Öffentliches Recht

Examensrelevante Rechtsprechung ÖR

Entscheidungen von 2019

Bauplanungsrechtliche Privilegierung einer Flüchtlingsunterkunft

Bauplanungsrechtliche Privilegierung einer Flüchtlingsunterkunft

21. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

E beantragt eine Baugenehmigung zur Errichtung einer privaten Flüchtlingsunterkunft. Westlich ihres Grundstücks schließt sich eine regellose und kleinteilige Bebauung an, östlich eine regelmäßige Bebauung mit Villen. Ein Bebauungsplan besteht nicht. Der Antrag wird abgelehnt.

Diesen Fall lösen [...Wird geladen] der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

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Einordnung des Falls

Bauplanungsrechtliche Privilegierung einer Flüchtlingsunterkunft

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. E begehrt die Erteilung einer Baugenehmigung. Deshalb muss sie eine Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) gegen den ablehnenden Bescheid erheben.

Nein, das ist nicht der Fall!

Eine gegen den Ablehnungsbescheid gerichtete Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) entspricht nicht dem Klagebegehren der E, da sie ihr nicht zum erstrebten Erlass des begünstigenden Verwaltungsaktes verhilft. Vielmehr ist eine Verpflichtungsklage in Form der sog. Versagungsgegenklage auf Erlass der ursprünglich beantragten, aber abgelehnten Baugenehmigung statthaft (§ 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO). Nur falls E die Baugenehmigung aktuell gar nicht begehrt, kommt die isolierte Anfechtungsklage in Betracht, z.B. um zu verhindern, dass die im ablehnenden Bescheid enthaltene Feststellung der Nichtbebaubarkeit bestandskräftig wird.
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2. Eine Baugenehmigung für ein Bauvorhaben ist zu erteilen, wenn das Vorhaben genehmigungsbedürftig ist und die gesetzlichen Voraussetzungen für ihre Erteilung vorliegen.

Ja, in der Tat!

Für Bauvorhaben besteht grundsätzlich eine Genehmigungspflicht (z.B. § 62 Abs. 1 HBO, § 59 Abs. 1 BauO Bln). Wenn dem Vorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im einschlägigen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind, besteht nach der jeweiligen Landesbauordnung ein Anspruch auf Erteilung der Baugenehmigung (z.B. § 74 Abs. 1 HBO, § 71 Abs. 1 BauO Bln). Wenn weder Normen des Bauordnungsrechts, des Bauplanungsrechts noch sonstige öffentlich-rechtliche Vorschriften dem Vorhaben entgegenstehen, ist die Baugenehmigung von der Bauaufsichtsbehörde zu erteilen (gebundene Entscheidung).

3. Ein Vorhaben ist mit Bauplanungsrecht nur vereinbar, wenn es sich im Geltungsbereich eines qualifizierten Bebauungsplanes (§ 30 Abs. 1 BauGB) befindet.

Nein!

Soweit es sich im konkreten Fall um ein „Vorhaben“ (§ 29 Abs. 1 BauGB) handelt, gelten die planungsrechtlichen Anforderungen der §§ 30ff. BauGB. Die Vereinbarkeit mit Bauplanungsrecht richtet sich mithin danach, ob sich das Vorhaben (1) im Geltungsbereich eines qualifizierten Bebauungsplanes (§ 30 Abs. 1 BauGB), (2) im unbeplanten Innenbereich (§ 34 BauGB) oder (3) im Außenbereich (§ 35 BauGB) befindet.

4. Für die Abgrenzung zwischen Innenbereich (§ 34 BauGB) und Außenbereich (§ 35 BauGB) kommt es darauf an, ob das Grundstück innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteils liegt.

Genau, so ist das!

Wenn kein Bebauungsplan existiert, richtet sich die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit nach § 34 oder § 35 BauGB. Der Außenbereich lässt sich nur negativ durch Abgrenzung zum Innenbereich bestimmen, sodass es darauf ankommt, ob das Grundstück sich in einem Bebauungszusammenhang befindet, der zudem einem Ortsteil angehört. Ein Bebauungszusammenhang besteht bei tatsächlich aufeinander folgender, zusammenhängender Bebauung, die trotz etwaiger Baulücken den Eindruck der Geschlossenheit vermittelt. Dieser muss ferner einen Ortsteil bilden, d.h. einen Bebauungskomplex mit gewissem Gewicht, der Ausdruck einer organischen Siedlungsstruktur ist.

5. Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens der E ist an § 34 BauGB zu messen, da sich das Vorhabengrundstück innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteils befindet.

Nein, das trifft nicht zu!

Östlich des Grundstücks der E hat sich eine geschlossene Siedlungsstruktur herausgebildet, die ein gewisses Gewicht besitzt und einen eigenständigen Ortsteil bildet. Das Grundstück der E nimmt jedoch an diesem Bebauungszusammenhang nicht Teil. Es ist nach Größe und Lage nicht als Fortsetzung des bestehenden Innenbereichs anzusehen. Auch nach Westen fehlt es an einer räumlich verklammernden Anbindung an die dortige Bebauung, da das geplante Vorhaben der E nach Größe und Ausrichtung nicht vergleichbar angeordnet ist. Das Vorhaben ist somit dem Außenbereich zuzuordnen, sodass sich die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit nach § 35 BauGB richtet.

6. § 35 BauGB unterscheidet zwischen privilegierten und sonstigen (nicht privilegierten) Vorhaben.

Ja!

Nach dem Wortlaut des § 35 BauGB sind Vorhaben im Außenbereich grundsätzlich unzulässig, es sei denn, es handelt sich um ein privilegiertes Vorhaben (§ 35 Abs. 1 BauGB). Bei diesen ist für die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit erforderlich, dass öffentliche Belange dem Vorhaben nicht „entgegenstehen“. Öffentliche Belange sind in § 35 Abs. 3 BauGB beispielhaft und nicht abschließend aufgeführt. Sonstige Vorhaben (§ 35 Abs. 2 BauGB) sind grundsätzlich unzulässig und können nur im Einzelfall zugelassen werden, wenn ihre Ausführung oder Benutzung öffentliche Belange nicht „beeinträchtigt“.

7. Das Bauvorhaben ist planungsrechtlich unzulässig, weil es die Erweiterung einer Splittersiedlung befürchten lässt (§ 35 Abs. 3 S. 1 Nr. 7 BauGB).

Genau, so ist das!

Mangels Privilegierung ist das Vorhaben der E unzulässig, soweit öffentliche Belange nur „beeinträchtigt“ werden (§ 35 Abs. 2 BauGB). BVerwG: Das Vorhaben beeinträchtige einen öffentlichen Belang, weil es die Erweiterung einer Splittersiedlung nach § 35 Abs. 3 S. 1 Nr. 7 BauGB befürchten lässt (RdNr. 7). Der Begriff der Splittersiedlung beschreibt eine zusammenhanglose oder aus anderen Gründen unorganische Streubebauung. Hier stellt die Bebauung westlich des Vorhabengrundstücks eine Splittersiedlung dar, deren Bereich durch das Vorhaben der E vergrößert und dadurch näher an die organische Bebauung östlich des Grundstücks heranrücken würde.

8. Einem Bauvorhaben, das der Unterbringung von Flüchtlingen dient, kann nicht entgegengehalten werden, dass es die Erweiterung einer Splittersiedlung befürchten lässt (§ 246 Abs. 9 BauGB).

Ja, in der Tat!

Ein Vorhaben, das der Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbegehrenden dient, ist bis zum 31.12.2024 teilprivilegiert, wenn es „im unmittelbaren räumlichen Zusammenhang mit nach § 30 Abs. 1 oder § 34 BauGB zu beurteilenden Flächen innerhalb des Siedlungsbereichs“ steht (§ 246 Abs. 9 i.V.m. § 35 Abs. 4 S. 1 BauGB). Dies hat zur Folge, dass die bauplanungsrechtliche Zulassung eines solchen Vorhabens insbesondere nicht daran scheitern kann, dass es die Erweiterung einer Splittersiedlung befürchten lässt (RdNr. 8).

9. Das Vorhaben der E dient der Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbegehrenden (§ 246 Abs. 9 BauGB), da die Vorschrift auch private Bauherren begünstigen soll, die solche Unterkünfte errichten.

Nein!

BVerwG: „Unterbringung“ (§ 246 Abs. 9 BauGB) beziehe sich nicht auf eine bodenrechtliche Nutzung, sondern auf eine Verwaltungsaufgabe, die öffentlich-rechtliche Träger erfüllen. Der Begriff sei der amtlichen Überschrift des § 53 AsylG und den entsprechenden landesrechtlichen Regelungen entnommen, in denen eine staatliche Aufgabe beschrieben werde (RdNr. 9). Es sei zwar denkbar, dass Vorhaben privater Bauherrn ebenfalls an der Teilprivilegierung teilnehmen. Voraussetzung sei aber die Errichtung „in Abstimmung mit der öffentlichen Hand“ (RdNr. 13). Das Vorhaben der E dient somit nicht der Unterbringung von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden.

10. Die Verpflichtungsklage der E, gerichtet auf Erteilung der begehrten Baugenehmigung, ist unbegründet.

Genau, so ist das!

Da das Vorhaben der E sich im Außenbereich (§ 35 Abs. 1 BauGB) befindet, weder privilegiert (§ 35 Abs. 1 Nr. 1-8 BauGB) noch teilprivilegiert (§ 35 Abs. 4 BauGB, hier i.V.m. § 246 Abs. 9 BauGB) ist und einen öffentlichen Belang beeinträchtigt (hier § 35 Abs. 3 S. 1 Nr. 7 BauGB (Splittersiedlung)), ist es bauplanungsrechtlich unzulässig. Die Baugenehmigung ist daher wegen entgegenstehender öffentlich-rechtlicher Vorschriften zu versagen. Die Verpflichtungsklage der E ist unbegründet.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

PPAA

Philipp Paasch

6.8.2022, 23:47:17

Toller Fall, wird mal wieder Zeit für Baurecht.^^

Johannes Nebe

Johannes Nebe

1.7.2024, 07:40:54

Ja, sehr interessant. -- Offensichtlich ist die Teilprivilegierung gem. § 246 IX BauGB bis 31.12.2027 verlängert worden.


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