Öffentliches Recht

Grundrechte

Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG)

Sachlicher Schutzbereich der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG): Nonverbale Kommunikation genügt (Schweigemarsch)

Sachlicher Schutzbereich der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG): Nonverbale Kommunikation genügt (Schweigemarsch)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

A, B und C postieren sich in Bomberjacke und Springerstiefeln schweigend neben der Demo "Linke Freiräume schaffen". Plakate oder sonstige Hilfsmittel der Kommunikation haben sie nicht. Das AG verurteilt A wegen fahrlässiger Teilnahme an einer unerlaubten Ansammlung (§ 113 OWiG).

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Einordnung des Falls

Sachlicher Schutzbereich der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG): Nonverbale Kommunikation genügt (Schweigemarsch)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 2 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Teilnehmer einer Versammlung müssen sich mündlich äußern, damit der sachliche Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG eröffnet ist.

Nein, das ist nicht der Fall!

Art. 8 Abs. 1 GG schützt das Recht, "sich zu versammeln". Nach dem Versammlungsbegriff ist eine Versammlung (1) eine örtliche Zusammenkunft (2) mehrerer Personen (3) zu einem gemeinsamen Zweck. Der gemeinsame Zweck der Versammlung muss nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG in der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung liegen und sich in irgendeiner Weise nach außen manifestieren. Die danach vorausgesetzte, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtete Erörterung oder Kundgebung ist nicht auf verbale Äußerungen angewiesen.
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2. Wenn sich die Teilnehmer nicht mündlich äußern, so müssen sie zumindest andere Hilfsmittel der Kommunikation (wie etwa Transparente, Flyer, Banner) benutzen.

Nein, das trifft nicht zu!

Ausreichend für einen kollektiven Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung ist schlüssiges Verhalten. BVerfG: "Ein kollektiver Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung kann auch nonverbal, durch schlüssiges Verhalten wie beispielsweise durch einen Schweigemarsch, geäußert werden" (RdNr. 23). Der Schweigemarsch stellt ein Gegenbild der angemeldeten Demonstration "Keine schweigenden Provinzen" dar. Die Bekleidung sowie das Schweigen ergeben zusammen eine eigenständige Aussage, die für einen kollektiven Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung ausreicht. Der sachliche Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG ist eröffnet.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Isabell

Isabell

29.2.2020, 12:28:32

In dem der Antwort zugrundeliegenden Fall der Demo "keine schweigenden Provinzen" stellt ein komplett stummer Pulk an Personen erkennbar eine spiegelbildliche Gegenbewegung dar. Allerdings kann ich der Antwort nicht ganz entnehmen, ob zur Annahme einer derart ausgeführten Versammlung diese Spiegelbildlichkeit erforderliche Voraussetzung ist und wenn ja, wo dann im konkreten Beispiel diese zu sehen sein soll.

SNEU

Stefan Thomas Neuhöfer

2.4.2020, 18:08:32

Hi, danke für die Frage! Ich verstehe leider nicht ganz, wie Du auf das Kriterium der Spiegelbildlichkeit kommst. Vielleicht kannst Du mir da auf die Sprünge helfen? Nach dem BVerfG ist Versammlung ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung. Die Versammlungsfreiheit schützt Versammlungen und Aufzüge – im Unterschied zu bloßen Ansammlungen oder Volksbelustigungen – als Ausdruck gemeinschaftlicher, auf Kommunikation angelegter Entfaltung. Dieser Schutz ist nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen.

SNEU

Stefan Thomas Neuhöfer

2.4.2020, 18:09:23

Daher gehören auch solche Zusammenkünfte dazu, bei denen die Versammlungsfreiheit zum Zwecke plakativer oder aufsehenerregender Meinungskundgabe in Anspruch genommen werden. Bei einer Versammlung geht es darum, dass die Teilnehmer nach außen – schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und des Umgangs miteinander oder die Wahl des Ortes – im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen (vgl. RdNr. 19). Von Spiegelbildlichkeit ist im Urteil (und meines Wissens auch sonst in der Rechtsprechung) aber nie ausdrücklich die Rede. Viele Grüße Für das Jurafuchs-Team - Stefan

TJU

Tr(u)mpeltier junior

27.12.2020, 11:22:10

Moin Stefan, wie ihr in der Antwort zu recht schreibt, bedarf es zumindest eines schlüssigen Verhaltens, um noch als Versammlung zu zählen. Isa bell's Hinweis verstehe ich dahingehend, dass es an einem solchen konkludenten Verhalten hier fehlen könnte. Denn das versammlungsmotto linke Freiräume schaffen steht in keinem ersichtlichen Zusammenhang zu dem stummen protest der 3 "gegendemonstranten". Anders dagegen im ausgangsfall, wo das versammlungsmotto scheinbar "keine schweigenden Provinzen" war. Die spiegelbildliche Aktion lässt sich da deutlich eher als protest verstehen. Insofern könnte man ggfs den Sachverhalt entsprechend anpassen, um es noch klarer zu machen :)

Isabell

Isabell

27.12.2020, 12:49:09

Danke Tr(u)mpeltier Junior für die grandiose Übersetzung meiner Gedanken!

KI

killinit

15.7.2021, 13:46:36

Würde es auch unter die Versammlungsfreiheit fallen, wenn A, B und C nur zur Bedrohung/Einschüchterung dort herumstehen? Gerade die Springerstiefel können neben einem Szenemerkmal auch als Waffe benutzt werden. Wie würde man hier abgrenzen?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

20.1.2022, 18:14:31

Hallo killinit, in der zugrundeliegenden Entscheidung hat das BVerfG die Versammlungsfreiheit eröffnet gesehen. Grundsätzlich muss eine Versammlung natürlich friedlich sein, an diesem Merkmal kann es im Einzelfall fehlen. Grundsätzlich werden aber an die Unfriedlichkeit hohe Hürden gestellt. Rein psychischer Druck ist in der Regel hierfür noch nicht ausreichend. Vielmehr bedarf es Handlungen von einiger Gefährlichkeit, wie etwa aggressiver Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten (BVerfG, Urt. v. 11.11.1986, 1 BvR 713/83). Dieses Spannungsfeld wurde jüngst auch in Sachsen noch einmal deutlich, als Fackelträger vor dem Privathaus der sächsischen Gesundheitsministerin Petra Köpping aufmaschierten. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Evan Bermel

Evan Bermel

1.7.2022, 09:52:22

Fall: Leidenschaftlicher Bachata Tänzer "B" möchte eine Versammlung bei der Versammlungsbehörde anmelden, indem die Beteiligten sich für mehr öffentliche Investitionen in den Tanzsport äußern mit 2 Plakate. Auf eins steht "Tanzsport für alle!" auf den anderen steht "im Tanzsport investieren". Um Aufmerksamkeit auf dieses Thema zu ziehen wird Bachata Musik gespielt und Tanzpaare werden tanzen. Auf der Versammlungsanmeldung reagiert der Versammlungsbehörde, und verbietet "B" seiner Versammlung, da laut Versammlungsbehörde "V", eine Meinungsäußerung nicht ausreichend vorliegt, denn es muss eine mündliche Meinungsäußerung in Form von Redebeiträge geben. Der "B" klagt vor dem Verwaltungsgericht und sieht sich in seinem Versammlungsfreiheit verletzt. Hat die Klage von "B", Aussicht auf Erfolg?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

1.7.2022, 12:46:15

Hallo Evan, vielen Dank für Deine Frage. Das Forum zu den von uns dargestellten Fällen soll indes in erster Linie dazu dienen, Verständnisfragen zu diesen zu klären. Komplette Falllösungen von anderen Fallgestaltungen können wir hier aus Kapazitätsgründen nicht bieten. Schau Dir zu der von Dir geschilderten Konstellation aber gerne einmal das Heidenspaß-Urteil des BVerfG (https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Downloads/DE/2016/10/rs20161027_1bvr045810.pdf;jsessionid=483C7F11DDA49E63F8A54C629097B6A3.1_cid393?__blob=publicationFile&v=4) an bzw die auch in der App zu findende Loveparade Entscheidung. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

DO

Dominic

17.8.2023, 22:53:24

Ich habe eine Frage: Ob jemand zur Versammlung gehört, m.a.W. also Teilnehmer der Versammlung ist, das kann ja mal Probleme bereiten. Z.B. wenn jemand ohne Kostüm mit einer voll kostümierten Gruppe mitläuft, und anders als alle anderen kein Transparent hochhält etc. Die Frage, ob derjenige sich auf den Schutz der Versammlungsfreiheit berufen kann, prüfe ich doch richtigerweise im sachlichen Schutzbereich und nicht im persönlichen Schutzbereich, richtig? Denn eigentlich prüft man ja, ob auch die Handlung des konkret Betroffenen in den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit fällt. Es reicht ja wohl noch nicht zu sagen, dass die Ansammlung eine Versammlung ist.


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