Strafrecht
Examensrelevante Rechtsprechung SR
Entscheidungen von 2021
Die Garantenstellung als besonderes persönliches Merkmal
Die Garantenstellung als besonderes persönliches Merkmal
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
A und B fahren betrunken in ihren Autos. A fährt voraus, B folgt ihm. An einer Kreuzung übersieht A den vorfahrtsbrechtigten Radfahrer R und überfährt ihn. R ist tödlich verletzt. A denkt zwar, er könne R noch retten. A bittet B, As defektes Fahrzeug abzuschleppen, um As Tat zu verdecken. B folgt As Bitte.
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Einordnung des Falls
Der BGH hat klargestellt, dass die Garantenstellung aus Ingerenz, also aufgrund eines früheren Fehlverhaltens, ein besonderes persönliches Merkmal darstellt. Dieses kann nicht einfach auf andere Beteiligte übertragen werden kann. Dies entschied das Gericht in einem Fall, in dem ein Autofahrer nach einem tödlichen Unfall einem Freund bei der Beseitigung von Beweismitteln geholfen hatte. Der Fahrer war auf Bitten seines Freundes, der den Unfall unter Alkoholeinfluss und ohne Führerschein verursacht hatte, an den Unfallort zurückgekehrt.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Hat A hat durch das Anfahren des R gem. § 211 Abs. 1, 2 Var. 9 StGB strafbar gemacht?
Nein!
Jurastudium und Referendariat.
2. Hat A sich durch das Nichthelfen und Wegfahren des Mordes durch Unterlassen (§§ 211 Abs. 1, 2 Var. 9, 13 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht?
Nein, das ist nicht der Fall!
3. Hat A sich durch das Nichthelfen des versuchten Mordes durch Unterlassens (§§ 211 Abs. 1, 2 Var. 9, 13 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht?
Ja, in der Tat!
4. Hat sich B durch das Nichthelfen ebenfalls des versuchten Mordes durch Unterlassen (§§ 211 Abs. 1, 2 Var. 9, 13 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht?
Nein!
5. Hat B tatbestandlich aber Beihilfe zum versuchten Mord durch Unterlassen an R geleistet (§§ 211 Abs. 1, 2 Var. 9, 13 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1, 27 StGB)?
Genau, so ist das!
6. Kommt nach der herrschenden Lehre für B nur eine Strafbarkeit wegen Beihilfe zum versuchten Totschlag durch Unterlassen in Betracht, da B selbst keine Verdeckungsabsicht innehatte?
Ja, in der Tat!
7. Ist B nach der Rechtsprechung wegen Beihilfe zum versuchten Mord durch Unterlassen zu bestrafen?
Ja!
8. Fehlt dem B nach Auffassung des BGH ein weiteres strafbegründendes persönliches Merkmal (§ 28 Abs. 1 StGB), weil er keine Garantenpflicht hat (§ 13 Abs. 1 StGB)?
Genau, so ist das!
9. Ist die Strafe zweimal nach § 28 Abs. 1 StGB zu mildern, weil dem B zwei persönliche strafbegründende Merkmale (Verdeckungsabsicht und Ingerenz) fehlen?
Nein, das trifft nicht zu!
10. Kann hier insgesamt der Strafrahmen zugunsten des B bis zu drei Mal über § 49 StGB gemildert werden?
Ja!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Donald
17.4.2023, 23:41:23
Wieder einmal äußerst gelungen aufgearbeitet und dargestellt! Danke
Lukas_Mengestu
18.4.2023, 15:35:29
Vielen Dank, Donald!
Flohm
21.8.2023, 19:04:29
Wieso ist die (fehlende)
Garantenstellungbei B für §28 I relevant ? Und wieso ist entscheidend ob diese ein
Tat- oder täterbezogenes Merkmal ist ? (Frage 8)
Leo Lee
25.8.2023, 11:31:53
Hallo Flohm, die
Garantenstellungist insoweit für § 28 I StGB relevant, als sie ein besonderes persönliches Merkmal nach der Literatur darstellt (a.A. Rspr.). Zudem ist es deshalb wichtig, ob es ein
tat- oder täterbezogenes Merkmal ist, weil je nach dem entweder § 28 I oder II StGB einschlägig ist :). Liebe Grüße - für das Jurafuchsteam - Leo
Just4law
29.8.2023, 10:26:31
Lieber Leo Lee, ich denke, der zweite Satz deiner Antwort ist falsch. Sowohl § 28 I als auch § 28 II StGB finden beide nur bei täterbezogenen und nicht bei
tatbezogenen Merkmalen Anwendung (s. Wortlaut: besondere "persönliche" Merkmale). Die Differenzierung zwischen Abs. 1 und Abs. 2 im Fall hängt von den verschiedenen Auffassungen von Literatur und Rspr. über das Verhältnis von Totschlag und Mord ab. Lieber Flohm, es ist entscheidend, weil § 28 StGB nur auf besondere "persönliche" (= täterbezogene) Merkmale Anwendung findet. Im Fall von
tatbezogenen Merkmalen findet § 28 StGB keine Anwendung. Zu deiner ersten Frage: Die (fehlende)
Garantenstellungist für § 28 StGB nur relevant, wenn man sie als täter- bzw. personenbezogenes Merkmal iSv. § 14 I StGB wertet. Andernfalls ist § 28 StGB nicht anwendbar in Bezug auf die
Garantenstellung.
David
4.4.2024, 22:57:02
Ein sehr gelungenes Kapitel! Generell möchte ich dahingehend mein Lob an euch aussprechen, dass es euch meiner Ansicht nach gelingt, den - im Grunde ja auch in den gängigen Jura-Lehrbüchern auffindbaren - Stoff wesentlich anschaulicher und kurzweiliger aufzubereiten, ohne die inhaltlichen Anforderungen herabzusenken. Hierdurch bleibt trotz der menschlichen ,,Vergessenskurve'' (a) enorm viel hängen und (b) entsteht eine ganz andere Atmosphäre, die das Jura-Lernen wirklich zu einem Vergnügen werden lässt, wie es bei mir bisher mit keinem Skript oder Lehrbuch aufgekommen ist! Auch die Definitionssammlungen mit der KI-Funktion sind meines Erachtens wahnsinnig hilfreich und innovativ. Ich war anfangs zugegebenermaßen eher skeptisch, als ich das erste Mal von eurem Format des Jurastudiums gehört habe. Mittlerweile ist die App aber nicht mehr aus meinem Alltag wegzudenken, von daher weiter so!
Lukas_Mengestu
10.4.2024, 09:22:15
Wow David, vielen Dank für die lieben Worte! Das freut uns wirklich sehr und wir wünschen Dir auch für die weitere Vorbereitung alles Gute und viel Erfolg!
FalkTG
28.4.2024, 15:13:06
Wäre die
Tatnicht möglicherweise sogar 4 mal zu mindern? -> Beihilfe -> 28 -> Versuch -> Unterlassen, 13 II
TubaTheo
3.6.2024, 22:18:29
B begeht die Beihilfe ja nicht durch Unterlassen, sondern durch
aktives Tun(Wegfahren). § 13 trifft nur auf A zu. Da wäre wohl eine Strafmilderung nach § 13 II und § 23 II möglich. Bei B bleibt es allerdings wie gesagt nur bei den ersten drei. Ich hoffe, du verstehst was ich meine :)
Wolli
17.5.2024, 15:52:35
Warum verwirklicht der B nicht selbst die
Verdeckungsabsicht? Dies ist doch auch möglich zur Verhinderung der Aufdeckung der Täterschaft eines Anderen, was mittels Verbringen des Täters vom
Tatort doch verwirklicht ist, oder? Mangels Identifizierung des Opfers brauchte der B den Tod des Radfahrers nicht zwangsläufig, sodass sogar dolus eventualis ausreichen würde...
Linne_Karlotta_
29.10.2024, 08:59:46
Hey @[Wolli](208773), danke für die gute Nachfrage.
Tatsächlich hat das LG Aachen zunächst
Verdeckungsabsichtbei B angenommen. Der BGH ist dem aber entgegengetreten: in den Urteilsgründen fänden sich keine Anhaltspunkte, aus der auf
Verdeckungsabsichtgeschlossen werden könnte. B hatte nämlich im Prozess geschwiegen. Andere
tatsächliche Indizien zu seinem Motiv gab es nicht. Die Beweiswürdigung des LG stand damit nicht auf einer tragfähigen
Tatsachenbasis, sondern war nach Ansicht des BGH eine bloße
Vermutung(RdNr. 11ff). Das reicht nicht aus, um die
Verdeckungsabsichtpositiv feststellen zu können. Aus didaktischen Gründen haben wir es hier im Fall jetzt aber deutlich gemacht, dass B nicht mit
Verdeckungsabsichthandelte (siehe Antwort 6). Liebe Grüße, Linne – für das Jurafuchs-Team
bebop
9.6.2024, 16:12:21
Wäre es möglich §38 StGB zu erwähnen, damit man die Rechnung besser nachvollziehen kann, insbesondere mit Bezug auf die 15 Jahre Freiheitsstrafe und Mindestmaß 1 Monat. Liebe Grüße, bebop
jc1909
21.7.2024, 12:57:06
Warum hat B hier keine eigene
Verdeckungsabsicht? Er war bei dem gesamten Geschehen dabei und fährt A bewusst nach Hause, obwohl er Kenntnis von As
Garantenstellunghat. Zumindest nach lebensnaher Auslegung hat B hier mE auch
Verdeckungsabsicht, oder wäre das zu viel „Sachverhaltsquetsche“?
Linne_Karlotta_
29.10.2024, 08:58:22
Hey @[jc1909](167873), danke für die gute Nachfrage!
Tatsächlich hat das LG Aachen zunächst
Verdeckungsabsichtbei B angenommen. Der BGH ist dem aber entgegengetreten: In den Urteilsgründen fänden sich keine Anhaltspunkte, aus der auf
Verdeckungsabsichtgeschlossen werden könnte. B hatte nämlich im Prozess geschwiegen. Andere
tatsächliche Indizien zu seinem Motiv gab es nicht. Die Beweiswürdigung des LG stand damit nicht auf einer tragfähigen
Tatsachenbasis, sondern war nach Ansicht des BGH eine bloße
Vermutung(RdNr. 11ff). Das reicht nicht aus, um die
Verdeckungsabsichtpositiv feststellen zu können. Aus didaktischen Gründen haben wir es hier im Fall jetzt aber deutlich gemacht, dass B nicht mit
Verdeckungsabsichthandelte (siehe Antwort 6). Liebe Grüße, Linne – für das Jurafuchs-Team
Amelie7
30.10.2024, 13:04:02
In der Aufgabenstellung steht ja deutlich, dass A B bittet, As defektes Auto abzuschleppen. Inwiefern ist das eine Beihilfehandlung zum versuchten
Verdeckungsmord durch Unterlassen? Soll sich A laut SV ebenfalls im Auto befinden, so dass B ihn darin unterstützt keine Rettungshandlungen vorzunehmen? Oder reicht ansonsten eine Beihilfehandlung zum Verdeckungsmord aus, wenn man Beweismittel verschwinden lässt? Das ist ja alleine eine Beihilfe zum verdecken, nicht zum töten.
Leo Lee
16.11.2024, 05:01:55
Hallo Amelie7, vielen Dank für die sehr gute und wichtige Frage! Die Beihilfehandlung ist im hiesigen Fall darin zu sehen, dass durch das Abschleppen des B, der A vom
Tatort "davonkommt" und zunächst auch keine Spuren hinterlassen werden (defektes Auto ist weg). Insofern hast du mit deinem Gefühl, Beweismittel "verschwinden" zu lassen völlig recht. Der Begriff des Hilfeleisten wird insofern sehr großzügig angewandt! Hierzu kann ich i.Ü. die Lektüre vom MüKo-StGB 5. Auflage, Scheinfeld § 27 Rn. 5 ff. sehr empfehlen :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo