Öffentliches Recht
Examensrelevante Rechtsprechung ÖR
Entscheidungen von 2019
Recht auf Vergessen II – Löschung des Eintrags eines Suchmaschinenbetreibers
Recht auf Vergessen II – Löschung des Eintrags eines Suchmaschinenbetreibers
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Geschäftsführerin G wird 2010 in der NDR-Doku „Fiese Arbeitgeber-Tricks“ ein unfairer Umgang mit einem gekündigten Mitarbeiter vorgeworfen. G hatte dem NDR freiwillig ein Interview gegeben. Bei einer Google-Namenssuche der G wird die Doku 2017 unter den vorderen Treffern angezeigt. G begehrt erfolglos die Entfernung des Links.
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Einordnung des Falls
Recht auf Vergessen II – Löschung des Eintrags eines Suchmaschinenbetreibers
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 15 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Neben den Grundrechten des Grundgesetzes findet stets auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GrCh) Anwendung.
Nein, das trifft nicht zu!
Jurastudium und Referendariat.
2. Der vorliegende Fall betrifft aufgrund seines erkennbaren Bezugs zum europäischen Datenschutzrecht die „Durchführung von Unionsrecht“ (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh).
Ja!
3. Im vollständig unionsrechtlich determinierten Bereich sind grundsätzlich allein die Unionsgrundrechte (GrCh) anwendbar, denn diese haben gegenüber den Grundrechten des GG Anwendungsvorrang.
Genau, so ist das!
4. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts gilt ausnahmslos.
Nein, das trifft nicht zu!
5. Beurteilungsmaßstab der Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a BVerfGG) sind grundsätzlich nur die Grundrechte des Grundgesetzes.
Ja!
6. Im vollständig unionsrechtlich determinierten Bereich kontrolliert das BVerfG die Rechtsanwendung durch deutsche Stellen am Maßstab der Unionsgrundrechte (GrCh).
Genau, so ist das!
7. In Zukunft können auch die Unionsgrundrechte (GrCh) Prüfungsmaßstab einer Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a BVerfGG) vor dem BVerfG sein.
Ja, in der Tat!
8. Der vorliegende Fall ist vom BVerfG nach den Unionsgrundrechten (GrCh) zu beurteilen.
Ja!
9. Die Unionsgrundrechte sind vom BVerfG nach den gleichen Grundsätzen zu prüfen, die auch für die Grundrechte des GG gelten.
Nein, das ist nicht der Fall!
10. Die Grundrechte der GrCh gelten auch in privatrechtlichen Streitigkeiten.
Ja, in der Tat!
11. G kann sich auf ihre Grundrechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 7 GrCh) und auf Schutz personenbezogener Daten (Art. 8 GrCh) berufen.
Ja!
12. Aufseiten des Suchmaschinenbetreibers ist sein Recht auf unternehmerische Freiheit (Art. 16 GrCh) in die Abwägung einzustellen.
Genau, so ist das!
13. Ebenfalls in die Abwägung einzustellen, sind die Meinungsfreiheit der verlinkten Inhalteanbieter (hier des NDR) sowie die Informationsinteressen der Nutzer.
Ja, in der Tat!
14. Im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Grundrechte überwiegen vorliegend die Grundrechte der G (Art. 7 und 8 GrCh).
Nein!
15. Die Verfassungsbeschwerde der G ist begründet.
Nein, das ist nicht der Fall!
Fundstellen
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
🔥1312🔥
23.3.2023, 11:26:33
Könnt ihr vielleicht noch mal erklären, was genau mit Integrationsverantwortung des BVerfG gemeint ist? Hab das leider nicht richtig verstanden.
Nora Mommsen
23.3.2023, 12:30:23
Hallo 1312, gerne. Um den Begriff der Integrationsverantwortung zu verstehen, kann man sich zunächst dem Begriff der "Integration" nähern. Integration steht nach Art. 1 II des EU-Vertrags und der Präambel des AEUV zunächst für das immer engere Zusammenwachsen der europäischen Völker in der Union. Dies geschah und geschieht sowohl auf wirtschaftlicher Ebene als auch auf politischer Ebene. Neben der EU und ihrer Organe selbst verpflichtet das natürlich auch die Mitgliedsstaaten. Im Grundgesetz ist diese Integration in Art. 23 GG und Art. 59 GG normiert. Das BVerfG hat daraus die "Integrationsverantwortung" abgeleitet. Diese betrifft aber nicht nur das BVerfG selbst, sondern alle Organe der Bundesrepublik Deutschland. Ist es so etwas verständlicher? Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
David.
2.9.2023, 14:35:50
Lag im vorliegenden Fall ein acte-clair vor, weil sich bezüglich dieser Grundrechte der GRCh keine Auslegungsfragen stellten, und damit dann keine Pflicht zur Vorlage bestand? Und wie sieht es bezüglich anderer Grundrechte der GRCh aus, stellen sich bei diesen generell keine Auslegungsfragen?
DerChristoph
1.8.2024, 10:40:57
Worin genau besteht der Unterschied zwischen den Recht auf Vergessen Entscheidungen I und II, abgesehen vom Ergebnis. Warum ist das Rechtsgebiet in der Entscheidung I nicht vollständig determiniert, sodass die GrCh keine Anwendung findet, und in der Entscheidung II gerade doch. Beide Entscheidung befassen sich mit dem Datenschutzrecht, beide Konstellationen sind ähnlich gelagert. Den entscheidenden Unterschied kann ich nicht erkennen. Ist er einfach zeitlich bedingt? (Vor und nach DSGVO?)
Hannah17
25.8.2024, 20:58:01
In Recht auf Vergessen I geht es m.A. nach darum, dass das BVerfG gesagt hat, dass eine Grundrechtsvielfalt besteht, d.h. neben den nationalen Grundrechten aus dem GG, auch die Grundrechte der Grundrechte-Charta Anwendung finden. Und hierbei hat das BVerfG festgestellt, dass wenn Umsetzungsspielraum der Mitgliedstaaten besteht, anhand des Maßstabes der nationalen Grundrechte überprüft wird, daneben aber die Wertungen der Charta auch Anwendung finden würden und mit einfließen. Der Unterschied zu
Recht auf Vergessen IIliegt dann darin, dass das BVerfG in Vergessen II festgehalten hat, dass es wenn kein Umsetzungsspielraum der Mitgliedstaaten besteht, es selbst am Maßstab der Grundrechte Charta prüft. Im Rahmen der Verfassungsbeschwerde müsste man dann also bei der Beschwerdebefugnis auf diese Rechtsprechung(en) eingehen und schon einmal den „Prüfungsmaßstab vorwegnehmen“. Bzw. müsste Art. 93 I Nr. 4a GG unionrechtskonform ausgelegt werden. Ich habe mir das mit dem Umsetzungsspielraum so erklärt: In Recht auf Vergessen I besteht Umsetzungsspielraum aufgrund der Medienöffnungsklausel, d.h. aufgrund der unterschiedlichen Wertungen und Stellungen der Medien in den einzelnen Mitgliedsstaaten soll den Mitgliedstaaten die rechtliche Ausgestaltung überlassen werden. In
Recht auf Vergessen IIkann sich Google gerade nicht auf diese Medienklausel berufen, weshalb eine vollständige Determinierung vorläge.
Linne_Karlotta_
26.8.2024, 16:08:05
Hallo in die Runde, @[DerChristoph](80668) ich verstehe Deine Frage so, dass Dir nicht klar ist, warum das BVerfG bei der Entscheidung „Recht auf Vergessen I“ nicht angenommen hat, dass der Sachverhalt vollständig unionsrechtlich determiniert ist. Dies ergibt sich aus dem konkreten Sachverhalt: Bei Recht auf Vergessen I ging es um eine zivilrechtliche Entscheidung bzgl. einer identifizierenden Berichterstattung durch den SPIEGEL. Das (grundsätzlich vereinheitlichte) Unionsrecht bzgl. des Datenschutzrechts sieht Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten bzgl. der Daten, die u.A. für journalistische Zwecke verarbeitet wurden, vor (damals: Art. 9 DSRL 95/46/EG, nach Einführung der DSGVO: Art. 85 DSGVO). Der Sachverhalt war also gerade nicht vollständig durch das Unionsrecht determiniert, weil bzgl. des SPIEGELS das sog. datenschutzrechtliche Medienprivileg greift. Das BVerfG stellt klar: Da, wo die Regelungen durch den Mitgliedstaat selbst geschaffen werden (wegen des Gestaltungsspielraums) besteht auch unproblematisch die Kompetenz des BVerfG, diese Ausgestaltung an den Grundrechten zu messen (vgl. RdNr. 41ff. des Urteils). Im Rahmen von
Recht auf Vergessen IIlag dem Sachverhalt ein Rechtsstreit mit Google zu Grunde. Diese Suchmaschine kann sich gerade nicht auf das o.g. datenschutzrechtliche Medienprivileg berufen (siehe RdNr. 35ff. des Urteils). Aus diesem Grund war der Sachverhalt unionsrechtlich durch die datenschutzrechtlichen Normen vollständig determiniert. Somit sind, wegen der Anerkennung des Anwendungsvorrangs von Unionsrecht, nicht die nationalen Grundrechte Prüfmaßstab (RdNr. 47). Das BVerfG erklärt sich aber wegen Art. 23 Abs. 1 GG für zuständig, die Einhaltung der Unionsgrundrechte durch deutsche Stellen zu überprüfen (RdNr. 50). Die von Dir angesprochenen unterschiedlichen Ergebnisse folgen also schlicht aus den verschieden gelagerten Sachverhalten. In der Klausur hätte man in der Regel wohl genug Anhaltspunkte dafür, ob der betroffene Sachverhalt unionsrechtliche vollständig determiniert ist oder nicht. Dies ergibt sich meistens aus den entsprechenden unionsrechtlichen Normen, die (hoffentlich) mit der Klausur abgedruckt werden. Ich hoffe, ich konnte die Frage damit beantworten. Viele Grüße - Linne, für das Jurafuchs-Team