Befangenheit wegen Beteiligung am Gesetzgebungsverfahren – Causa Harbarth


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Im Normenkontrollverfahren gegen Art. 13 Abs. 3 EGBGB erklärt Richter H, er war in seiner früheren Funktion als MdB und stellv. Fraktionsvorsitzender intensiv in das Gesetzgebungsverfahren eingebunden und habe sich dabei mehrfach für das Gesetz ausgesprochen. Ist H befangen?

Einordnung des Falls

Befangenheit wegen Beteiligung am Gesetzgebungsverfahren – Causa Harbarth

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Ein Bundesverfassungsrichter kann entweder kraft Gesetzes (§ 18 BVerfGG) oder wegen Besorgnis der Befangenheit (§ 19 BVerfGG) von der Ausübung seines Richteramts ausgeschlossen sein.

Genau, so ist das!

Richtig! H kann von der Mitwirkung an dem vorliegenden Verfahren durch gesetzliche Anordnung (§ 18 BVerfGG) oder wegen Besorgnis der Befangenheit (§ 19 BVerfGG) ausgeschlossen sein. § 18 BVerfGG enthält einige Ausschlussgründe, bei deren Vorliegen H schon kraft Gesetzes von der Mitwirkung am Verfahren ausgeschlossen wäre. Im Rahmen des § 19 BVerfGG entscheidet der zuständige Senat des BVerfG durch Beschluss, ob eine Besorgnis der Befangenheit besteht. Wenn ja, wird durch Los ein anderer Richter als Vertreter bestimmt (§ 19 Abs. 4 S. 1 BVerfGG).

2. H ist vorliegend von der Ausübung seines Amts ausgeschlossen, da er „in derselben Sache bereits von Amts oder Berufs wegen tätig gewesen ist“ (§ 18 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG).

Nein, das trifft nicht zu!

BVerfG: „In derselben Sache“ (§ 18 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG) sei strikt verfahrensbezogen zu interpretieren und erfasse daher nur eine Tätigkeit in dem verfassungsrechtlichen Verfahren selbst oder in unmittelbar vorausgegangenen Verfahren. Ausdrücklich nicht „in derselben Sache“ ist die Mitwirkung im Gesetzgebungsverfahren (§ 18 Abs. 3 Nr. 1 BVerfGG). Darunter falle auch die parlamentarische Arbeit als Abgeordneter. Selbst das Werben für eine gesetzliche Regelung außerhalb des unmittelbaren parlamentarischen Bereichs sei Teil der Mandatsausübung und damit vom Anwendungsbereich des § 18 Abs. 3 Nr. 1 BVerfGG erfasst (RdNr. 8ff.).

3. Äußert ein Verfassungsrichter selbst Zweifel an seiner Unvoreingenommenheit, entscheidet der zuständige Senat über dessen Befangenheit (§ 19 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 BVerfGG).

Ja!

Nicht nur Verfahrensbeteiligte können einen Richter ablehnen, es besteht auch die Möglichkeit der Selbstablehnung (§ 19 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 BVerfGG). Der Wortlaut setzt zwar voraus, dass sich der Richter selbst für befangen „erklärt“. Dies darf aber nicht dahingehend ausgelegt werden, dass sich der Richter selbst für befangen halten muss. Dies ist wie im übrigen Prozessrecht unerheblich: Dort muss der Richter ein Verhältnis anzeigen, „das seine Ablehnung rechtfertigen könnte“ (§ 48 Abs. 1 ZPO; § 30 StPO). Dieser Maßstab gilt letztendlich auch für Verfassungsrichter.

4. Die Besorgnis der Befangenheit (§ 19 BVerfGG) setzt das Bestehen tatsächlicher Anhaltspunkte voraus, die belegen, dass der Richter parteiisch ist.

Nein, das ist nicht der Fall!

BVerfG: Es komme nicht darauf an, ob H tatsächlich befangen ist oder ob er sich selbst für befangen hält. Entscheidend sei allein, ob bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass besteht, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln. Schließlich gehe es bei § 19 BVerfGG auch darum, bereits den „bösen Schein“ einer möglicherweise fehlenden Unvoreingenommenheit zu vermeiden (RdNr. 15).

5. Zweifel an der Unvoreingenommenheit eines Richters liegen vor, wenn ein Eindruck der Vorfestlegung zu den im anhängigen Verfahren relevanten Rechtsfragen besteht.

Ja, in der Tat!

BVerfG: Zweifel an der Unvoreingenommenheit und damit die Besorgnis der Befangenheit (§ 19 BVerfGG) bestehen, wenn sich aufdrängt, dass ein innerer Zusammenhang zwischen einer politischen Überzeugung und der Rechtsauffassung des betroffenen Richters besteht. Das Verhalten des Richters müsse den Schluss zulassen, er „stehe einer seinigen entgegenstehenden Rechtsauffassung nicht mehr frei und unvoreingenommen gegenüber, sondern sei bereits festgelegt“. Entscheidend sei also der „Eindruck der Vorfestlegung“ (RdNr. 17).

6. Die Beteiligung des H am Gesetzgebungsverfahren ist grundsätzlich geeignet, die Besorgnis der Befangenheit (§ 19 BVerfGG) zu begründen.

Nein!

BVerfG: Die Besorgnis der Befangenheit (§ 19 BVerfGG) könne nicht aus Gründen hergeleitet werden, die nach § 18 Abs. 2 und 3 BVerfGG keinen Ausschluss von der Ausübung des Richteramts rechtfertigen. Andernfalls entstünde ein Wertungswiderspruch zu § 18 BVerfGG. Daher müssen hier zusätzliche Umstände hinzutreten, die über die Mitwirkung am Gesetzgebungsverfahren hinausgehen, damit die Besorgnis der Befangenheit begründet werden kann (RdNr. 18, 20).

7. Sein früheres Amt als stellvertretender Fraktionsvorsitzender begründet einen Umstand, der geeignet ist, Zweifel an der Neutralität des H zu begründen.

Nein, das ist nicht der Fall!

BVerfG: Die Ausübung des Amts eines stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden sei an sich kein zu der Mitwirkung am Gesetzgebungsverfahren hinzutretender Umstand, der geeignet ist, Zweifel an der Neutralität des H zu begründen. Um einen Wertungswiderspruch zu § 18 Abs. 3 Nr. 1 BVerfGG zu vermeiden, können sich die zusätzlich erforderlichen Umstände nur aus der konkreten Art und Weise der Mitwirkung („individuell-konkrete Bewertung“) des H am Gesetzgebungsverfahren ergeben, nicht aber aus dem formalen Innehaben eines parlamentarischen Amts (RdNr. 22f.).

8. Das öffentliche Werben eines Richters für eine Gesetzesänderung ist grundsätzlich geeignet, die Besorgnis der Befangenheit zu begründen.

Ja, in der Tat!

Dies sei laut BVerfG grundsätzlich der Fall, wenn die Forderungen des Richters in konkreter Beziehung zum anhängigen Verfahren stehen. Allerdings sei dabei auch die Wertung des Art. 94 Abs. 1 GG zu berücksichtigen: Auch Repräsentanten politischer Parteien sollten als Mitglieder des BVerfG gewählt werden können; der Verfassungsgeber gehe also davon aus, dass ehemalige Politiker ihre neue Rolle als Verfassungsrichter unvoreingenommen ausüben.

9. Hat ein Richter sein früheres Werben für eine Gesetzesänderung vor allem rechtspolitisch und nicht verfassungsrechtlich begründet, fehlt es an einer Vorfestlegung.

Ja!

BVerfG: Die Besorgnis der Befangenheit kann dann bestehen, wenn ein jetziger Richter des BVerfG frühere Forderungen gerade mit "dezidiert verfassungsrechtlicher Argumentation" erhoben und in der Folge eine bestimmte einfachgesetzliche Regelung für verfassungsrechtlich erforderlich erachtet hat. Das BVerfG verneint den Anschein der „Vorfestlegung“ bei H, vor allem weil H in seiner Rolle als Abgeordneter stets rechtspolitisch argumentiert und allenfalls auf zentrale Wertungen des Grundgesetzes zurückgegriffen habe, seine Forderung nach einer Gesetzesänderung aber nie mit „dezidiert verfassungsrechtlicher Argumentation“ (RdNr. 26) erhoben habe.

10. H ist wegen der Besorgnis der Befangenheit von der Ausübung seines Richteramts ausgeschlossen (§ 19 BVerfGG).

Nein, das ist nicht der Fall!

Schließlich sei auch eine Gesamtbetrachtung des Verhaltens und der Mitwirkung des H am Gesetzgebungsverfahren laut BVerfG nicht geeignet, Zweifel an seiner Neutralität zu begründen (RdNr. 29). In einem anderen Fall (Verfassungsbeschwerde gegen § 217 StGB) bejahte das BVerfG die Besorgnis der Befangenheit für Richter Müller, gerade weil er öffentlich eine Gesetzesänderung forderte und dabei „dezidiert verfassungsrechtlich argumentierte“.

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A.LA

A.Law

28.12.2022, 20:21:20

Kann mir jemand den Unterschied zwischen "rechtspolitisch" und "verfassungsrechtlich" erklären und wie es somit zu dem anderen Urteil zu §217 kam?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

3.1.2023, 15:37:49

Hallo A.Law, danke für deine Frage. Verfassungsrechtlich zu argumentieren meint z.B. mit den Grundrechten, einer anderen Gewichtung oder geänderten Kompetenzen im Grundgesetz die Gesetzesänderung zu begründen. Wer rechtspolitisch argumentiert kann aus allerlei Gründen motiviert sein - entweder entspricht die Gesetzesänderung einem aktuellen Trend (wie z.B. Regelungen über E-Roller, die mehr und mehr Innenstädte blockieren) oder erfolgt mit dem Ziel sich die Gunst des Wählers zu erhalten. Die Gesetzesänderung kann erfolgen ohne in irgendeiner Weise verfassungsrechtlich indiziert zu sein. Dort ist der Unterschied. Rechtspolitische Erwägungen sind dem Bundesverfassungsgericht in seinen Urteilen fremd, sodass diese keine Rolle spielen. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team


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