Sachlicher Schutzbereich nach Art. 2 S. 2 GG – Körperliche Bewegungsfreiheit


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Y wartet auf X, der sich verspätet. Gegenüber von ihrem Treffpunkt auf einer öffentlichen Straße befindet sich das Polizeipräsidium. Polizist P fürchtet, Y wolle die Polizei ausspähen. Er geht zu Y und gebietet ihr, den Ort zu verlassen.

Einordnung des Falls

Sachlicher Schutzbereich nach Art. 2 S. 2 GG – Körperliche Bewegungsfreiheit

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG schützt die Freiheit der Person.

Ja!

Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG bestimmt: "Die Freiheit der Person ist unverletzlich." Das Grundgesetz schützt in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG die Freiheit der Person und misst ihr verfassungsrechtlich einen hohen Stellenwert bei. Dies kommt u.a. durch den Wortlaut ("unverletzlich") sowie durch die engen Schrankenvorbehalte des Art. 104 GG zum Ausdruck, die auf Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG Anwendung finden.

2. Die Freiheit der Person schützt - ergänzend zur allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) - umfassend alle Formen der Freiheit, insbesondere der Persönlichkeitsentfaltung, der Bewegung und der Freizügigkeit.

Nein, das ist nicht der Fall!

Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG schützt trotz des weiten und offenen Wortlauts ("Die Freiheit der Person ist unverletzlich.") nur die körperliche Bewegungsfreiheit. Dies folgt aus der Historie (Verwandtschaft zum englischen "habeas corpus") sowie der Systematik, insbesondere mit Blick auf die systematische Nähe zu Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und die Parallelität zu Art. 104 GG.

3. Die Aufforderung des P an Y, den Ort zu verlassen, an dem Y sich aufhält, stellt einen Eingriff in Ys Freiheit der Person dar.

Ja, in der Tat!

Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG schützt nach h.M. das Recht, sich an einem beliebigen (rechtlich und tatsächlich zugänglichen) Ort aufzuhalten. Ein Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG ist gegeben, wenn die körperliche Bewegungsfreiheit eingeschränkt und damit der Gewährleistungsgehalt des Grundrechts verkürzt wird. Die Aufforderung des P an Y, diesen Ort zu verlassen (sog. Platzverweis), greift in die Freiheit der Person der Y ein.

4. Nach h.M. ist der sachliche Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG für das Verhalten des Y (Aufhalten gegenüber vom Polizeipräsidium) eröffnet.

Ja!

Die Weite des Schutzbereichs des Grundrechts der Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG ist umstritten. Nach der M.M. (enges Verständnis) soll die Freiheit der Person nur als "Fortbewegungsfreiheit" zu verstehen sein. Sie solle somit lediglich das Recht schützen, einen Ort ohne Zwang verlassen zu können, nicht jedoch das Recht, einen beliebigen (rechtlich und tatsächlich zugänglichen) Ort aufzusuchen und sich dort aufzuhalten, dies sei nur von Art. 11 GG umfasst. Nach BVerfG und wohl h.L. (weites Verständnis) schützt die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) die Freiheit, einen (rechtlich und tatsächlich zugänglichen) Ort oder Raum aufzusuchen, sich dort aufzuhalten oder ihn zu verlassen. Dafür spricht, dass Art. 104 GG zwischen Freiheitsbeschränkungen und Freiheitsentziehungen unterscheidet, sodass der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG sich nicht nur auf den Schutz vor Freiheitsentziehungen beschränken kann. Der Treffpunkt gegenüber des Polizeipräsidiums befindet sich auf einer öffentlichen Straße und ist daher für Y rechtlich und tatsächlich zugänglich. Das Aufsuchen und der Aufenthalt an diesem Ort sind nach h.M. von der Freiheit der Person erfasst.

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Amelie

Amelie

14.7.2020, 09:11:31

Ich habe gerade eine Klausurbearbeitung mir angeguckt (Simon/Lipp “Vom Schulhof in den Krieg” JuS 2015,327) in der steht: „die körperliche Bewegungsfreiheit ist als Fortbewegungsfreiheit zu verstehen, dh sie schützt insbesondere die Freiheit, einen Ort ohne Zwang verlassen zu können. Nicht erfasst ist die Freiheit, einen beliebigen anderen Ort aufsuchen und sich dort aufhalten zu können.” Das kommt mir komisch vor/nicht vereinbar mit der Definition hier. Könnte mir das jemand bitte erklären? Hat sich eventuell die Rechtsprechung geändert? Danke im Voraus!

GEL

gelöscht

1.8.2020, 09:17:24

Hallo Amelie - die Erklärung hier sowie die aus deinem Aufsatz entsprechen sich 1:1, nur mit anderen Worten☺ Art.2 GG schützt die Freiheit, sich frei bewegen und aufhalten zu können, wo "man möchte", solange eben nicht (das ist die Schranke) durch Gesetz etwas anderes bestimmt ist. Gäbe es keine Schranke, wäre jeder polizeiliche Platzverweis rechtswidrig. Es ist also ein klassisches Regel-Ausnahme-Verhältnis. Hoffe das hilft dir 🙂

Isabell

Isabell

25.10.2020, 13:26:00

Die Freiheit einen anderen Ort aufzusuchen und sich dort aufzuhalten ist von dem Recht auf Freizügigkeit (Artikel 11 glaub ich; hab gerade kein Gesetz in Reichweite) erfasst. Schau dir mal die Definition dort an. Vielleicht hilft das bei der Abgrenzung. Da hab ich auch länger für gebraucht.

LH

L. H.

2.2.2021, 17:16:43

Ich muss Amelie zustimmen, ich finde die Unterscheidung der beiden Grundrechtsschutzbereiche ebenfalls etwas verwirrend. Ich lernte jedoch, dass die Freiheit der Person (Art. 2 II 2 GG) das Recht auf "Weg- und Fortbewegung" schützt, während die Freizügigkeit (Art. 11 GG) gewissermaßen das Recht auf "Hinbewegung" schützt - also das Recht, an jedem Ort im Bundesgebiet Aufenthalt und Wohnung zu nehmen. Allerdings eröffnet sich der SB der Freizügigkeit nach h.M. erst ab einer gewissen Verweildauer (z.B. ca. 24 Stunden). Ist diese Dauer nicht erreicht, so ist der SB der Freiheit der Person eröffnet.

Eigentum verpflichtet 🏔️

Eigentum verpflichtet 🏔️

25.3.2021, 22:58:30

Hallo zusammen, danke für die Hinweise und die rege Debatte hier. Wir haben Urteile und Kommentare gewälzt und sind zu folgendem Ergebnis gekommen: Unsere Definition (aufsuchen, aufhalten und verlassen eines tatsächlich und rechtlich zugänglichen Ortes) ist wohl die hM. Vgl. das Urteil des BVerfG zur elektronischen Fußfessel 2 BvR 916/11 (nun im Fall verlinkt) und Murswiek in: Sachs GG 5. Aufl. Rn. 229ff. Eine aA (enge Ansicht) sieht es tatsächlich, wie die von dir zitierte Fundstelle @Amelie, und will nur die Fortbewegungsfreiheit, also das Verlassen von Orten schützen. Wir haben die Antwort entsprechend umfassend überarbeitet und stellen nun beide Ansichten dar. LG für das Jurafuchs-Team Eigentum verpflichtet

MEP

Mephisto

30.12.2023, 10:42:31

Für das enge Verständnis des Schutzbereichs spricht, dass eine Erweiterung des Schutzbereichs im Sinne eines weiten Verständnisses eine plausible Abgrenzung zu Art. 11 GG kaum möglich wäre. Art. 11 GG wäre mithin lediglich ein spezieller Fall des Art. 2 II 2 GG, wodurch der Anwendungsbereich des Art. 11, ungeachtet der Einreise ins Bundesgebiet, minimiert wäre. Daraus folgt, dass der Schutzbereich des Art. 2 II 2 GG lediglich die Fortbewegungsfreiheit einbezieht. Vgl. Epping, Grundrechte Rn. 717, 8. Aufl.

LELEE

Leo Lee

30.12.2023, 18:17:15

Hallo Mephisto, vielen Dank für den sehr wichtigen Hinweis! In der Tat wird bei Epping ein etwas anderer Ansatz verfolgt. Beachte allerdings, dass auch nach der h.M. schlechthin sozialschädliche Tätigkeiten ausgenommen werden aus dem Schutzbereich des Art. 12 I GG (wie etwa Drogendealen), wozu auch der Diebstahl gehören dürfte. Insofern stehen sich die Ansichten näher beieinander, als man denkt. Hierzu kann ich i.Ü. die Lektüre von Jarass/Pieroth 17. Auflage, Jarass Art. 12 GG Rn. 9 empfehlen :). Einen guten Rutsch ins neue Jahr wünscht dir das Jurafuchsteam!


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