Zivilrecht

Examensrelevante Rechtsprechung ZR

Entscheidungen von 2021

Unfallschadensregulierung bei Reparaturkosten über dem Wiederbeschaffungswert

Unfallschadensregulierung bei Reparaturkosten über dem Wiederbeschaffungswert

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

S hat den Pkw der G beschädigt und haftet ihr in voller Höhe. Laut Gutachten betragen der Wiederbeschaffungswert €5.000, der Restwert €2.000 und die Reparaturkosten €8.000. G lässt den Pkw für €6.000 fachgerecht reparieren und nutzt ihn für weitere sechs Monate.

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Einordnung des Falls

Unfallschadensregulierung bei Reparaturkosten über dem Wiederbeschaffungswert

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Art und Umfang des Schadensersatzes, den G von S verlangen kann, richten sich nach den §§ 249ff. BGB.

Ja!

Die §§ 249ff. BGB finden unabhängig vom Haftungsgrund grundsätzlich auf alle Schadensersatzansprüche Anwendung. Im Fall einer Haftung aus §§ 7, 18 StVG werden die §§ 249ff. BGB durch §§ 9ff. StVG modifiziert. Dass S der G in voller Höhe haftet, steht fest. Die Tatbestände der §§ 9ff. StVG sind nicht erfüllt, sodass der Grund dieser Haftung dahinstehen kann. Wir befassen uns im Folgenden daher ausschließlich mit dem Umfang der Haftung, also dem Schadensrecht. Dessen Examensrelevanz ist sehr hoch.
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2. G konnte von S ursprünglich Naturalrestitution durch Reparatur oder Wiederbeschaffung verlangen (§ 249 Abs. 1 BGB). Dieser Anspruch ist wegen Unmöglichkeit untergegangen (§ 275 Abs. 1 Alt. 2 BGB).

Genau, so ist das!

Der Schädiger hat denjenigen Zustand herzustellen, der bestünde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre (Naturalrestitution, § 249 Abs. 1 BGB). Der Schädiger kann zwischen den gleichwertigen Herstellungsalternativen einer Reparatur oder Wiederbeschaffung wählen. Im Fall der Zweckerreichung geht sein Anspruch wegen objektiver Unmöglichkeit unter (§ 275 Abs. 1 Alt. 2 BGB). Indem G die Reparatur selbst durchgeführt hat, ist es dem S wegen Zweckerreichung objektiv unmöglich geworden Gs Anspruch auf Naturalrestitution zu erfüllen.

3. G kann von S gleichwohl Zahlung des zur Herstellung erforderlichen Geldbetrags verlangen (§ 249 Abs. 2 BGB).

Ja, in der Tat!

Bei Personen- oder Sachschäden kann der Gläubiger statt der Herstellung den dazu erforderlichen Geldbetrag verlangen (§ 249 Abs. 2 BGB). Voraussetzung ist, dass eine Naturalrestitution (§ 249 Abs. 1 BGB) ursprünglich möglich war. Nach erfolgter Selbstvornahme kann der Gläubiger dann nur noch Ersatz in Geld verlangen (§ 249 Abs. 2 BGB). Eine Naturalrestitution wäre dem S ursprünglich möglich gewesen. Ist Naturalrestitution von vornherein unmöglich, kommt anstelle eines Ersatzes des Integritätsinteresses (Restitution, § 249 BGB) nur Ersatz des Wertinteresses in Betracht (Kompensation, § 251 Abs. 1 Alt. 1 BGB). Systematisch vorrangig ist die Restitution.

4. Der zur Herstellung erforderliche Geldbetrag (§ 249 Abs. 2 BGB) entspricht entweder den Kosten einer fachgerechten Reparatur oder dem Wiederbeschaffungsaufwand.

Ja!

Die Naturalrestitution kann durch Reparatur oder Wiederbeschaffung erfolgen (§ 249 Abs. 1 BGB). Folglich entspricht der „dazu“ erforderliche Geldbetrag (§ 249 Abs. 2 BGB) den Reparaturkosten oder dem Wiederbeschaffungsaufwand (= Wiederbeschaffungswert - Restwert). Dem Reparaturaufwand (= Reparaturkosten + merkantile Wertminderung) kann der erforderliche Geldbetrag dagegen nie entsprechen. Denn eine trotz Reparatur verbleibende merkantile Wertminderung kann im Wege der Naturalrestitution (§ 249 Abs. 1 BGB) nicht beseitigt werden, sondern ist von Natur aus endgültig. Insoweit käme nur eine Entschädigung in Betracht (Kompensation, § 251 BGB) (vgl. RdNr. 7).

5. Der zur Herstellung erforderliche Geldbetrag ist stets auf den geringeren Betrag - Reparaturkosten oder Wiederbeschaffungsaufwand - begrenzt (§ 249 Abs. 2 BGB).

Nein, das ist nicht der Fall!

Erforderlich sind grundsätzlich nur die Kosten der günstigsten Herstellungsalternative (Wirtschaftlichkeitsgebot, § 249 Abs. 2 BGB). Unterschreitet also der Reparaturaufwand (= Reparaturkosten + merkantile Wertminderung) den Wiederbeschaffungsaufwand (= Wiederbeschaffungswert - Restwert), sind nur die Reparaturkosten erforderlich (1. Stufe). Bei Kfz-Schäden geht die Rechtsprechung jedoch drei Stufen weiter (4-Stufen-Modell): Überschreitet der Reparaturaufwand den Wiederbeschaffungsaufwand bis zur Grenze des Wiederbeschaffungswerts, sind die Reparaturkosten trotzdem erforderlich (2. Stufe). Überschreitet der Reparaturaufwand sogar den Wiederbeschaffungswert um bis zu 30% (Integritätszuschlag), so sind die Reparaturkosten noch immer erforderlich, wenn der Gläubiger ein besonderes Affektionsinteresse nachweist (3. Stufe). Erst wenn der Reparaturaufwand auch die Grenze von 130% des Wiederbeschaffungswerts übersteigt (wirtschaftlicher Totalschaden), scheidet eine Reparatur aus (4. Stufe) (RdNr. 6f.).

6. Die Reparaturkosten sind mit €8.000 anzusetzen, betragen also mehr als 130% des Wiederbeschaffungswerts (wirtschaftlicher Totalschaden). Erforderlich ist nur der Wiederbeschaffungsaufwand von €3.000.

Nein, das trifft nicht zu!

Ein wirtschaftlicher Totalschaden liegt vor, wenn der Reparaturaufwand (= Reparaturkosten + merkantile Wertminderung) den Wiederbeschaffungswert um mehr als 30% übersteigt. BGH: Die Wertangaben eines Sachverständigengutachtens seien insoweit aber nicht verbindlich. Der Gläubiger könne nachweisen, dass eine Reparatur genau desjenigen Umfangs, den die Sachverständige zugrunde gelegt hat, tatsächlich teurer oder günstiger ist (RdNr. 8, 10). Die Grenze zum wirtschaftlichen Totalschaden wäre bei einem Reparaturaufwand von über €6.500 erreicht (= €5.000 x 130%). Eine merkantile Wertminderung ist nicht ersichtlich, sodass der Reparaturaufwand vorliegend den Reparaturkosten entspricht. G kann nachweisen, dass diese nicht €8.000, sondern nur €6.000 betragen. Obiger Maßstab galt zuvor nur auf der 2. Stufe.

7. G kann ein besonderes Affektionsinteresse nachweisen. Da der Reparaturaufwand den Wiederbeschaffungswert um weniger als 30% übersteigt, sind die Reparaturkosten also erforderlich (§ 249 Abs. 2 BGB).

Ja!

Die Einschränkung des Wirtschaftlichkeitsgebots auf der 3. Stufe ist zulasten des Schädigers nur gerechtfertigt, wenn der Gläubiger ein besonderes Integritätsinteresse (Affektionsinteresse) nachweist. Dies setzt voraus, dass der Gläubiger das Fahrzeug (1) fachgerecht repariert und für (2) mindestens sechs Monate weiter nutzt. Fachgerecht ist nur eine Reparatur, die dem Umfang desjenigen entspricht, was der gutachterlichen Kostenschätzung zugrundeliegt (RdNr. 6). G hat ihren Pkw deutlich günstiger als gutachterlich veranschlagt, aber gleichwohl fachgerecht repariert. Zudem hat sie ihn sechs Monate lang weiter genutzt.

8. G kann von S Ersatz der Reparaturkosten in Höhe von €6.000 verlangen.

Genau, so ist das!

Der Aufwand einer Reparatur (€6.000) übersteigt den Aufwand einer Wiederbeschaffung (€3.000) (1. Stufe) und sogar den Wiederbeschaffungswert (€5.000) (2. Stufe). Den Integritätszuschlag von 30% auf den Wiederbeschaffungswert überschreitet der Reparaturaufwand jedoch nicht und G hat ein besonderes Affektionsinteresse nachgewiesen. Daher wird das Wirtschaftlichkeitsgebot zulasten des S eingeschränkt: Der erforderliche Geldbetrag entspricht den Reparaturkosten von €6.000 (§ 249 Abs. 2 BGB). Für eine nach der Reparatur etwaig verbleibende merkantile Wertminderung hätte S die G zusätzlich nach § 251 Abs. 1 BGB zu entschädigen. Beträgt diese jedoch mehr als €500, liegt ein wirtschaftlicher Totalschaden vor (4. Stufe), da der Reparaturaufwand dann die Grenze von €6.500 überschritte. In Klausuren fehlt es (wie hier) zumeist an Angaben zu einer merkantilen Wertminderung.

9. Nach 6 Monaten verkauft G den Pkw und verklagt S auf Schadensersatz. S behauptet, die Reparatur wäre nicht fachgerecht erfolgt und wirft G insoweit Beweisvereitelung durch Veräußerung vor. Zu Recht?

Nein, das trifft nicht zu!

Eine Beweisvereitelung liegt vor, wenn die nicht beweisbelastete Partei dem beweisbelasteten Gegner die Beweisführung schuldhaft unmöglich macht oder erschwert, indem sie vorhandene Beweismittel vernichtet, vorenthält oder ihre Benutzung erschwert (RdNr. 12). Da G den Pkw vorprozessual verkauft hat, kann S nicht mehr beweisen, dass die Reparatur nicht fachgerecht erfolgt ist. Die Beweislast für eine fachgerechte Reparatur trägt nach den allgemeinen Regeln jedoch G selbst. Rechtsfolge einer Beweisvereitelung wären Beweiserleichterungen bis hin zu einer Beweislastumkehr zugunsten der beweisbelasteten Partei (RdNr. 13).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

PPAA

Philipp Paasch

16.7.2022, 00:11:33

Also verliert G den Prozess, weil sie die Behauptung nicht beweisen kann?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

3.8.2022, 17:45:04

Hallo Philipp, dies ist letztlich eine Frage des Einzelfalls. G könnte hier ja durchaus einfach den Erwerber des Fahrzeugs als Zeuge laden lassen. Der BGH hat im konkreten Fall den Fall noch einmal zurückverwiesen an das Berufungsgericht, um noch einmal eine Beweisaufnahme durchzuführen, da erhebliche Zweifel an den Feststellungen der Ausgangsinstanz bestanden. Je nachdem, was bei dieser Beweisaufnahme herauskommt, gewinnt entweder S oder G. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Daniil

Daniil

28.8.2022, 13:46:58

4-Stufenmodell Hat ein bisschen gedauert, das zum 4-Stufenmodell erläuterte nachzuvollziehen, deshalb hab ich mir eine kleine Darstellung aus dem Text entworfen. Vielleicht ist es ja für jemanden hier hilfreich. Falls mir ein Fehler unterlaufen ist, freue ich mich über einen Hinweis. Die Abkürzungen müssten ja verständlich sein (Reparaturkosten, Reparaturaufwand, Wiederbeschaffungswert, Wiederbeschaffungsaufwand). (1) RA <= WA —> RK (2) WA <= RA <= WW —> RK (3) RA <= WW + 30% —> RK, sofern Affektionsinteresse (4) RA > WW + 30% —> WW (wirtschaftlicher Totalschaden)

CR7

CR7

19.7.2024, 13:56:44

Um Daniils sehr guten Beitrag noch zu ergänzen, weil mir das wirklich schwer gefallen ist, nachzuvollziehen: Wiederbeschaffungswert (WW) = Betrag, den man aufwenden müsste, um ein gleichwertiges Fahrzeug zu kaufen. Wiederbeschaffungsaufwand (WA) = Berücksichtigt, dass das beschädigte Auto noch einen Restwert hat. Die Formel lautet: WA = Wiederbeschaffungswert - Restwert Restwert = Wert nach Beschädigung Merkantile Minderwert = Wertverlust eines KFZ trotz Instandsetzung Wirtschaftlicher Totalschaden = 130% Grenze überschritten Stufenmodell (nach obigem Vorbild) 1. Stufe: Wenn Reparaturkosten niedriger (oder gleich) sind als der Wiederbeschaffungsaufwand, zahlt der Schädiger die Reparaturkosten. 2. Stufe: Wenn die Reparaturkosten höher sind als der Wiederbeschaffungsaufwand, aber niedriger als der Wiederbeschaffungswert, zahlt der Schädiger trotzdem die Reparaturkosten. 3. Stufe: Wenn die Reparaturkosten höher sind als der Wiederbeschaffungswert, aber nicht mehr als 30% darüber (130%-Grenze), zahlt der Schädiger die Reparaturkosten, wenn der Geschädigte das Auto reparieren lässt und mindestens 6 Monate weiterfährt. 4. Stufe: Wenn die Reparaturkosten mehr als 30% über dem Wiederbeschaffungswert liegen, spricht man von einem "wirtschaftlichen Totalschaden". Der Schädiger muss dann nur den Wiederbeschaffungsaufwand zahlen.

CR7

CR7

15.8.2024, 22:16:01

Im Zusammenhang mit Werkstatt, Reparatur und Fahrzeug erachte ich dieses Urteil als examensrelevant :-) https://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&az=VI%20ZR%2038/22&nr=136715


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