstellt. Denn wie Quorbox zurecht einwendet ist der Bezugspunkt die einzelne Norm und nicht das StGB als ganzes. Bei der Ausnahme der vorkonstitutionellen Gesetze geht es darum, dass bei diesen die Warn- und Besinnungsfunktion überhaupt nicht greifen kann. Bei später eingefügten Normen ist dies aber ohne weiteres möglich. Gesetzliche Neuregelungen von vorkonstitutionellen Gesetzen unterliegen damit grundsätzlich nur dann nicht dem Zitiergebot, wenn sie "bereits geltende Grundrechtsbeschränkungen unverändert oder mit geringen Abweichungen wiederholen" (BVerfG NJW 1956, 986). Der Grund, warum sich im StGB dennoch kein Verweis auf die beeinträchtigten Grundrechte findet, liegt insoweit primär darin, dass entweder lediglich in die allgemeine Handlungsfreiheit der Adressaten eingegriffen wird (vgl. BeckOK GG/Enders, 51. Ed. 15.5.2022, GG Art. 19 Rn. 16.1) oder - wie in diesem Fall - die Einschränkung als so offenkundig angesehen wird, dass es hierfür keines expliziten Hinweises mehr bedarf. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


© Jurafuchs 2024