Anforderungen an den Tatentschluss beim versuchten Unterlassungsdelikt


+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

T fährt O unachtsam mit dem Auto an und verletzt O schwer. T denkt, O könne durch ärztliche Hilfe eventuell noch gerettet werden. Er nimmt seinen Tod aber in Kauf und fährt weiter. O stirbt. Bei direkter ärztlicher Hilfe hätte es geringe Überlebenschancen gegeben.

Einordnung des Falls

Anforderungen an den Tatentschluss beim versuchten Unterlassungsdelikt

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. T hat sich wegen Totschlags strafbar gemacht, indem er O anfuhr (§ 212 Abs. 1 StGB).

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Nein, das trifft nicht zu!

Der objektive Tatbestand des Totschlags erfordert die Tötung eines anderen Menschen. In subjektiver Hinsicht ist Vorsatz erforderlich. Der Täter handelt vorsätzlich, wenn er mit dem Willen zur Verwirklichung des Tatbestands (voluntatives Element) in Kenntnis aller objektiven Tatumstände (kognitives Element) handelt. Der Unfall geschah versehentlich. Mangels Tötungsvorsatz hat T sich deshalb nicht wegen vollendeten Totschlags strafbar gemacht, indem er O angefahren und so schwer verletzt hat, dass dieser verstorben ist.

2. T könnte sich aber wegen Tötung durch Unterlassen strafbar gemacht haben, indem er nach dem Unfall mit O keine Rettungshandlung vornahm (§§ 212 Abs. 1, 13 StGB).

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Ja!

Objektiv erfordert ein Totschlag durch Unterlassen (1) den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs (Tod), (2) das Unterlassen der gebotenen und möglichen Rettungshandlung, (3) die (Quasi-)Kausalität zwischen Unterlassen und Erfolg, (4) die objektive Zurechenbarkeit sowie (5)eine Garantenstellung. Subjektiv ist Tötungsvorsatz erforderlich. In der Originalentscheidung ging es zusätzlich um den Vorwurf des Mordes, da T weiterfuhr, um die Entdeckung des Unfalls zu verhindern (=Verdeckungsabsicht).

3. Hätte T sofort den Notruf gewählt, wäre Os Tod mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeblieben (§§ 212 Abs. 1, 13 StGB).

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Nein, das ist nicht der Fall!

Mangels Handlung ist die Conditio-sine-qua-non-Formel beim Unterlassungsdelikt zu modifizieren: Ein Unterlassen ist dann für den Erfolgseintritt kausal, wenn die gebotene und physisch-reale Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele (Quasi-Kausalität). Dass Os Tod ausgeblieben wäre, wenn T sofort den Notruf herbeigerufen hätte, kann nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden. Nach dem Grundsatz in dubio pro reo muss die hypothetische Kausalität daher verneint werden. Ein Teil der Literatur überträgt die beim Fahrlässigkeitsdelikt verbreitete Risikoerhöhungslehre als Risikoverminderungstheorie auf das Unterlassungsdelikt. Danach soll es ausreichen, dass die Vornahme der Handlung das Risiko des Erfolgseintritts verringert hätte. Dagegen spricht, dass so gänzlich auf einen Kausalzusammenhang verzichtet wird und Verletzungs- in Gefährdungsdelikte umgewandelt werden.

4. T könnte sich aber wegen versuchter Tötung durch Unterlassen strafbar gemacht haben (§§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB).

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Ja, in der Tat!

Eine Versuchsstrafbarkeit setzt voraus, dass der Täter mit (1) Tatentschluss zur Tatbestandsverwirklichung (2) unmittelbar ansetzt, (3) rechtswidrig und schuldhaft handelt und (4) nicht strafbefreiend zurückgetreten ist. Da ein vollendeter Totschlag (durch Unterlassen) aufgrund der fehlenden Quasi-Kausalität ausscheidet, kommt lediglich eine Versuchsstrafbarkeit in Betracht. Totschlag ist ein Verbrechen (§ 12 Abs. 1 StGB), sodass der Versuch stets strafbar ist (§ 23 Abs. 1 StGB). Das gilt auch für einen Totschlag durch Unterlassen.

5. In subjektiver Hinsicht (Tatentschluss) genügt es, dass T Vorsatz in Bezug auf die objektiven Merkmale des Totschlags durch Unterlassen (§§ 212 Abs. 1, 13 StGB) hatte.

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Nein!

Der Tatentschluss umfasst den Vorsatz bezüglich aller objektiven Tatbestandsmerkmale sowie eventuell vorliegende deliktsspezifische subjektive Tatbestandsmerkmale. Deshalb muss der Täter bei einem versuchten Unterlassungsdelikt auch die besonderen Merkmale der Unterlassungstat in den Vorsatz aufnehmen. Ein versuchter Totschlag durch Unterlassen setzt daher zusätzlich Tatentschluss hinsichtlich dem Unterlassen, der physisch-realen Handlungsmöglichkeit, der hypothetischen Kausalität zwischen Unterlassen und Erfolg sowie der Garantenstellung voraus.

6. Der 5. BGH-Senat nahm bislang einen Tatentschluss hinsichtlich der Quasi-Kausalität nur an, wenn der Täter die Vorstellung hatte, dass die vorgestellte Rettungshandlung den Tod mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindern würde.

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Genau, so ist das!

Nach dem Urteil des 5. Senats des BGH im “Göttinger Organspendeskandal” (BGH NJW 2017, 3249) erfordert ein Tatentschluss bei einer versuchten Tötung durch Unterlassen, dass der Täter in dem Bewusstsein die Rettungshandlung unterlässt, der Rettungserfolg werde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintreten. Im vorliegenden Fall war T sich nicht sicher, dass ein Arzt O noch hätte retten könnte. Er handelte also nicht in dem Bewusstsein, dass der unterbliebene Notruf den Tod des O mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert hätte. Gemessen an diesem Maßstab hatte er keinen Tatentschluss.

7. Nach ständiger Rechtsprechung des 4. BGH-Senats genügt es dagegen für den Tatentschluss beim versuchten Unterlassungsdelikt, dass der Täter den Eintritt des Rettungserfolgs für möglich hält.

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Ja, in der Tat!

Nach Ansicht des 4. Senats vermenge der 5. Senat Beweisproblematiken im Zusammenhang mit der hypothetischen Kausalität mit der Frage des Vorsatzes. Folge man dem 5. Senat wäre bedingter Vorsatz bei versuchten Unterlassungsdelikten schlechterdings ausgeschlossen und Strafbarkeitslücken entstünden. Er verweist deshalb auf seine ständige Rechtsprechung in Verkehrssachen, nach der es der Annahme hypothetischer Kausalität nicht entgegensteht, dass die Möglichkeit besteht, der Erfolg könne auch bei Vornahme der Rettungshandlung eintreten.Der Autofahrer war gegen seine Verurteilung wegen versuchten Mordes durch das LG Heilbronn in Revision gegangen und hatte dabei auf das Urteil des 5. Senats verwiesen . Diese wollte der 4. Senat verwerfen, sah sich jedoch durch das Urteil des 5. Senats gehindert. Er fragte deshalb dort an, ob er an seiner Auffassung festhalte (§ 132 Abs. 2 GVG). Der 5. Senat hat sich nunmehr der Auffassung des 4. Senats angeschlossen und seine entgegenstehende Rechtsprechung aufgegeben (Beschl. v. 27.09.2022).

8. T handelte mit Tatentschluss hinsichtlich einer versuchten Tötung durch Unterlassen (§§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB).

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Ja!

T hielt für möglich, dass O noch durch ärztliche Hilfe gerettet werden kann. Er hat vorsätzlich unterlassen, ärztliche Hilfe zu rufen, wobei er billigend in Kauf nahm, dass durch die Handlungsmöglichkeit der Tod von O ausbleiben könnte (Quasi-Kausalität). Er erkannte, dass er die Gefährdung durch das fahrlässige Anfahren verursacht hat und daher für diese verantwortlich ist. Os Tod nahm er billigend in Kauf. T hatte folglich Tatentschluss.

9. Nach herrschender Meinung hat T auch unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung angesetzt.

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Genau, so ist das!

Das unmittelbare Ansetzen beim Unterlassungsdelikt weicht vom unmittelbaren Ansetzen beim Tätigkeitsdelikt ab, da bei letzterem an das Verhalten des Täters angeknüpft wird.Die herrschende Meinung geht beim Unterlassungsdelikt von einem unmittelbaren Ansetzen (§ 22 StGB) aus, wenn die erste mögliche Rettungshandlung nicht vorgenommen wird und dadurch eine unmittelbare Gefahr für das geschützte Rechtsgut entsteht. T hat keine ärztliche Hilfe gerufen, obwohl O lebensgefährlich verletzt war. T handelte auch rechtswidrig und schuldhaft und nicht zurückgetreten. Er hat sich wegen versuchter Tötung durch Unterlassen strafbar gemacht (§§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1, 22 StGB).Mehr zum unmittelbaren Ansetzen beim Unterlassen, findest Du in unserem systematischen Kurs zum Strafrecht AT.

10. T hat sich auch wegen unerlaubtem Entfernens vom Unfallort (§ 142 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht.

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Ja, in der Tat!

Die Kollision des von T gesteuerten Pkws mit dem O ist ein Unfall im Straßenverkehr. T ist Unfallbeteiligter im Sinne von § 142 Abs. 5 StGB und hat sich auch vom Unfallort entfernt. Er ist weder der in § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB normierten Feststellungspflicht noch der Wartepflicht nach § 142 Abs. 1 Nr. 2 StGB nachgekommen. Er handelte dabei vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft. In der Klausur ist zudem an fahrlässige Tötung (§ 222 StGB), Aussetzung (§§ 221 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 StGB) sowie unterlassene Hilfeleistung (§ 323c StGB) zu denken. Diese treten aber hinter dem versuchten Tötungsdelikt zurück.

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KI

kithorx

1.10.2023, 23:50:55

Spannender Fall, verständlich aufgearbeitet!

Nora Mommsen

Nora Mommsen

3.10.2023, 15:26:43

Hallo Kithorx, danke für das tolle Feedback! Die Rückmeldung von euch motiviert uns immer ganz besonders :) Beste Grüße und einen schönen Feiertag, Nora - für das Jurafuchs-Team

Unberechtigter Untervermieter

Unberechtigter Untervermieter

14.12.2023, 08:42:39

mE handelt es sich bei 13 nicht um ein deliktsspezifisches Merkmal. Daher ist die Frage etwas verwirrend

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

19.12.2023, 15:40:47

Hallo Unberechtigter Untervermieter, ich glaube hier ist es zu einer kleinen Verwechslung gekommen. Der Tatentschluss muss sich (1) auf alle objektiven Tatbestandsmerkmale und (2) auf eventuell vorliegende deliktsspezifische, subjektive Tatbestandsmerkmale beziehen. Die zusätzlichen Voraussetzungen des § 13 StGB stellen in der Tat keine deliktsspezifischen subjektiven Merkmale dar (zB Zueignungsabsicht beim Diebstahl, Habgier beim Mord...), aber objektive Tatbestandsmerkmale von unechten Unterlassungsdelikten. Deshalb muss sich im Falle des versuchten Unterlassungsdelikts der Tatentschluss auch hierauf beziehen. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


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