Strafrecht

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Leichtfertig hervorgerufene Notwehrprovokation

Leichtfertig hervorgerufene Notwehrprovokation

13. Mai 2023

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration: T provoziert O, der zunehmend wütender wird.
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Klassisches Klausurproblem

T und O streiten sich. T springt herum und gibt Kampfgeräusche von sich, während er - von O unbemerkt - ein Messer zieht. Dabei nimmt er in Kauf, dass O dieses Verhalten provoziert. O fühlt sich herausgefordert, geht auf T zu und holt zum Schlag aus. T kann den Schlag nicht anders abwehren, als O mit dem Messer in den Bauch zu stechen. Er hätte aber ausweichen können.

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Einordnung des Falls

Wer ein Angriff durch ein sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten herausgefordert, um den Gegner unter dem Deckmantel einer Notwehrlage zu verletzen, handelt rechtsmissbräuchlich. Geschieht dies vorsätzlich, ist die Berufung auf Notwehr nicht möglich. Auch wenn der Angriff nur leichtfertig provoziert wurde, wird das Notwehrrecht eingeschränkt. Dies gelte aber nicht zeitlich unbegrenzt. So müsse auf eine sichere erfolgversprechende Handlung unter Umständen verzichtet werden und das Risiko hingenommen werden, auf ein Abwehrmittel zurückzugreifen, was weniger erfolgsversprechend scheint.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Stellt das Verhalten des T tatbestandlich eine gefährliche Körperverletzung (§§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) dar?

Genau, so ist das!

Die gefährliche Körperverletzung (§§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) hat auf Tatbestandsebene folgende Voraussetzungen: (1) Objektiver Tatbestand: (a) Körperliche Misshandlung / Gesundheitsschädigung, (b) Kausalität und objektive Zurechnung, (c) Begehung der Körperverletzung mittels einer Waffe oder eines gefährlichen Werkzeugs; (2) Vorsatz. Das Stechen mit dem Messer in den Bauch ist sowohl eine körperliche Misshandlung als auch eine Gesundheitsschädigung. Das Messer stellt - je nach Art - entweder eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB dar. T handelte auch vorsätzlich. Den Prüfungsaufbau der gefährlichen Körperverletzung mittels Waffe oder gefährlichen Werkzeugs kannst Du hier wiederholen.
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2. Scheidet eine Strafbarkeit aus, wenn das Verhalten des T gerechtfertigt war?

Ja, in der Tat!

Zur Tatbestandsmäßigkeit muss für eine Strafbarkeit sowohl die Rechtswidrigkeit des Verhaltens als auch die Schuld des T kommen. Hier könnte der Rechtfertigungsgrund der Notwehr (§ 32 StGB) für T eingreifen. Sofern die Voraussetzungen der Notwehr vorliegen, hat T nicht rechtswidrig gehandelt und sich daher nicht strafbar gemacht.

3. Scheidet Notwehr (§ 32 StGB) für T aus, weil die Messerverletzung schwerwiegender ist als die abgewehrte Verletzung durch den Schlag gewesen wäre?

Nein!

Die Voraussetzungen der Notwehr nach § 32 StGB sind: (1) Notwehrlage: (a) Angriff, der (b) gegenwärtig und (c) rechtswidrig ist, (2) Notwehrhandlung: (a) Erforderlichkeit, (b) Gebotenheit, (3) Subjektives Rechtfertigungselement ("Verteidigungswille"). Der Schlag des O stellt einen rechtswidrigen Angriff auf T dar, der gegenwärtig ist. Im Rahmen der Notwehr ist grundsätzlich keine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen. Es kommt nicht darauf an, ob der abgewehrte Schaden zum durch die Verteidigung angerichteten Schaden in einem angemessenen Verhältnis steht. Vielmehr muss die Abwehr nur erforderlich, d.h. der Angriff nicht mit milderen Mitteln abzuwehren sein. Das ist hier der Fall.

4. Ist das Notwehrrecht eingeschränkt, wenn T den Angriff durch sein Verhalten vorsätzlich provoziert hat?

Genau, so ist das!

Die Rechtsprechung korrigiert das weitreichende Notwehrrecht des § 32 StGB in verschiedenen Fallgruppen durch das Kriterium der Gebotenheit. Ein Verhalten ist dann nicht geboten, wenn dem Angegriffenen ein anderes Verhalten zuzumuten ist, insbesondere bei Rechtsmissbräuchlichkeit der Verteidigung. Im Fall einer Notwehrprovokation erfährt das Notwehrrecht über das Merkmal der Gebotenheit eine sozialethische Einschränkung.

5. Das Verhalten des T ist rechtswidrig. Fehlt die Gebotenheit seiner Notwehrhandlung?

Ja, in der Tat!

Es sind verschiedene Stufen der Notwehrprovokation zu unterscheiden. BGH: Bei einer Absichtsprovokation sei T das Notwehrrecht grundsätzlich versagt. Erfolge die Provokation wie hier nur (bedingt) vorsätzlich, werde dem Täter das Notwehrrecht nicht vollständig und zeitlich unbegrenzt genommen. T dürfe aber von seinem grundsätzlich gegebenen Notwehrrecht nicht bedenkenlos Gebrauch machen und sofort ein lebensgefährliches Mittel einsetzen, sondern müsse dem Angriff nach Möglichkeit ausweichen. Erst nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten der Schutzwehr sei ihm gestattet, selbst zur Trutzwehr mit lebensgefährlichen Waffen überzugehen (RdNr. 6). Die Voraussetzungen der Notwehr kannst Du hier wiederholen.
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Prüfungsschema

Wie prüfst Du die Rechtfertigung wegen Notwehr (§ 32 StGB)?

  1. Notwehrlage
    1. Angriff
    2. Gegenwärtigkeit
    3. Rechtswidrigkeit
  2. Notwehrhandlung
    1. Erforderlichkeit
    2. Gebotenheit
  3. Subjektives Rechtfertigungselement ("Verteidigungswille")
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Eine Besprechung von:
Jurafuchs Brand
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