Klagefrist (§ 74 VwGO): Fristwahrung trotz Klageerhebung bei unzuständigem Gericht


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Behörde X nimmt die Gewerbeerlaubnis der E zurück. Erzürnt erhebt E innerhalb eines Monats Klage vor dem Verwaltungsgericht B. Dies wollte E auch. Zuständig wäre aber Verwaltungsgericht A gewesen. Ist die Klage zulässig?

Einordnung des Falls

Klagefrist74 VwGO): Fristwahrung trotz Klageerhebung bei unzuständigem Gericht

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Streitigkeit ist öffentlich-rechtlich und nichtverfassungsrechtlicher Art. Der Verwaltungsrechtsweg ist eröffnet (§ 40 Abs. 1 S. 1 VwGO).

Ja, in der Tat!

Aufdrängende Sonderzuweisungen sind nicht ersichtlich. Nach der Sonderrechtstheorie ist eine Streitigkeit öffentlich-rechtlicher Art, wenn die streitentscheidenden Normen einen Hoheitsträger einseitig berechtigen oder verpflichten. Die hier einschlägigen streitentscheidenden Normen sind solche der GewO, die Hoheitsträger einseitig berechtigen und verpflichten. Eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit liegt vor. Mangels doppelter Verfassungsunmittelbarkeit ist die Streitigkeit auch nichtverfassungsrechtlicher Art. Abdrängende Sonderzuweisungen sind nicht ersichtlich. Der Verwaltungsrechtsweg ist eröffnet (§ 40 Abs. 1 S. 1 VwGO).

2. Das klägerische Begehren der E (§§ 88, 86 Abs. 3 VwGO) ist auf die Aufhebung des Rücknahmebescheids der Behörde X gerichtet.

Ja!

Die statthafte Klageart richtet sich nach dem Klagebegehren (§§ 88, 86 Abs. 3 VwGO). E begehrt die Aufhebung der Rücknahme der Gewerbeerlaubnis. Dafür ist die Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) statthaft, wenn sich das Begehren der E auf die gerichtliche Beseitigung eines sie belastenden Verwaltungsakts richtet. Die Rücknahme ist nach der Actus-contrarius-Theorie ein Verwaltungsakt. Die Anfechtungsklage ist statthaft.

3. E kann geltend machen, durch die Rücknahme der Gewerbeerlaubnis in einem ihrer subjektiv-öffentlichen Rechte verletzt und mithin klagebefugt zu sein.

Genau, so ist das!

Die Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO) beurteilt sich danach, ob der Kläger durch den angegriffenen Verwaltungsakt möglicherweise in einem subjektiv-öffentlichen Recht verletzt ist (sog. Möglichkeitstheorie). Ist der Kläger Adressat eines belastenden Verwaltungsakts, ergibt sich die Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO) auch ohne Sachvortrag aus dem Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) (sog. Adressatentheorie). E ist Adressat der Rücknahme der Gewerbeerlaubnis. Sie ist somit klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO).

4. Die Klage der E ist verfristet, wenn sie sie nicht innerhalb der Klagefrist erhoben hat (§ 74 Abs. 1 S. 1 VwGO).

Ja, in der Tat!

Für die Anfechtungsklage gilt eine Monatsfrist. Die Anfechtungsklage ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Widerspruchsbescheids zu erheben (§ 74 Abs. 1 S. 1 VwGO). Ist ein Widerspruch nach § 68 VwGO nicht erforderlich, ist die Anfechtungsklage innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts, der angefochten werden soll, zu erheben (§ 74 Abs. 1 S. 2 VwGO).

5. Durch die Erhebung der Klage beim unzuständigen Gericht gilt die Klage als nicht erhoben. Die Klage der E ist verfristet und damit unzulässig.

Nein, das ist nicht der Fall!

Zum Schutz des Klägers vor Nachteilen durch die Anrufung eines unzuständigen Gerichts erklärt § 83 S. 1 VwGO für die sachliche und örtliche Zuständigkeit die §§ 17-17b GVG für entsprechend anwendbar. Entsprechend § 17a Abs. 2 S. 1 GVG verweist das sachlich oder örtlich unzuständige Gericht den Rechtsstreit an das zuständige Gericht. Entsprechend § 17b Abs. 1 S. 2 GVG bleiben die Wirkungen der Rechtshängigkeit bestehen: Die fristgerecht vor dem unzuständigen Gericht erhobene Klage ist dadurch nicht verfristet, selbst wenn die Klageschrift nach Ablauf der Frist infolge der Verweisung beim zuständigen Gericht eingeht. Die Klage der E ist nicht verfristet.

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WADKU

Wadim Kusmenko

1.2.2020, 22:44:12

Bei der Frage Nr. 3 gibt es einen Fehler

Christian Leupold-Wendling

Christian Leupold-Wendling

3.2.2020, 10:36:17

Danke, haben wir korrigiert.

Isabell

Isabell

5.2.2020, 09:29:34

Spannend. Ich hätte wetten können, dass ich das im Studium mal anders gelernt habe und immer dachte "das kann nicht richtig sein". Hat sich die Rechtslage in den letzten Jahren dahingehend geändert?

Henk

Henk

20.3.2020, 07:52:39

Geht mir genauso. Ursprünglich hatte ich im Kopf, dass maßgeblich der Zeitpunkt ist, zudem das unzuständige Gericht die Klageschrift an das zuständige weitergibt. Genauer: Wenn dem zuständigen Gericht die Klageschrift zugeht. Arg: Klage"erhebung" fordert die Einreichung beim zuständigen Gericht. Später schien es unumstritten so zu sein, dass die Frist gewahrt ist. Arg: Gegenteiliges wäre unvereinbar mit der Rechtschutzgarantie. Gibt aber iwie eine Ausnahme, wenn der Kläger den Adressat nicht für das zuständige Gericht oder so hielt. (Bin mir leider gerade nicht so sicher)

Isabell

Isabell

24.3.2020, 20:21:34

Beruhigt mich jetzt aber schon, dass ich nicht die einzige bin, die darüber gestolpert ist.

HACKBA

Hackbart

5.2.2020, 22:03:15

Da hat sich -soweit ich eine der ersten Fragen richtig in Erinnerung habe- ein kleiner Fehler eingeschlichen. Das Begehr des E ist doch nicht auf die Rückname gerichtet, sondern auf die Aufhebung des Rücknahmebescheids oder? Die Antwort auf die Frage, ob E die Rücknahme des Bescheids begehrt, lautet m.E. daher „Nein“. Nur wenn die Frage lauten würde, ob er die Aufhebung des Rücknahmebescheids begehrt, würde ich sie mit „ja“ beantworten.

🦊LEXD

🦊LEXDEROGANS

27.7.2020, 22:15:03

@Hackbart, m. E. ist mit „Rücknahme des Bescheids“ die „Rücknahme des Bescheids, welcher die Gewerbeerlaubnis zurücknimmt“ gemeint, m. a. W. die Aufhebung des Aufhebungsbescheids. E begehrt also durchaus die Rücknahme dieses Bescheids.

SVE

Sven

24.9.2020, 08:25:59

Er begehrt aber nicht die RÜCKNAHME der Rücknahme DURCH DIE BEHÖRDE, sondern die AUFHEBUNG der Rücknahme durch das GERICHT. Denn nur für die Aufhebung der Rücknahme ist die Anfechtungsklage statthaft. Begehrte er hingegen die Rücknahme, so müsste er Verpflichtungsklage erheben. Ein Gericht kann ja nicht selbst etwas “zurücknehmen”, was es nie erlassen hat. In diesem Fall kann das nur die Behörde. Das Gericht kann nur aufheben. Und im Antworttext steht ja auch “die Aufhebung der Rücknahme der Gewerbeerlaubnis”...

🦊LEXD

🦊LEXDEROGANS

24.9.2020, 23:16:10

@Sven, stimme Ihnen vollkommen zu! Unter dem Gesichtspunkt Klagebegehren im techn. Sinn bitte obigen Kommentar vernachlässigen.

Hamburger Michel

Hamburger Michel

22.10.2020, 19:50:56

Ich würde wie Hackbart und Sven auch die Frage umformulieren, denn es geht dort um das klägerische Begehren, das auf Aufhebung des Rücknahmebescheids der Behörde gerichtet ist.

Hannah B.

Hannah B.

4.6.2021, 10:44:17

Hallo! Danke für eure Hinweise. Wir haben den Fall entsprechend angepasst. Liebe Grüße Hannah - für das Jurafuchs-Team

GO

gorkix1907

30.1.2024, 11:10:20

Ja, da bin ich auch etwas verwirrt und habe erstmal im Wolff/Decker, Studienkommentar VwGO/VwVfG, 4. Aufl., §

74 VwGO

Rn. 10f. folgende Abgrenzung gefunden: - Geht die Klage innerhalb offener

Klagefrist

bei einem unzuständigen Gericht ein, dann ist die

Klagefrist

gewahrt, wenn der Schriftsatz gerade an dieses Gericht adressiert war (BVerwG, Buchholz 310

§ 74 VwGO

Nr. 13). - Fallen das Gericht, an das die Klage gerichtet war, und das Gericht, bei dem der Klageschriftsatz eingeht, auseinander, ist die

Klagefrist

nach

§ 74 VwGO

nur dann gewahrt, wenn die Klageschrift noch innerhalb der

Klagefrist

auch beim angerufenen Gericht eingeht (BVerwG, BayVBl. 2002, 611; BVerwG, Buchholz 310

§ 74 VwGO

Nr. 13).


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