Stillschweigende Haftungsbeschränkung + unentgeltliche Geschäfte

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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Klassisches Klausurproblem

W bietet seinem Kollegen L an, ihn unentgeltlich mit zum Betriebsausflug nach Potsdam zu nehmen. Aufgrund leicht überhöhter Geschwindigkeit des W kommt es zu einem Unfall bei dem L ein Schleudertrauma erleidet.

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Einordnung des Falls

Stillschweigende Haftungsbeschränkung + unentgeltliche Geschäfte

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. L könnte gegen W einen vertraglichen Schadensersatzanspruch aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB haben.

Ja, in der Tat!

Der Schadensersatzanspruch aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB setzt voraus, dass (1) ein (rechtsgeschäftliches oder gesetzliches) Schuldverhältnis besteht, (2) der Schuldner eine Schutzpflicht (§ 241 Abs. 2 BGB) verletzt hat, (3) er die Verletzung zu vertreten hat (§ 276 Abs. 1 BGB) und (4) dem Gläubiger ein Schaden entstanden ist.
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2. Durch die Mitnahme im Auto haben W und L ein rechtsgeschäftliches Schuldverhältnis in Form eines Auftrages begründet (§ 662 BGB).

Nein!

Unentgeltliche Verträge (wie z.B. der Auftrag) sind von unverbindlichen Gefälligkeitenabzugrenzen. Erklärt sich jemand unentgeltlich zur Übernahme einer Tätigkeit bereit, ist durch Auslegung (§§ 133, 157 BGB) zu ermitteln, ob er sich rechtlich binden (Rechtsbindungswille) und so für seine Zusage haften, oder ob er die Tätigkeit nur als typische Gefälligkeit des täglichen Lebens übernehmen möchte. W möchte sich durch sein Angebot nach der Verkehrsanschauung zur Durchführung der Fahrt nicht rechtlich verpflichten. Es handelt sich vielmehr um eine unverbindliche Gefälligkeit. Für einen vertraglichen Schadensersatzanspruch (§§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB) fehlt es somit bereits an dem erforderlichen Schuldverhältnis zwischen W und L.

3. L könnte gegen W einen deliktischen Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB haben.

Genau, so ist das!

Der Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB setzt voraus, dass (1) ein absolut geschütztes Recht des Geschädigten (2) kausal, (3) rechtswidrig und (4) schuldhaft durch den Schädiger verletzt wurde, wodurch dem Geschädigten ein (5) kausaler Schaden entstanden ist.

4. Indem W mit überhöhter Geschwindigkeit fuhr, hat er kausal und rechtswidrig Ls Körper und Gesundheit geschädigt.

Ja, in der Tat!

Der haftungsbegründende Tatbestand setzt zunächst voraus, dass (1) ein absolut geschütztes Recht des Geschädigten (2) kausal und (3) rechtswidrig durch den Schädiger verletzt wurde (§ 823 Abs. 1 BGB).Ls Verletzungen beruhten kausal auf Ws Geschwindigkeitsverstoß und dem dadurch veursachten Unfall. Die Rechtswidrigkeit wird bei aktivem Handeln indiziert.

5. W hat L fahrlässig verletzt.

Ja!

Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt (§ 276 Abs. 2 BGB).Die Geschwindigkeitsüberschreitung stellt einen Verkehrsverstoß dar und insoweit jedenfalls leicht fahrlässiges Handeln des W.

6. Bei reinen Gefälligkeitsverhältnissen ist das Verschulden nach einem Teil der Literatur auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit begrenzt.

Genau, so ist das!

e.A. (z.B. Medicus): Es bestehe ein allgemeiner Rechtsgedanke, nach dem auch bei reinen Gefälligkeiten die vertraglichen Haftungsbeschränkungen auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit (§§ 521, 599) bzw. Haftung für eigenübliche Sorgfalt (diligentia quam in suis, § 690 BGB) analog angewendet werden ("Gesamtanalogie"). Dies entschärfe auch die oft schwierige Abgrenzung zwischen Vertrag und Gefälligkeitszusage.

7. Da W den L unentgeltlich mitgenommen hat, ist seine Haftung nach der herrschenden Meinung generell auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit beschränkt.

Nein, das trifft nicht zu!

BGH: Die Haftungsbeschränkungen einzelner Gefälligkeitsverträge könnten nicht allgemein auf Gefälligkeitsverhältnisse ausgedehnt werden. Dies ergebe sich schon daraus, dass auch bei einzelnen unentgeltlichen Gefälligkeitsverträgen, wie dem Auftrag (§ 662 BGB) keine Haftungsbeschränkung vorgesehen sei. Zudem könne, wer sich der vertraglichen Bindung entzieht (im Rahmen eines Gefälligkeitsverhältnisses), keine vertraglichen Privilegierungen in Anspruch nehmen.

8. W und L haben stillschweigend vereinbart, dass die Haftung auf grobe Fahrlässigkeit beschränkt ist.

Nein!

Eine vertragliche Haftungsbegrenzung kann ausdrücklich oder stillschweigend vereinbart werden. Für eine stillschweigende Vereinbarung bedarf es konkreter Anhaltspunkte. BGH: Daran fehle es, wenn hierfür nur der Gesichtspunkt der Gefälligkeit oder die zwischen den Beteiligten bestehenden nahen Beziehungen angeführt werden können. Neben der Unentgeltlichkeit der Fahrt liegen keine Anhaltspunkte vor, dass L und W die Haftung beschränken wollten. Gegen eine stillschweigenden Beschränkung spricht auch, dass diese letztlich nur der Kfz-Haftpflichtversicherung des W zugutekäme.

9. L hat einen deliktischen Anspruch auf Schadensersatz gegen W aus § 823 Abs. 1 BGB.

Genau, so ist das!

Der Anspruch setzt voraus, dass (1) ein absolut geschütztes Recht des Geschädigten (2) kausal, (3) rechtswidrig und (4) schuldhaft durch den Schädiger verletzt wurde, wodurch dem Geschädigten ein (5) kausaler Schaden entstanden ist (§ 823 Abs. 1 BGB).Ls Verletzungen beruhten kausal auf Ws rechtswidrigem Verstoß gegen die Geschwindigkeitsvorschriften. Ws Haftung ist nicht auf grobe Fahrlässigkeit begrenzt, weswegen der fahrlässige Verstoß genügt. In der Folge kann L sämtliche kausalen Schäden (zB Heilbehandlungskosten) ersetzt verlangen.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

ELA

Elarp

1.2.2022, 12:58:21

Warum wird bei Aufgabe 1 ein Schadensersatzanspruch aus §280 I BGB für möglich gehalten, wenn der Sachverhalt keinen Anhaltspunkt für ein rechtsgeschäftliches oder rechtsgeschäftsähnliches Schuldverhältnis bietet?

VIC

Victor

1.2.2022, 14:57:48

Um die Abgrenzung

Gefälligkeit

sV mit Rechtsbindungswille/

Gefälligkeit

des täglichen Lebens ohne Rechtsbindungswille hervorzuheben und hinsichtlich der oft nicht einfachen Abgrenzung zu sensibilisieren. In einem Gutachten wäre das gerade zu thematisieren. Da im SV keine Anhaltspunkte für einen RBW besteht kann man sich da kurz fassen.

QUIG

QuiGonTim

22.7.2022, 17:07:12

Das Für-möglich-Halten in der ersten Aufgabe ist eher als Obersatz zu verstehen. Er leitet die Prüfung ein.

Burumar🐸

Burumar🐸

4.5.2022, 12:59:25

In Vorlesung und AG wurde bei uns gelehrt, dass in solchen Fällen auch ein Anspruch aus §280I, 241II i. v. m. 311II Nr.3 bestehen könnte. Es wird also nicht zwischen

Gefälligkeitsvertrag

und

Gefälligkeit

ssverhältnis unterschieden, sonder in drei Schritten:

Gefälligkeitsvertrag

,

Gefälligkeitsverhältnis

und reine

Gefälligkeit

. Dazu finde sich auch (wenn auch nur beiläufig) etwas in den gängingen Lehrbüchern (Brox/Walker und Looschelders). Sollte man ggf. mit aufnehmen.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

4.5.2022, 16:08:48

Hallo Burumar, in der Tat wird dies teilweise in der Literatur vertreten. Von der hM (u.a. der Rechtsprechung) wird diese Unterteilung dagegen nicht geteilt. Das "

Gefälligkeitsverhältnis

mit rechtsgeschäftsähnlichem Charakter", welches lediglich Schutz-, aber keine

Leistungspflicht

en begründet, wird u.a. deshalb abgelehnt, da sich § 311 Abs. 2 Nr. 3 BGB ausschließlich auf geschäftliche Kontakte beschränkt und insofern rein soziale Kontakte gerade nicht einbezieht (vgl. auch Grüneberg, in: Grüneberg, 81.A. 2022, Einl. v. § 241 RdNr. 8). Wir nehmen das aber gerne noch auf unsere Liste auf und ergänzen hier einige Aufgaben in Abgrenzung zu den Fällen zur "reinen

Gefälligkeit

". Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

RAP

Raphaeljura

4.6.2023, 03:35:09

Bei

Gefälligkeit

en liegt kein Rechtsgeschäft vor, so dass nur eine deliktische Haftung in Betracht kommt. Kann bei einer deliktischen Haftung eine Haftungsprivilegierung vereinbart werden, ohne dass ein Rechtsgeschäft vorliegt?

HAX

haxna

16.1.2024, 16:00:07

Kann mir jemand erklären, warum eine stillschweigende Haftungsprivilegierung nur der Versicherung zugute kommt und nicht dem Schädiger? Ich stehe da immer auf dem Schlauch..

WO

Wolli

25.1.2024, 10:39:22

Selbst wenn der Schädiger mangels Haftungsprivilegierung hier zahlen müsste würde im Ergebnis wg. seiner regressmöglichkeit bei der Versicherung allein diese haften. Rein wirtschaftlich betrachtet käme also die Annahme einer konkludenten Haftungsprivilegierung allein der Versicherung zugute.

QUIG

QuiGonTim

29.1.2024, 07:04:55

Könnte mir bitte nochmal jemand erklären, warum hier (im Vergleich zu den Blumentopffällen) keine stillschweigende Haftungsprivilegierung angenommen wird? Im Sachverhalt ist die Haftpflichtversicherung nicht erwähnt. Außerdem wäre es kaum denkbar, dass der Fahrer, wäre die Rechtslage vorher besprochen worden, nicht berechtigterweise einen Haftungsausschluss für leichte Fahrlässigkeit gefordert hätte. Angesichts des auch bei bloß leichter Fahrlässigkeit hohen Gefahrenpotentials des Straßenverkehrs und dem damit einhergehenden Haftungsrisiko für den Fahrer wäre einen solchen Ansinnen wohl nachvollziehbar.

kaan00

kaan00

30.1.2024, 10:48:15

Ja das frage ich mich auch und war die Tatsache, dass es sich um die Anreise zu einem Betriebsausflug (?) handelt gar nicht zu thematisieren?

HannaHaas

HannaHaas

7.2.2024, 18:37:54

Ich denke der Unterschied zum Blumentopffall liegt darin, dass der Fahrer vorliegend eine Kfz Haftpflichtversicherung hat (steht im Vertiefungshinweis) und schon deswegen nicht stillschweigend einen Haftungsausschluss für leichte Fahrlässigkeit ausschließen kann, denn seine Versicherung würde dafür einstehen. Wenn er diese Haftung aber ausschließt, dann würde dies nur seiner Versicherung zugutekommen (sie müsste gar nicht mehr für die leichte Fahrlässigkeit einstehen). Beim Blumentopffall hat der B wiederum keine Versicherung( die dann besser stehen würde, wenn er einen solchen Haftunsausschluss vereinbaren würde), sondern der Haftungsausschluss käme nur ihm zugute. Daher gilt die Vereinbarung zu seinen Gunsten als stillschweigend vereinbart. Naja ich hoffe, dass ich das selber verstanden habe und weiterhelfen konnte :)

Peter im Pech

Peter im Pech

20.2.2024, 15:35:29

Also ich verstehe hier den theoretischen Grundgedanken. Aber letztlich muss der Versicherungsnehmer durch die höheren Versicherungsbeiträge nach dem Unfall ja auch wieder dafür aufkommen. Als Jungfahrer und Unfallverursacher merkt man das ganz schnell am eigenen Geldbeutel;( Spielt diese Erwägung eine Rolle?

Natze

Natze

29.8.2024, 15:05:36

Der erhöhte Versicherungsbeitrag spielt keine Rolle. Habe ich auch mal unseren Prof gefragt 😊

MK-

MK-

13.5.2024, 14:31:47

Ich verstehe nicht ganz, weshalb im Rahmen deliktischer Ansprüche über eine etwaig (komkludent) vereinbarte Haftungsbeschränkung diskutiert wird… wenn schon kein Rechtsbindungswille bzgl. eines Vertragsverhältnisses angenommen wird, können doch schon garnicht Vereinbarungen hinsichtlich möglicher Haftungsbeschränkungen einschlägig sein, oder nicht?

Maximilian Puschmann

Maximilian Puschmann

13.5.2024, 18:26:57

Hallo MK-,  Grund hierfür ist, dass die Abgrenzung zwischen reinen unverbindlichen

Gefälligkeit

en im Alltag und so genannten "

Gefälligkeit

sverträgen" fließend ist. Jedoch steht in solch einem Fall der nette Freund, der dich als

Gefälligkeit

irgendwohin mitnimmt, schlechter da. Deswegen versuchen Stimmen in der Literatur dem abzuhelfen, indem sie die Haftung auf Vorsatz und Fahrlässigkeit beschränken wollen.  Beste Grüße Max - für das Jurafuchs-Team


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