Eingriff in körperliche Unversehrtheit durch Fluglärm

22. Januar 2025

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Anwohner A wohnt sehr dicht an der Start- und Landebahn des großen Flughafens Düsseldorf-Lohausen. Er meint, der Lärm beeinträchtige ihn in seiner körperlichen Unversehrtheit und fordert vom Staat Schutzmaßnahmen. Er fürchtet, dass es noch lauter wird bei Ausbau der Flugrouten.

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Einordnung des Falls

Eingriff in körperliche Unversehrtheit durch Fluglärm

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Auch das psychische Wohlbefinden kann vom Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG) erfasst sein.

Ja!

Der sachliche Schutzbereich des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG) schützt die körperliche Integrität im biologisch-physiologischen Sinn. Eine enge Auslegung des Grundrechts im Sinne einer Beschränkung auf lediglich körperliche Eingriffe würde dem Charakter des Grundrechts als Abwehrrecht gegen den Staat nicht gerecht. Die Grundrechte sollen (vor allem im Lichte der Menschenwürde) den Bürger auch vor psychischer Folter und seelischen Quälereien schützen. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit muss also auch vor solchen Eingriffen schützen, die das Empfinden einer Person so verändern, dass dies der Zufügung von Schmerzen entspricht. Das psychische Wohlbefinden gehört also insoweit zum Schutzgut, als somatische Rückwirkungen hervorgerufen werden können.
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2. Der sachliche Schutzbereich der körperlichen Unversehrtheit ist wegen des psychischen Wohlbefindens des A eröffnet.

Genau, so ist das!

Der sachliche Schutzbereich des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG) schützt die körperliche Integrität im biologisch-physiologischen Sinn. Auch die psychische Gesundheit ist hiervon erfasst. Zwar leidet A nicht an direkten somatischen Folgen durch den Fluglärm, jedoch lassen sich Einwirkungen auf die körperliche Unversehrtheit zumindest in Form von Schlafstörungen durch den Lärm nicht bestreiten. Der sachliche Schutzbereich des Rechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG) ist eröffnet. Der persönliche Schutzbereich des Rechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG) ist bei natürlichen Personen stets eröffnet, sodass du diesen Punkt kurzhalten kannst.

3. Damit eine staatliche Schutzpflicht besteht, muss zwingend ein Grundrechtseingriff vorliegen.

Nein, das trifft nicht zu!

Zwar liegt hier noch keine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit im engeren Sinne vor, jedoch ist eine nicht unerhebliche Gefährdung dieser zu befürchten. Auch eine Grundrechtsgefährdung kann die staatliche Schutzpflicht auslösen. Zur Ausgestaltung dieser Schutzpflicht muss der Gesetzgeber unter Abwägung widerstreitender Interessen prüfen, was dem Menschen an Gefährdungen und Schädigungen zugemutet werden kann.

4. Lärm kann einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit darstellen.

Ja!

Ein Eingriff ist jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht (moderner Eingriffsbegriff). Lärm stellt nur einen Eingriff dar, wenn er zu Gesundheitsgefahren führt oder ein Ausmaß erreicht, das als körperlicher Schmerz empfunden wird bzw. das körperliche Befinden negativ verändert. A fühlt sich zwar durch den Fluglärm gestört. Die Schwelle zum Eingriff ist aber noch nicht erfüllt, weil er diesen noch nicht als körperlichen Schmerz empfindet. Dies müsste man aber bei Ausweitung des Flugverkehrs noch einmal neu bewerten. Der Lärm ist jedoch noch nicht so stark, dass er einen Eingriff darstellt.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

CLAUD

Claudia

11.1.2022, 13:00:16

Wie würde man das in der Klausur prüfen? Für den Fall, kein Eingriff vorliegt.. würde der Prüfungspunkt dann Grundrechtsgefährdung lauten und sich danach dennoch die Rechtfertigung anschließen?

Wendelin Neubert

Wendelin Neubert

11.1.2022, 18:06:30

Hallo Claudia, danke für deine Fragen. Zunächst: so würde dieser fall niemals in einer Klausur vorkommen. Die rechtlichen Regelungen, die die Genehmigung eines Flughafenbetriebs sowie der Flugrouten betreffen, sind äußerst komplexes besonderes Verwaltungsrecht und nicht Prüfungsstoff. Der Fall soll verdeutlichen, dass auch Lärmbelästigungen einen Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG begründen können bzw dass der Gesetzgeber seine grundrechtliche Pflicht zum Schutz der Gesundheit auch in solchen Fällen nachkommen muss. In der Praxis müsste sich die Betroffene auf dem Rechtsweg gegen den luftverkehrsrechtlichen Planfeststellungsbeschluss wenden. Das zulässige Maß an Lärmbelastung wird dabei im Rahmen von Sachverständigen-Gutachten ermittelt und es stets Gegenstand von Streit. Hoffe das hilft!

CLAUD

Claudia

12.1.2022, 08:55:19

Dankeschön!

Sassun

Sassun

17.9.2024, 16:44:02

Könnte mir jemand bitte erklären, was es mit der "

Unerheblich

keit" auf sich hat. In diesem Kapitel wurde sie vermehrt beim Eingriff angesprochen. Der Eingriff umfasst doch aber eigentlich nur Ausführungen zum klassischen und modernen

Eingriffsbegriff

. Damit hätte die Erheblichkeit der Schutzbereichsverletzung doch eher weniger zu tun. Ich glaube ich stehe auf dem Schlauch was den Aufbau in der Klausur angeht. Aus der Lösung lese ich folgenden Aufbau: I. Schutzbereich 1. Persönlich [+] 2. Sachlich, Def. Körperliche Integrität [+] II. Eingriff Erheblichkeit? [...]

HAN

hannabuma

1.12.2024, 17:08:02

Ich würde sagen dein Aufbau passt soweit, nur dass man beim Eingriff noch zwischen klassischem und modernem

Eingriffsbegriff

unterscheiden muss. Die Erheblichkeit prüfst du dann iRd modernen

Eingriffsbegriff

s als Voraussetzung. In manchen Definitionen ist die Erheblichkeit auch schon als VSS enthalten, wie zum Beispiel in dieser: Nach dem modernen

Eingriffsbegriff

liegt ein Grundrechtseingriff vor, wenn eine staatliche Maßnahme ein grundrechtlich geschütztes Verhalten ganz oder teilweise unmöglich macht, (gleichgültig, ob diese Wirkung final oder unbeabsichtigt, unmittelbar oder mittelbar, rechtlich oder tatsächlich, mit oder ohne Befehl und Zwang erfolgt), sofern die Beeinträchtigung zurechenbar und von einigem Gewicht ist. „von einigem Gewicht“ ist hier das Einfallstor für eine Erheblichkeitsprüfung In einem anderen Fall stand hierzu noch: „In Grundrechte kann nach dem „modernen“ Eingriffsverständnis auch mittelbar eingegriffen werden. Das bedeutet, dass auch faktische Beeinträchtigungen einen Eingriff in die Meinungsfreiheit darstellen können. Es ist allerdings erforderlich, dass die Beeinträchtigung von gewisser Erheblichkeit ist. Bloße Belästigungen stellen keinen Grundrechtseingriff dar. Dies ist nach einem objektiven Maßstab zu bestimmen. Subjektives Empfinden genügt nicht.“

SM2206

SM2206

12.1.2025, 18:08:22

Die von euch hier immer wieder gebrachte Definition des (modernen) Eingriffs als "jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht", passt nicht bei Grundrechten, die Zustände schützen, z.B. beim Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 II 1 GG. Geschützt ist hier nämlich vornehmlich gar kein Verhalten, sondern ein Zustand, eben der am Leben oder körperlich unversehrt zu sein. Die eingangs genannte Eingriffsdefinition ließe sich hier in der Klausur also nicht sinnvoll subsumieren. Das ließe sich vermeiden, indem man offener formuliert, also z.B.: "Eingriff ist jede dem Staat zurechenbare Beeinträchtigung einer vom Schutzbereich erfassten Position."


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