Suchterkrankung

19. Juni 2023

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs-Illustration zum Fall zur Suchterkrankung: Ein Feuerwehrmann ist betrunken und torkelt in der Umkleidekabine.
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Klassisches Klausurproblem

Feuerwehrmann F ist alkoholabhängig. Wegen des ständigen Alkoholgenusses und der damit verbundenen Beeinträchtigung seiner Arbeitsleistung kündigt ihm Chef C ordentlich. Eine zuvor von C angebotene Suchttherapie hat F mehrfach strikt abgelehnt. Erst nach Kündigung erklärt sich F zur Therapie bereit. Das KSchG ist anwendbar.

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Einordnung des Falls

Suchterkrankung

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Stellt die Alkoholsucht einen verhaltensbedingten Kündigungsgrund dar?

Nein, das ist nicht der Fall!

Ein verhaltensbedingter Kündigungsgrund liegt vor, wenn der Arbeitnehmer seine vertraglichen Pflichten erheblich und in der Regel schuldhaft verletzt, sodass eine störungsfreie Vertragserfüllung in Zukunft nicht mehr zu erwarten ist. Das pflichtwidrige Verhalten muss zur freien Disposition des Arbeitnehmers stehen, sodass eine Korrektur des Fehlverhaltens möglich wäre. F ist alkoholabhängig und kann seinen Alkoholgenuss infolge psychischer und physischer Abhängigkeit nicht mehr aufgeben oder reduzieren. Aufgrund der mangelnden Selbstkontrolle infolge der Sucht, kann F sein Verhalten nicht steuern (anders als beim bloßen Alkoholmissbrauch), sodass kein verhaltensbedingter Kündigungsgrund vorliegt.
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2. Liegt infolge der Alkoholsucht ein personenbedingter Kündigungsgrund vor?

Ja, in der Tat!

Ein personenbedingter Kündigungsgrund liegt vor, wenn der Arbeitnehmer seine geschuldete Arbeitsleistung aufgrund von Umständen, die an seine Person selbst anknüpfen, nicht mehr vertragsgemäß erbringen kann. Es ist (1) eine negative Prognose bezüglich der weiteren Erfüllung der Arbeitspflicht durch den Arbeitnehmer, (2) eine erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen, (3) konkrete Interessenabwägung im Einzelfall erforderlich. F kann seinen Alkoholkonsum infolge der Sucht nicht mehr steuern und ist auch zur Therapie nicht bereit, sodass die Prognose gerechtfertigt ist, dass er dauerhaft nicht in der Lage sein wird, die vertraglich geschuldete Tätigkeit zu erbringen. Dadurch sind auch betriebliche Interessen erheblich beeinträchtigt und die Interessenabwägung geht zulasten des F.

3. Ist die Kündigung unverhältnismäßig und unwirksam, weil F nach Erhalt der Kündigung Therapiebereitschaft zeigt?

Nein!

Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit muss der Arbeitgeber dem alkoholabhängigen Arbeitnehmer, dem er aus personenbedingten Gründen kündigen will, grundsätzlich die Möglichkeit zu einer Suchttherapie geben. Denn erst nach Verweigerung einer Entzugskur kann eine negative künftige Gesundheitsprognose gestellt werden. Maßgeblich für die Wirksamkeit der Kündigung ist der Zeitpunkt des Kündigungszugangs, sodass eine erst später erklärte Therapiebereitschaft des Arbeitnehmers unbeachtlich ist. F erklärt sich erst nach Erhalt der Kündigung zur Suchttherapie bereit. Dies steht einer negativen künftigen Gesundheitsprognose und der Verhältnismäßigkeit der Kündigung nicht mehr entgegen, sodass die Kündigung nicht deswegen unwirksam ist.

4. Ist die Kündigung unwirksam, da keine vorherige Abmahnung erfolgt ist?

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Beendigungskündigung ist nur dann zulässig, wenn keine anderweitigen Möglichkeiten für den Arbeitgeber bestehen, die Störungen im Arbeitsverhältnis auf weniger belastende Weise zu beheben (ultima ratio). Grundsätzlich vorrangig ist insbesondere eine Abmahnung. Allerdings ist eine solche bei personenbedingten Gründen nicht geeignet und sinnvoll, da mit der Abmahnung nicht die Änderung persönlicher Verhältnisse erreicht werden kann. Infolge der Sucht ist das Verhalten des F nicht mehr steuerbar, sodass es kein verhaltens-, sondern ein personenbedingter Grund ist. Auch durch eine Abmahnung wird F nicht mit dem Alkoholkonsum aufhören können. Bei Zweifeln über Notwendigkeit einer Abmahnung, also ob bloßer Alkoholmissbrauch (verhaltensbedingt) oder krankhafte Alkoholabhängigkeit (personenbedingt) vorliegt, muss der Arbeitgeber das Gespräch mit dem Arbeitnehmer suchen.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

PH

Philippe

28.8.2022, 11:42:52

Geht man aber davon aus, dass die Therapiebereitschaft ernst gemeint ist, so dürfte es doch einen Anspruch auf Wiedereinstellung geben, weil sich die Prognose im Nachhinein als falsch erwiesen hat, oder sehe ich das falsch?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

20.9.2022, 12:12:53

Hallo Philippe, sehr guter Hinweis. Verwandelt sich nach Ausspruch der wirksamen krankheitsbedingten Kündigung die negative in eine positive Gesundheitsprognose, so kommt ein Wiedereinstellungsanspruch in Betracht. Hier sind die Hürden aber recht hoch. Der Arbeitnehmer muss darlegen und beweisen, dass von einer positiven Gesundheitsprognose auszugehen ist (BAG NZA 1999, 1328). Diese hohe Schwelle dürfte allein durch das Erklären, nun doch eine Therapie aufnehmen zu wollen, noch nicht erreicht zu sein. Denn die bloße Durchführung der Therapie verspricht ja keineswegs, dass diese letztlich auch Erfolg hat. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Alicia Helena

Alicia Helena

7.12.2022, 07:18:30

Woraus ergäbe sich denn ein solcher Wiedereinstellungsanspruch?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

2.2.2023, 10:46:09

Hallo Alicia, als Anspruchsgrundlage zieht das BAG in der neueren Rspr. § 242 BGB (Treu und Glauben) heran und leitet daraus eine entsprechende Nebenpflicht des Arbeitgebers ab. In der Literatur wird zum Teil auch § 1 Abs. 3 herangezogen. Andere erreichen dasselbe Ziel über die Grundsätze der Vertrauenshaftung, über die nachwirkende Fürsorgepflicht oder den Gleichbehandlungsgrundsatz (Hergenröder, in: MüKo-BGB, 9. A. 2023, KSchG § 1 RdNr. 85 mit weiteren Nachweisen). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


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