Klagefrist (§ 74 VwGO): Verwirkung des Rechtsbehelfs
20. Mai 2025
20 Kommentare
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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
A wird eine Gaststättenerlaubnis erteilt (§ 2 GastG). Nachbar N wird davon nicht in Kenntnis gesetzt. Als A drei Monate später eröffnet, ist N zwar gestört, aber unternimmt nichts. Zwei Jahre später legt er Widerspruch ein. Es ergeht ein Widerspruchsbescheid, der den Widerspruch des N als unzulässig zurückweist, weil N zu lange gewartet habe. N will klagen.
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Einordnung des Falls
Klagefrist (§ 74 VwGO): Verwirkung des Rechtsbehelfs
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. N begehrt die Aufhebung der Gaststättenerlaubnis. Die Anfechtungsklage ist statthaft.
Ja!
Jurastudium und Referendariat.
2. N kann geltend machen, durch die Gaststättenerlaubnis in einem seiner subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt zu sein. Er ist klagebefugt.
Genau, so ist das!
3. N müsste ordnungsgemäß Widerspruch gegen die Gaststättenerlaubnis des A eingelegt haben.
Ja, in der Tat!
4. N hat die Widerspruchsfrist (§ 70 Abs. 1 S. 1 VwGO) nicht gewahrt.
Nein!
5. N kann zeitlich unbegrenzt Widerspruch einlegen. Die Begründung der Behörde ist rechtswidrig.
Nein, das ist nicht der Fall!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Hamburger Michel
22.10.2020, 20:03:16
Bei der
Klagebefugniskönnte man ergänzend § 4 I 1 Nr. 3 GastG für einen Verweis auf Normen des materiellen Baurechts erwähnen.

デニス
22.10.2020, 20:05:55
Kann man, muss man aber nicht. Ist innerhalb der
KlagebefugnismEn rein kosmetischer Natur, wie viele Normen aufgeführt werden, da eine (bzw. die Adressatenformel) ausreicht.

Hamburger Michel
23.10.2020, 10:37:51
In einer Anspruchssituation wäre dies anders zu beurteilen, da kein allgemeiner Gesetzesvollziehungsanspruch besteht und in der
Klagebefugnisauf den Drittschutz der Normen eingegangen wird, die überhaupt erst in der
Begründetheitzur Rechtsverletzung führen können und deren Verletzung in der
Begründetheitausschließlich geprüft werden darf. Der Kläger kann also nicht die Verletzung von Normen geltend machen, die ausschließlich im öffentlichen Interesse liegen. In Klausuren wird praktisch häufig nur auf eine Norm/ eine Normkette abgestellt; im öffentlichen Baurecht beispielsweise muss jedoch aufgrund der besonders bedeutsamen Drittschutz-Frage und des nicht bestehenden allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruchs besonders auf eine umfassende Prüfung geachtet werden.

Hamburger Michel
23.10.2020, 10:38:05
Hier in diesem Fall hätte ich auf § 4 I 1 Nr. 3 GastG verwiesen, da es erst die Verbindungsnorm ins materielle Baurecht darstellt, das ohne diese ansonsten nicht im Gaststättenrecht bei Konzessionen geprüft werden würde.

デニス
23.10.2020, 10:44:45
Genau, „wäre“. Dann ist mein Punkt ja klar geworden. =)

Hamburger Michel
23.10.2020, 12:07:15
Ja, deinen Punkt habe ich verstanden. 🙂Nur in diesem Fall würde ich für eine korrekte Lösung empfehlen, die Verbindungsnorm des § 4 I 1 Nr. 3 GastG zu nennen, denn warum sollte man sonst innerhalb einer Gaststättenkonzession Normen des öffentlichen Baurechts prüfen? Darauf wird erst in den Versagungsgründen des § 4 I 1 GastG verwiesen.
Cajetan
27.7.2022, 17:54:29
Das Bild mal wieder große Klasse 😂

Falsus Prokuristor
20.9.2024, 13:13:24
Hallo zusammen, ist das Vorverfahren nicht häufig auch für im Verwaltungsverfahren nicht
beteiligteDritte, die sich gegen den Erlass eines einen anderen begünstigenden Verwaltungsaktes wenden, durch Landesrecht ausgeschlossen. In NRW ergäbe sich das mMn aus § 110 III 2 Nr. 8 bei Entscheidungen nach dem Gaststättengesetz und der dazu ergangenen
Rechtsverordnung. Habe ich das Wechselspiel aus Regel und Ausnahme hinsichtlich des Vorverfahrens in diesem Fall richtig verstanden oder übersehe ich da etwas?

Falsus Prokuristor
20.9.2024, 13:14:55
Den § 110 III 2 Nr. 8 JustG NRW meine ich natürlich

Sebastian Schmitt
21.9.2024, 11:16:49
Hallo @[Falsus Prokuristor](203103), eine gute Frage zur Klarstellung, danke dafür! Du hast zunächst völlig Recht, dass das Vorverfahren nach LandesR häufig nicht durchlaufen werden muss (was sich zB auch in der Relevanz dieses Verfahrens für Prüfungen im 2. Examen in den entsprechenden Ländern niederschlägt). Nach § 110 I 1 JustG NRW ist ein Widerspruchsverfahren zB grds entbehrlich. Das gilt zwar normalerweise nicht für
Drittanfechtungsklagen (§ 110 III 1 JustG NRW), der von Dir genannte § 110 III 2 Nr 8 JustG NRW bildet davon aber gerade eine Rückausnahme für Fälle des GaststättenR, wie Du richtig erkannt hast. Um hier trotzdem unproblematisch zum Widerspruch zu kommen und uns mit diesen Differenzierungen im Rahmen unserer Aufgabe nicht auseinander setzen zu müssen, haben wir den Fall nicht in einem bestimmten Bundesland spielen lassen, sondern uns allein auf das GastG des Bundes gestützt. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team

Falsus Prokuristor
21.9.2024, 13:49:25
Danke für die Aufklärung!

flari0n
3.1.2025, 20:48:39
Wieso kann man § 58 Abs. 2 S. 1 VwGO hier nicht direkt anwenden (sondern lediglich den Rechtsgedanken)?

Linne_Karlotta_
24.4.2025, 12:54:57
Hey @[flari0n](207363), danke für Deine Frage. Schauen wir uns dafür zunächst einmal an, was § 58 Abs. 2 S. 1 VwGO regelt: „Ist die Belehrung unterblieben oder unrichtig erteilt, so ist die Einlegung des Rechtsbehelfs nur innerhalb eines Jahres seit Zustellung, Eröffnung oder Verkündung zulässig, außer wenn die Einlegung vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war oder eine schriftliche oder elektronische Belehrung dahin erfolgt ist, daß ein Rechtsbehelf nicht gegeben sei.“ Mit anderen Worten: DieNorm regelt ausschließlich Fälle, in denen (1) eine Rechtsbehelfsbelehrung fehlt oder (2) eine unrichtige Rechtsbehelfsbelehrung erfolgt ist. Der Zweck dieser Vorschrift ist es, trotz fehlender oder fehlerhafter Belehrung eine absolute Grenze für die Einlegung von Rechtsbehelfen zu setzen, damit Rechtsunsicherheit nicht dauerhaft bestehen bleibt. Warum greift die Norm nicht direkt im vorliegenden Fall? Die Frage ist, ob Ns Widerspruch nach § 70 Abs. 1 S. 1 VwGO verfristet ist. Dies ist nicht der Fall, da es an einer Bekanntgabe des Verwaltungsakts gegenüber N als fristauslösendes Ereignis fehlt (siehe dazu die Ausführungen in Hinweis 4 der Aufgabe). Hier stellt sich dann die Frage, ob N damit ein „ewiges Widerspruchsrecht“ hat. An dieser Stelle kommt § 58 Abs. 2 S. 1 VwGO ins Spiel. Anknüpfend an das zu § 70 Abs. 1 S. 1 VwGO Gesagte, muss man hier feststellen, dass gegenüber N kein Fall einer fehlenden oder fehlerhaften Rechtsbehelfsbelehrung vorliegt, weil gegenüber N der Verwaltungsakt – die Gaststättenerlaubnis – nie bekannt gegeben wurde. § 58 Abs. 2 S. 1 VwGO setzt aber voraus, dass der Verwaltungsakt dem Rechtsschutzsuchenden bekannt gegeben wurde, allerdings ohne ordnungsgemäße Belehrung über den Rechtsbehelf. Nochmal: Im Fall von N fehlt es aber bereits an der Bekanntgabe selbst. Eine Rechtsbehelfsbelehrung kann ihn also gar nicht erreicht haben. Da § 58 Abs. 2 S. 1 VwGO nur die Frist bei unterbliebener oder fehlerhafter Belehrung regelt, passt die Vorschrift nicht direkt auf Situationen, in denen ein
Dritter(wie hier der Nachbar) vom Verwaltungsakt nicht offiziell in Kenntnis gesetzt wurde. Obwohl § 58 Abs. 2 S. 1 VwGO nicht direkt anwendbar ist, wird sein Rechtsgedanke herangezogen, um Fälle wie diesen zu lösen. Auch wenn keine Frist zu laufen beginnt (weil keine Bekanntgabe erfolgt ist), soll ein ewiges Widerspruchsrecht vermieden werden. Daher wird anerkannt, dass ein Widerspruch oder eine Klage trotz fehlender Fristbindung verwirkt sein kann. Dabei wird der Rechtsgedanke des § 58 Abs. 2 S. 1 VwGO, nämlich eine Höchstfrist zur Wahrung der Rechtssicherheit, aufgegriffen. Ich hoffe, ich konnte Dir damit weiterhelfen! Viele Grüße – Linne, für das Jurafuchs-Team
jizi21
3.5.2025, 13:10:04
Vielen Dank für diese hilfreiche Erklärung. Es wäre meiner Ansicht nach sinnvoll, diese Fallkonstellation auch im Kapitel zum Vorverfahren selbst darzustellen. Viele Grüße
jc1909
20.2.2025, 18:14:56
Im Baurecht habe ich es so verstanden, dass man den Beginn der Frist spätestens beim Baubeginn sieht. Warum ist das hier nicht auch so?

Linne_Karlotta_
24.4.2025, 13:01:40
Hey @[jc1909](167873), danke für diese spannende Frage! Im Baurecht wird tatsächlich oft argumentiert, dass ein Nachbar, der von einem Bauvorhaben tatsächlich Kenntnis erlangt (z.B. durch den sichtbaren Baubeginn), so behandelt wird, als sei ihm der Verwaltungsakt (z.B. eine Baugenehmigung) „faktisch bekannt gegeben“ worden. Dahinter steht der Gedanke: Der Nachbar ist nicht länger schutzwürdig, wenn es für ihn erkennbar ist, dass voraussichtlich eine Baugenehmigung ergangen ist. Darin liegt der entscheidende Unterschied zur vorliegenden Konstellation. Dass hier eine Gaststättengenehmigung erteilt wurde, ist für N erstmal nicht so „offensichtlich“ erkennbar, wie es bzgl. der Baugenehmigung der Fall ist, wenn der Bauherr mit dem Bau begonnen hat. Eine Gaststättenerlaubnis ist ein Verwaltungsakt, der keine offensichtliche bauliche Veränderung oder sonstige klare äußere Handlung mit sich bringt, die auf eine konkrete behördliche Entscheidung schließen lässt. Die bloße Eröffnung eines Lokals signalisiert dem Nachbarn nicht zwingend, wann und welcher Art eine behördliche Erlaubnis vorliegt. Im Gaststättenrecht (und allgemein bei anderen Erlaubnissen) gibt es keine gefestigte Praxis in der Rspr., die eine Frist aus faktischer Kenntnis abzuleiten. Stattdessen wird hier ausschließlich mit der Figur der
Verwirkunggearbeitet, wenn jemand über längere Zeit untätig bleibt, obwohl er die Belastung kennt. Ich hoffe, ich konnte dir damit weiterhelfen. Viele Grüße - Linne, für das Jurafuchs-Team