+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
B ist Lehrer und Beamter auf Lebenszeit. Er nimmt während Tarifverhandlungen an Warnstreiks seiner Gewerkschaft teil, obwohl er eigentlich zu unterrichten hat, und kassiert dafür eine Geldbuße wegen Dienstpflichtverletzung. B sieht Art. 9 Abs. 3 GG verletzt.
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Einordnung des Falls
Streikverbot für Beamte – Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 11 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Die Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) schützt sowohl die Gründung von und Mitgliedschaft in Gewerkschaften als auch die Teilnahme an Streiks.
Ja!
Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG normiert das "Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden" (sog. Koalitionsfreiheit). Darunter fallen v.a. Gewerkschaften wie die des B. Art. 9 Abs. 3 schützt Organisation und Bestand der Koalition sowie koalitionsspezifische Verhaltensweisen. Dazu zählen insbesondere Arbeitskampfmaßnahmen (z.B. Warnstreiks), die auf den Abschluss von Tarifverträgen gerichtet sind. Art. 9 Abs. 3 GG schützt dabei auch individuell die Gründung von und Mitgliedschaft in Koalitionen sowie die Teilnahme an geschützten Tätigkeiten wie etwa Streiks (Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 15.A. 2018, Art. 9 RdNr. 40).
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2. Der persönliche Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG schließt Beamten aus. B kann sich deshalb nicht auf die Koalitionsfreiheit und das Streikrecht berufen.
Nein, das ist nicht der Fall!
Gemäß Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ist die Koalitionsfreiheit "für jedermann und für alle Berufe gewährleistet". Art. 9 Abs. 3 GG schützt alle Menschen in ihrer Eigenschaft als Berufsangehörige (Arbeitnehmer oder Arbeitgeber). Auch Angestellte des öffentlichen Dienstes und Beamte werden vom persönlichen Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG umfasst (RdNr. 113). Auch die Grundsätze des Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG) führen nicht zu einer Beschränkung des Schutzbereichs des Art. 9 Abs. 3 GG bei Beamten. Denn nur so wird der herausgehobenen Stellung der Grundrechte als Kern der freiheitlich demokratischen Ordnung Rechnung getragen (RdNr. 139).
3. Der sachliche Schutzbereich setzt voraus, dass Streiks auf den Abschluss von Tarifverträgen gerichtet sind. Da die Besoldung von Beamten nicht durch Tarifverträge, sondern gesetzlich festgelegt wird, ist der sachliche Schutzbereich bei Beamten nicht eröffnet
Nein, das trifft nicht zu!
Die Besoldung von Beamten wird einseitig durch Gesetz geregelt (§ 2 Abs. 1 BBesG). Koalitionen von Beamten ist daher der Abschluss von Tarifverträgen verwehrt. Folglich fehlt es hier an der unmittelbaren Tarifbezogenheit des Streiks. BVerfG: Art. 9 Abs. 3 GG setze nicht voraus, dass ein Streik stets in Bezug auf den Abschluss eines eigenen Tarifvertrages erfolgt. Entscheidend sei, dass es sich um gewerkschaftlich getragene, auf Tarifverhandlungen bezogene Aktionen handele. Dies sei auch dann erfüllt, wenn Beamte an Warnstreiks ihrer Gewerkschaft teilnehmen, die auf den Abschluss von Tarifverträgen anderer, tariflich beschäftigter Arbeitnehmer gerichtet sind (mittelbare Tarifbezogenheit) (RdNr. 140).
4. Der Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG ist eröffnet. Die Verhängung des Bußgelds wegen Teilnahme am Streik greift in die Koalitionsfreiheit und das dadurch verbürgte Streikrecht des B ein.
Ja!
Das Bußgeld sanktioniert die Ausübung des Grundrechts durch B und verkürzt damit den durch Art. 9 Abs. 3 GG eröffneten Freiheitsraum. Ein Eingriff ist gegeben.
5. Die Koalitionsfreiheit wird vorbehaltlos gewährleistet und unterliegt nur verfassungsimmanenten Schranken.
Genau, so ist das!
Art. 9 Abs. 3 GG kann nur zum Schutz kollidierenden Verfassungsrechts eingeschränkt werden. Eine Übertragung der Schrankenregelung aus Art. 9 Abs. 2 GG kommt aus systematischen Gründen nicht in Betracht (Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 15.A. 2018, Art. 9 RdNr. 52). Aber auch verfassungsimmanente Schranken bedürfen wegen des Vorbehalts des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) einer hinreichenden Konkretisierung durch den Gesetzgeber in Form einer gesetzlichen Grundlage (hier §§ 33ff. BeamtStG, §§ 60ff. BBG).
6. Als verfassungsimmanente Schranke kommen die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG) in Betracht, zu denen auch das Streikverbot gehört.
Ja, in der Tat!
Art. 33 Abs. 5 GG umfasst den Kernbestand von Strukturprinzipien, die allgemein oder doch ganz überwiegend während eines längeren, traditionsbildenden Zeitraums als verbindlich anerkannt und gewahrt worden sind (RdNr. 118). BVerfG: Das Streikverbot sei ein hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums. Es gehe auf die Staatspraxis in der Weimarer Republik zurück und sei inhaltlich eng mit den verfassungsrechtlichen Fundamenten des Berufsbeamtentums in Deutschland, namentlich der Treuepflicht und dem Alimentationsprinzip, verknüpft (RdNr. 144ff.).
7. Mit Art. 9 Abs. 3 GG und Art. 33 Abs. 5 GG stehen sich zwei Verfassungsgüter gegenüber. Diese Grundrechtskollision ist nach dem Prinzip der praktischen Konkordanz zu lösen.
Ja!
Verfassungsimmanente Schranken führen nicht stets zu einer Rechtfertigung der Grundrechtsbeschränkung. Eine Kollision zweier Verfassungsgüter ist nach dem Prinzip der praktischen Konkordanz aufzulösen. Danach sind die Rechtsgüter nicht einfach gegeneinander abzuwägen, sondern müssen so erfasst und einander zugeordnet werden, dass möglichst beide zur optimalen Wirksamkeit gelangen (RdNr. 157; Hufen, Staatsrecht II, 7.A. 2018, § 9 RdNr. 31).
8. Das Spannungsverhältnis zwischen Art. 9 Abs. 3 und Art. 33 Abs. 5 GG ist zugunsten des umfassenden Beamtenstreikverbots aufzulösen. Dieses ist nach deutschem Recht verhältnismäßig.
Genau, so ist das!
BVerfG: Der Eingriff in Art. 9 Abs. 3 GG sei nicht besonders schwerwiegend. Denn: Der Gesetzgeber hat die Beschränkung der Koalitionsfreiheit z.B. durch Beteiligungsrechte bei der Vorbereitung gesetzlicher Regelungen kompensiert (§ 118 BBG und § 53 BeamtStG). Zudem räumt das Alimentationsprinzip dem einzelnen Beamten das Recht ein, die Besoldung stets gerichtlich überprüfen zu lassen. Das BVerfG hält ein „Rosinenpicken“ für unzulässig und das Streikverbot mithin für verhältnismäßig (RdNr. 158).
9. Das Streikverbot könnte aber gegen Art. 11 EMRK verstoßen. Die Gewährleistungen der EMRK sind unmittelbarer verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab und müssen vom BVerfG stets berücksichtigt werden.
Nein, das trifft nicht zu!
Die EMRK ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der eines Rechtsanwendungsbefehls bedarf, um innerstaatliche Geltung zu entfalten. Aufgrund der Transformationswirkung des Vertragsgesetzes (Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG) ist die EMRK in Deutschland ein einfaches Bundesgesetz. Prüfungsmaßstab einer Verfassungsbeschwerde sind jedoch allein die Grundrechte des GG (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG). BVerfG: Zur Bindung der Gerichte an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) gehöre aber auch – mittelbar – die Berücksichtigung der EMRK im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung (RdNr. 109). Dies gebietet der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit.
10. Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) entfalten für deutsche Gerichte unmittelbare Bindungswirkung.
Nein!
Entscheidungen des EGMR wirken nur inter partes (Art. 46 Abs. 1 EMRK). Der Rechtsprechung des EGMR kommt aber eine Leit- und Orientierungsfunktion zu. Dabei sind die konkreten Umstände des Falles im Sinne einer Kontextualisierung von den deutschen Gerichten zu berücksichtigen (RdNr. 132). Die Entscheidungen können also nicht ohne Weiteres auf die deutsche Rechtsordnung übertragen werden, ohne nationale Besonderheiten zu berücksichtigen.
11. Der EGMR hielt ein ausnahmsloses Streikverbot in der Türkei für nicht gerechtfertigt. Deshalb verstößt das generelle Streikverbot in Deutschland gegen Art. 11 EMRK.
Nein, das ist nicht der Fall!
BVerfG: Das umfassende Streikverbot sei eine nationale Besonderheit, die dem Umstand geschuldet sei, dass sich die Staaten in Europa kulturell und historisch unterschiedlich entwickelt haben (RdNr. 174). Eine Kollisionslage mit Art. 11 EMRK bestehe bei Kontextualisierung der Entscheidung des EGMR nicht. Das generelle Streikverbot für Beamte aus Art. 33 Abs. 5 GG ist daher mit Art. 11 EMRK vereinbar.