Öffentliches Recht

Grundrechte

Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG)

Androhung von Folter („Fall Daschner“)

Androhung von Folter („Fall Daschner“)

22. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

G wird festgenommen, weil er den elfjährigen J entführt hat. Polizeipräsident D vermutet J in Lebensgefahr. Er will deshalb dringend den Aufenthaltsort des J ermitteln. D droht dem G mit Zufügung von Schmerzen, sollte G den Aufenthaltsort des J nicht preisgeben.

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Einordnung des Falls

Androhung von Folter („Fall Daschner“)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. D ist verpflichtet, die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) des G zu achten.

Ja, in der Tat!

Aus dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 3 GG folgt, dass die vollziehende Staatsgewalt unmittelbar an die Grundrechte gebunden ist. Die Grundrechte umfassen nach ganz herrschender Ansicht auch die Menschenwürde gem. Art. 1 Abs. 1 GG. D gehört als Polizeipräsident zur vollziehenden Staatsgewalt. Er handelt im Rahmen seiner Drohung dem G gegenüber in dieser Funktion. D ist insofern dem G gegenüber unmittelbar an die Grundrechte gebunden und hat dessen Menschenwürde zu achten. Nach der ganz herrschenden Ansicht ist die Menschenwürde ein Grundrecht, auch wenn in Art. 1 Abs. 3 GG steht, „[d]ie nachfolgenden Grundrechte binden…”.
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2. Ist Gs Menschenwürde durch die Androhung der Zufügung von Schmerzen betroffen?

Ja!

Nach der Objektformel ist die Menschenwürde betroffen, wenn ein bestimmter Mensch zum Objekt staatlichen Handelns gemacht wird. Dies ist insbesondere der Fall, wenn ein Mensch als vertretbare Größe in einer Abwägung oder als bloßes Mittel zum Zweck staatlichen Handelns eingestuft wird G wird mit der Zufügung von Schmerzen gedroht. Hierdurch wird er einzig als Träger von Wissen, welches der Staat aus ihm herauspressen will, behandelt. Er wird insofern als bloßes Mittel zum Zweck der Ermittlung des Aufenthaltsorts von J eingeordnet. G wird also zum Objekt staatlichen Handelns gemacht. Seine Menschenwürde ist mithin betroffen. In der konkreten Anwendung der Objektformel haben sich Fallgruppen herausgebildet. Hierzu zählt auch die Folter. Ob die bloße Androhung von Schmerzen bereits Folter darstellt, wurde von der Rechtsprechung offengelassen. Jedenfalls handelt es sich aber um eine unmenschliche Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK. Auch diese stellt regelmäßig eine Würdeverletzung dar. Die Fallgruppen können dir helfen, ein Gefühl dafür zu entwickeln, ob eine Menschenwürdeverletzung in Betracht kommt. Du wirst die Fallgruppen im weiteren Verlauf des Kurses kennenlernen. In der Klausur solltest du aber immer am konkreten Fall unter die Objektformel subsumieren.

3. Aufgrund der vermuteten Lebensgefahr des J, ist ein Eingriff in die Menschenwürde des G gerechtfertigt.

Nein, das ist nicht der Fall!

Gemäß Art. 1 Abs. 1 GG ist die Menschenwürde unantastbar. Unantastbarkeit der Menschenwürde bedeutet, dass die Menschenwürde absolut gilt. Die absolute Geltung umfasst auch, dass die Menschenwürde unabwägbar ist. Kollidierende Grundrechte Dritter können einen Eingriff in die Menschenwürde nicht rechtfertigen. Zwar ist – jedenfalls für D vermutlich – auch das Leben des J (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG), zu dessen Schutz der Staat in solchen Gefahrensituationen verpflichtet ist (Schutzpflicht). Eine Abwägung der Menschenwürde mit den Grundrechten des J ist jedoch wegen des absoluten Schutzes der Menschenwürde nicht zulässig. Ein Eingriff kann deshalb nicht durch die Lebensgefahr des J gerechtfertigt werden. Es handelt sich bei dem vorliegenden Sachverhalt (sog. Daschner-Fall) um einen Grenzfall. In der Literatur wie auch in den Medien wurde viel diskutiert, ob eine Ausnahme vom absoluten Schutz der Menschenwürde gemacht werden müsste. Argumentiert wurde unter anderem mit der Schutzpflicht des Staates gegenüber der Menschenwürde des entführten Kindes. Das Gericht entschied gegen eine Ausnahme und bekräftigte den absoluten Schutz der Menschenwürde. Eine Ausnahme von absoluten Schutz der Menschenwürde ist extrem schwierig zu begründen. In der Klausur solltest Du deshalb in Grenzfällen zwar die Frage nach einer Ausnahme ansprechen, Dich aber letztlich für den absoluten Schutz der Menschenwürde entscheiden.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

MaxRaspody

MaxRaspody

30.7.2023, 16:09:44

Wie verhält es sich, mit Maßnahmen, bei denen -ggf sogar Unschuldige- nur geringere Schmerzen unter kontrollierten Bedingungen zugefügt werden? Wenn man hier den absoluten Schutz bejaht, müsste man mE Abnahme von Blut (gegen den Willen des Opfers) als Verletzung des Art 1 I Werten. Schließlich dient diese Maßnahme einzig und allein dazu, den Menschen als Wissensspeicher auszulesen und zwar sogar, um ihn zu belasten. Wenn die Möglichkeit bestuende das Blut schmerzlos abzunehmen, so würde der Staat dies zwar vorziehen, gleiches gilt jedoch auch für unseren Rapper. Koennte man sein Gehirn (nur die Info nach dem Kind) etwa mithilfe eines Scans schmerzfrei auswerten, würde der Staat dies tun.

Jakob

Jakob

24.8.2023, 20:54:05

Gute Frage.

Snow

Snow

2.10.2023, 17:02:41

Heutzutage sieht es eh völlig anders aus. Du kannst Kinder einsperren, Leute isoliert sterben lassen und ein ganzes Volk der Freiheit berauben, um rechnerisch diese „Infektionsherde“ wie Vieh zu managen. Dieser Fall dürfte also überholt sein.

DOD

Dodo

9.1.2024, 17:53:04

Das Problem sehe ich auch ganz oft bei der Ausgestaltung von neuen StPO Normen mit der Begründung “Effektivität des Rechtsstaates” (bei eigentlichen aber nicht erwähnten Eingriffen in die Menschenwürde)

Sassun

Sassun

16.9.2024, 17:21:46

Die Frage ist bisher leider unbeantwortet. Grds. gilt ja Freiheitsrechte vor Gleichheitsrechten und dann vermutl. auch vor Justizgrundrechten zu prüfen. Würde Art. 104 I 2 GG dann im Wege der Spezialität Art. 1 I GG verdrängen oder läge ein Fall von Idealkonkurrenz vor? Art. 1 I GG hätte immerhin die Besonderheit, dass er nahezu unmöglich zu rechtfertigen ist.


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