+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
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Klassisches Klausurproblem
Die Tierschützer T und S haben konkrete Hinweise darauf, dass es in der Zuchtanlage der G (Massentierhaltung) zu schweren Tierschutzverstößen kommt. Da die Behörden ohne Beweise erfahrungsgemäß untätig bleiben, verschaffen sich T und S unbefugt Zutritt zur Anlage und fertigen Beweisbilder an.
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Einordnung des Falls
Das OLG Naumburg hat die Freisprüche von drei Tierschutzaktivisten bestätigt, die auf Farmen gegangen waren, um schlechte Bedingungen zu filmen. Das Gericht entschied, dass ihr Handeln gerechtfertigt war. Die Aktivisten hatten einen Hinweis auf inakzeptable Bedingungen in einer Zuchtanlage erhalten, einschließlich Käfigen, die viel kleiner waren als gesetzlich vorgeschrieben. Da sie glaubten, dass eine Beschwerde allein keine Maßnahmen auslösen würde, betraten sie die Farmen, um die Bedingungen zu dokumentieren. Während die Staatsanwaltschaft sie wegen Hausfriedensbruchs angeklagt und Geldstrafen gefordert hatte, entschieden die unteren Gerichte, dass der Schutz des Tierwohls den Hausfrieden brach. Das OLG stimmte zu und stellte fest, dass die Behörden wahrscheinlich nicht anders handeln würden und dass der Tierschutz das Eigentumsrecht des Unternehmens überwog, da es für die Gefahr verantwortlich war.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. T und S haben sich unbefugt Zutritt zur Anlage der G verschafft. Haben sie dadurch den Tatbestand des Hausfriedensbruchs (§ 123 Abs. 1 StGB) erfüllt?
Genau, so ist das!
Nach § 123 Abs. 1 StGB macht sich strafbar, wer in die Wohnung, in die Geschäftsräume oder in das befriedete Besitztum eines anderen oder in abgeschlossene Räume, welche zum öffentlichen Dienst oder Verkehr bestimmt sind, widerrechtlich eindringt. Indem T und S die Anlage der G unerlaubt betraten, haben sie die gegenständliche Grenze des geschützten Raums gegen den Willen der G überschritten. Dabei handelten sie auch vorsätzlich bezüglich der Tatbestandsmerkmale. T und S haben folglich den Tatbestand des Hausfriedensbruchs (§ 123 Abs. 1 StGB) erfüllt.
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2. T und S wollten den Tieren helfen. Handelten sie daher in Nothilfe (§ 32 StGB)?
Nein, das trifft nicht zu!
Nothilfe ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von einem anderen abzuwenden (§ 32 Abs. 2 StGB). Die h.M. begründet § 32 StGB mit dem Gedanken des Individualrechtsgüterschutzes und dem Rechtsbewährungsprinzip. Eine Rechtfertigung käme folglich nur in Betracht, wenn man Tiere als Träger von Individualrechtsgütern ansähe und diese "andere" im Sinne des § 32 StGB sind. Dies ist umstritten. OLG Naumburg: Unabhängig davon scheitere § 32 StGB jedenfalls daran, dass seitens des LG nicht festgestellt sei, dass T und S eine gegenwärtige Gefahr von den zum Zeitpunkt des Eindringens dort befindlichen Rindern abwenden wollten (subj. Rechtfertigungselement). Aufgrund der kurzen Mastzeit der in der Anlage befindlichen Tiere mussten T und S davon ausgehen, dass die Aktion der Mehrzahl der gefilmten Tiere nicht mehr zu Gute komme, sondern nur noch den danach aufgestallten Tieren.
3. T und S könnten aber durch Notstand (§ 34 StGB) gerechtfertigt sein. Ist der Tierschutz ein notstandsfähiges Rechtsgut?
Ja!
Nach § 34 StGB gerechtfertigt handelt, wer eine gegenwärtige Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut abwendet. Vorliegend kommt es also darauf an, ob der Tierschutz ein geschütztes Rechtsgut im Sinne des § 34 StGB darstellt. Einer Ansicht zufolge seien nur höchstpersönliche Rechtsgüter notstandsfähig. Folglich unterliege ein Allgemeinrechtsgut wie der Tierschutz nicht § 34 StGB. Die überwiegende Meinung in Lehre und Rechtsprechung erkennt auch Allgemeinrechtsgüter für notstandsfähig an. OLG Naumburg: Der Tierschutz sei seit dem Jahr 2002 mit Einführung des Art. 20a GG ein Rechtsgut von Verfassungsrang und stehe damit gleichrangig neben anderen grundgesetzlich geschützten Gütern, z.B. der Grundrechte. Der Tierschutz sei ein anderes Rechtsgut im Sinne des § 34 StGB und daher notstandsfähig (RdNr. 20).
4. Lag eine Notstandslage (§ 34 StGB) vor?
Genau, so ist das!
Eine Notstandslage setzt eine zum Tatzeitpunkt gegenwärtige Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut voraus. Dabei ist unter Gefahr ein Zustand zu verstehen, in dem aufgrund tatsächlicher Umstände die Wahrscheinlichkeit der Schädigung des betroffenen Rechtsguts besteht. Gegenwärtig ist die Gefahr, wenn sie jederzeit in einen Schaden umschlagen kann. Aufgrund der tierschutzwidrigen Haltung bestand für das Wohl der Tiere eine gegenwärtige Gefahr.
5. Stellt das Eindringen und Anfertigen von Fotos eine geeignete Notstandshandlung (§ 34 StGB) dar?
Ja, in der Tat!
Eine Notstandshandlung muss zunächst geeignet sein, die Gefahr abzuwenden sowie erforderlich, also das mildeste unter mehreren zur Verfügung stehenden Mitteln darstellen. OLG Naumburg: Die Dokumentation der Missstände sei auch geeignet, die Gefahr für das Tierwohl in Zukunft zu verringern oder abzustellen. Grundsätzlich müsse zunächst staatliche Hilfe in Anspruch genommen werden. Dies gelte im vorliegenden Fall jedoch nicht, da eine Anzeige bei den zuständigen Behörden nicht erfolgsversprechend gewesen sei und somit kein milderes und dabei gleich geeignetes Mittel darstellen könne (RdNr. 22f).
6. Schließlich setzt eine Rechtfertigung durch Notstand (§ 34 StGB) eine Interessenabwägung voraus. Wiegt der Tierschutz hier schwerer als das Hausrecht?
Ja!
§ 34 StGB setzt stets voraus, dass das geschützte Interesse das durch die Folgen der Notstandshandlung beeinträchtigte Interesse wesentlich überwiegt. Im Rahmen dieser Abwägung sind alle Umstände einzubeziehen, die man für oder gegen die Schutzwürdigkeit der betroffenen Rechtsgüter anführen kann. Vorliegend überwiegt das Schutzinteresse am Tierwohl gegenüber dem beeinträchtigten Hausrecht. OLG: derjenige, der eine Gefahr verursacht, müsse eher eine Beeinträchtigung seiner Rechte hinnehmen, als eine Person, die durch ihr Verhalten nicht selbst eine Gefahr schaffe (RdNr. 26). T und S hatten auch das Wissen um die Missstände und handelten mit Abwendungswillen (subj. Rechtfertigungselement). Demnach handelten T und S gerechtfertigt.
Wie prüfst Du die Strafbarkeit wegen Hausfriedensbruchs (§ 123 StGB)?
- Tatbestandsmäßigkeit
- Objektiver Tatbestand
- Tatobjekt: Wohnung, Geschäftsraum, befriedetes Besitztum, abgeschlossene Diensträume
- Tathandlung: Eindringen (Var. 1) oder Verweilen (Var. 2)
- Subjektiver Tatbestand: Vorsatz
- Rechtswidrigkeit
- Schuld
- Strafantrag (§ 123 Abs. 2 StGB)
Wie prüfst Du den rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB)?
- Notstandslage
- Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut
- Gegenwärtigkeit der Gefahr
- Notstandshandlung
- Nicht-anders-Abwendbarkeit
- Interessenabwägung
- Angemessenheit
- Verteidigungswille