Strafrecht

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Leichtfertig hervorgerufene Notwehrprovokation - Jurafuchs

Leichtfertig hervorgerufene Notwehrprovokation - Jurafuchs

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration: T provoziert O, der zunehmend wütender wird.
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Klassisches Klausurproblem

T und O streiten sich. T springt herum und gibt Kampfgeräusche von sich, während er - von O unbemerkt - ein Messer zieht. Dabei nimmt er in Kauf, dass O dieses Verhalten provoziert. O fühlt sich herausgefordert, geht auf T zu und holt zum Schlag aus. T kann den Schlag nicht anders abwehren, als O mit dem Messer in den Bauch zu stechen. Er hätte aber ausweichen können.

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Einordnung des Falls

Wer ein Angriff durch ein sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten herausgefordert, um den Gegner unter dem Deckmantel einer Notwehrlage zu verletzen, handelt rechtsmissbräuchlich. Geschieht dies vorsätzlich, ist die Berufung auf Notwehr nicht möglich. Auch wenn der Angriff nur leichtfertig provoziert wurde, wird das Notwehrrecht eingeschränkt. Dies gelte aber nicht zeitlich unbegrenzt. So müsse auf eine sichere erfolgversprechende Handlung unter Umständen verzichtet werden und das Risiko hingenommen werden, auf ein Abwehrmittel zurückzugreifen, was weniger erfolgsversprechend scheint.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Stellt das Verhalten des T tatbestandlich eine gefährliche Körperverletzung (§§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) dar?

Genau, so ist das!

Die gefährliche Körperverletzung (§§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) hat auf Tatbestandsebene folgende Voraussetzungen: (1) Objektiver Tatbestand: (a) Körperliche Misshandlung / Gesundheitsschädigung, (b) Kausalität und objektive Zurechnung, (c) Begehung der Körperverletzung mittels einer Waffe oder eines gefährlichen Werkzeugs; (2) Vorsatz. Das Stechen mit dem Messer in den Bauch ist sowohl eine körperliche Misshandlung als auch eine Gesundheitsschädigung. Das Messer stellt - je nach Art - entweder eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB dar. T handelte auch vorsätzlich.
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2. Scheidet eine Strafbarkeit aus, wenn das Verhalten des T gerechtfertigt war?

Ja, in der Tat!

Zur Tatbestandsmäßigkeit muss für eine Strafbarkeit sowohl die Rechtswidrigkeit des Verhaltens als auch die Schuld des T kommen. Hier könnte der Rechtfertigungsgrund der Notwehr (§ 32 StGB) für T eingreifen. Sofern die Voraussetzungen der Notwehr vorliegen, hat T nicht rechtswidrig gehandelt und sich daher nicht strafbar gemacht.

3. Scheidet Notwehr (§ 32 StGB) für T aus, weil die Messerverletzung schwerwiegender ist als die abgewehrte Verletzung durch den Schlag gewesen wäre?

Nein!

Die Voraussetzungen der Notwehr nach § 32 StGB sind: (1) Notwehrlage: (a) Angriff, der (b) gegenwärtig und (c) rechtswidrig ist, (2) Notwehrhandlung: (a) Erforderlichkeit, (b) Gebotenheit, (3) Subjektives Rechtfertigungselement ("Verteidigungswille"). Der Schlag des O stellt einen rechtswidrigen Angriff auf T dar, der gegenwärtig ist. Im Rahmen der Notwehr ist grundsätzlich keine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen. Es kommt nicht darauf an, ob der abgewehrte Schaden zum durch die Verteidigung angerichteten Schaden in einem angemessenen Verhältnis steht. Vielmehr muss die Abwehr nur erforderlich, d.h. der Angriff nicht mit milderen Mitteln abzuwehren sein. Das ist hier der Fall.

4. Ist das Notwehrrecht eingeschränkt, wenn T den Angriff durch sein Verhalten vorsätzlich provoziert hat?

Genau, so ist das!

Die Rechtsprechung korrigiert das weitreichende Notwehrrecht des § 32 StGB in verschiedenen Fallgruppen durch das Kriterium der Gebotenheit. Ein Verhalten ist dann nicht geboten, wenn dem Angegriffenen ein anderes Verhalten zuzumuten ist, insbesondere bei Rechtsmissbräuchlichkeit der Verteidigung. Im Fall einer Notwehrprovokation erfährt das Notwehrrecht über das Merkmal der Gebotenheit eine sozialethische Einschränkung.

5. Das Verhalten des T ist rechtswidrig. Fehlt die Gebotenheit seiner Notwehrhandlung?

Ja, in der Tat!

Es sind verschiedene Stufen der Notwehrprovokation zu unterscheiden. BGH: Bei einer Absichtsprovokation sei T das Notwehrrecht grundsätzlich versagt. Erfolge die Provokation wie hier nur (bedingt) vorsätzlich, werde dem Täter das Notwehrrecht nicht vollständig und zeitlich unbegrenzt genommen. T dürfe aber von seinem grundsätzlich gegebenen Notwehrrecht nicht bedenkenlos Gebrauch machen und sofort ein lebensgefährliches Mittel einsetzen, sondern müsse dem Angriff nach Möglichkeit ausweichen. Erst nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten der Schutzwehr sei ihm gestattet, selbst zur Trutzwehr mit lebensgefährlichen Waffen überzugehen (RdNr. 6).
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Prüfungsschema

Wie prüfst Du die Rechtfertigung wegen Notwehr (§ 32 StGB)?

  1. Notwehrlage
    1. Angriff
    2. Gegenwärtigkeit
    3. Rechtswidrigkeit
  2. Notwehrhandlung
    1. Erforderlichkeit
    2. Gebotenheit
  3. Subjektives Rechtfertigungselement ("Verteidigungswille")

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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

RAP

Raphaeljura

22.4.2023, 02:29:02

Nur für mich zur Klarstellung: Eine Einschränkung des Notwehrrechts ergibt sich durch KEBAP. Das bedeutet im Umkehrschluss der Angegriffene kann grundsätzlich alle ihm zur Verfügung stehende Mittel nutzen. Ein Exzess liegt ja erst vor wenn der Angriff nicht mehr gegenwärtig ist. Folglich könnte der Angegriffene bei Mitführen einer Schusswaffe diese auch gegen einem Faustschlag zur Anwendung bringen ? Und noch weiter. Wenn ein Angriff auf bspw Eigentum erfolgt, gilt hier dann auch die grundsätzlich unbeschränkte Anwendung des Notwehrmittels ? Wenn bspw jemand dabei ist meinem einmalig hergestellten Lamborghini zu zerstören...kann ich dann den Angriff mit der Schusswaffe abwehren, wenn ich aufgrund meiner körperlichen Unterlegenheit kein anderes Mittel habe ? Vielen Dank.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

25.4.2023, 12:20:57

Hi Raphael, hier musst Du verschiedene Punkte auseinanderhalten. Zunächst einmal benötigst Du in der Tat eine Notwehrlage, also einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff. Ist der Angriff nicht mehr gegenwärtig, liegt die Konstellation des extensiven Notwehrexzesses vor, bei dem man allenfalls über eine Entschudligung nachdenken könnte (§ 33 StGB, hM beschränkt dies aber auf intensiven Exzess). Dann kommst Du zur

Notwehrhandlung

. Bevor Du hier zur Einschränkung über das Merkmal der Gebotenheit kommst, prüfst Du aber zunächst einmal die Erorderlichkeit der

Notwehrhandlung

. Es darf kein gleich geeignetes, milderes Mittel geben. Gerade beim Einsatz von Schusswaffen wird regelmäßig ein gestuftes Vorgehen verlangt (

Drohung

, Warnschuss, Einsatz). Zu guter Letzt ist dann bei der Gebotenheit zu überprüfen, ob das Notwehrrecht nicht ausnahmsweise doch entfällt (zB wegen einem krassen Missverhältnis zwischen den betroffenen Rechtsgütern). Wichtig: Anders als beim Notstand erfolgt aber an sich keine Interessenabwägung. Die Ablehnung in Fällen des krassen Missverhältnisses ist also wirklich auf Sonderkonstellationen zu beschränken (Klassiker: Rentnerin, die auf jugendliche Äpfeldiebe schießt). Also ja, wenn Du angegriffen wirst, eine Schusswaffe bei Dir trägst und keine andere, gleich geeignete Verteidigungsmöglichkeit besteht, dann darfst Du sie auch einsetzen. Das ist Teil des "schneidigen" Notwehrrechts. Beste Grüße, Lukas

Jonas Neubert

Jonas Neubert

20.11.2023, 16:51:58

Rechtsmissbräuchlich passt besser als Rechtswidrig bei der letzten Frage.

LELEE

Leo Lee

26.11.2023, 11:17:02

Hallo Jonas Neubert, vielen Dank für dein Feedback! Selbstverständlich ist Ts Verhalten auch rechtsmissbräuchlich. Beachte allerdings, dass wir hier eine Strafbarkeit des Ts prüfen und somit auch, ob die Handlung des Ts – von seiner Warte aus – gerechtfertigt war oder nicht. D.h., wir müssen schauen, ob sein Angriff (Körperverletzung) RW oder RM war. Und weil der T sich eben rechtsmissbräuchlich verhält, fehlt seinem Angriff als Notwehr die Gebotenheit, weshalb sein Verhalten (das eben die Körperverletzung begründet) rechtswidrig ist, weil er sich eben nicht auf einen Rechtfertigungsgrund (hier Notwehr) berufen kann. Hierzu kann ich die Lektüre von Rengier AT 15. Auflage, § 18 Rn. 28 ff. empfehlen :). Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

Paul

Paul

26.3.2024, 18:33:11

Wobei im Kontext der Fragen direkt vorher, diese letzte Frage auch so verstanden werden kann, dass nach der Rechtswidrigkeit des provokanten Verhaltens gefragt wird. Vlt. könntet ihr das etwas präzisieren.

Paul

Paul

16.4.2024, 14:18:53

@[Leo Lee](213375)

JO

Johannes

5.5.2024, 16:55:02

Müsste man hier nicht den Streit thematisieren, ob auch ein nur sozialwidriges (aber nicht rechtswidriges) Vorverhalten des Täters zu einer Einschränkung seines Notwehrrechts führt? Das wird meines Wissens von der Rechtsprechung bejaht, nicht jedoch von der herrschenden Lehre.  Nicht entscheidungserheblich wäre der Streit hier natürlich, wenn man in dem Verhalten des T bereits eine strafbare Beleidigung sieht, was ich aber eher abwegig finde.


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