Sonderfall I: Selbstverteidigung gegen Angriffe nicht-staatlicher Akteure?


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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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Die Al-Akhdir-Terrororganisation verübt täglich Anschläge im Staat B mit vielen Toten. B holt zum Gegenschlag aus und greift Ausbildungscamps von Al-Akhdir in Staat A an. Al-Akhdir kontrolliert zwar keine Gebiete in A, kann dort aber aufgrund instabiler Zustände unbehelligt agieren.

Einordnung des Falls

Sonderfall I: Selbstverteidigung gegen Angriffe nicht-staatlicher Akteure?

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. A sind die Anschläge der Al-Akhdir auf Basis der völkerrechtlichen Grundsätze zur Staatenverantwortlichkeit zurechenbar.

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Al-Akhdir ist eine Gruppierung Privater und dem Staat A damit allenfalls über Art. 8 Articles of State Responsibility zurechenbar. Al-Akhdir hätte insoweit im Auftrag oder unter der Leitung oder Kontrolle von A handeln müssen. Ausweislich des Sachverhalts besteht jedoch weder eine „effektive" ("effective", vgl. IGH, Military and Paramilitary Activities, ICJ Rep. 1986, RdNr. 60 f.) noch eine „allumfassende" ("overall", vgl. ICTY, Prosecutor ./. Tadić, 1999, IT-94-1-A, RdNr. 103-105) Kontrolle des A über die Al-Akhdir. Für andere Zurechnungsmodi liefert der Sachverhalt keine Anhaltspunkte.

2. Weil A die Al-Akhdir-Terrororganisation in seinem Staatsgebiet unbehelligt agieren lässt, sind ihm die Anschläge der Al-Akhdir zurechenbar.

Nein, das trifft nicht zu!

Nach der äußerst umstrittenen safe-haven-Doktrin soll einem Staat das Handeln Privater zurechenbar sein, wenn dieser den Privaten Unterschlupf gewährt und ihre Angriffe auf andere Staaten bewusst duldet. Die safe-haven-Doktrin stammt aus der US-amerikanischen Außenpolitik und wurde etwa von Israel (Libanonkrieg 2006) oder Russland (Georgienkonflikt 2002) aufgegriffen. Diese Staatenpraxis reicht für eine völkergewohnheitsrechtliche Anerkennung nicht. Vorliegend wäre die safe-haven-Doktrin bereits tatbestandlich nicht erfüllt, weil A der Al-Akhdir weder willentlichUnterschlupf gewährt noch ihre Angriffe auf B bewusstduldet.

3. Die Unfähigkeit des A, gegen die Al-Akhdir vorzugehen, hat für die Zurechnung der Handlungen der Al-Akhdir keine Relevanz.

Ja!

Richtig! Der hier angesprochene Unable-or-Unwilling-Standard taugt jedenfalls de lege lata nicht als Zurechnungsmodus. Er genießt schlicht (noch) keine völkergewohnheitsrechtliche Anerkennung. Zudem ist umstritten, ob der Unable-or-Unwilling-Standard überhaupt als Zurechnungsmodus zu klassifizieren ist oder nicht vielmehr eine Duldungspflicht des unfähigen oder unwilligen Staates gegenüber Interventionen des angegriffenen Staates gegen die privaten Aggressoren darstellt.

4. B's Gegenschlag ist keine Gewalt im Sinne des Art. 2 Nr. 4 UN-Charta, weil dieser sich gegen eine Gruppierung Privater richtet.

Nein, das ist nicht der Fall!

Der Beschuss der Ausbildungscamps ist als Einsatz militärischer Mittel eine Gewaltanwendung. Diese spielt sich auch in den internationalen Beziehungen ab: getroffen werden zwar Ausbildungscamps der (privaten) Terrorgruppierung Al-Akhdir. Diese verfügt jedoch nicht über eine den Staat A ausschließende Gebietskontrolle, sodass der Beschuss die Gebietshoheit des A verletzt.

5. B's Gegenschlag ist gerechtfertigt, wenn er in Ausübung seines Selbstverteidigungsrechts nach Art. 51 S. 1 UN-Charta handelt.

Ja, in der Tat!

Genau! Art. 51 UN-Charta gesteht den Staaten ein Selbstverteidigungsrecht „im Falle eines bewaffneten Angriffs" zu. Art. 51 S. 1 UN-Charta setzt eine Selbstverteidigungslage voraus, d.h. einen gegenwärtigen rechtswidrigen bewaffneten Angriff. Das Kriterium der Gegenwärtigkeit ergibt sich aus der englischsprachigen Formulierung im Präsens: "if an armed attack occurs". Das Kriterium der Rechtswidrigkeit folgt aus dem Telos des Art. 51 UN-Charta und der Systematik der Charta: eine Selbstverteidigung gegen einen Staat, der selbst in Selbstverteidigung oder aufgrund einer Sicherheitsratsresolution nach Art. 42, 39 UN-Charta agiert, ist ausgeschlossen.

6. Die wiederholten täglichen schweren Anschläge von Al-Akhdir stellen einen bewaffneten Angriff dar.

Ja!

Ein bewaffneter Angriff setzt eine Gewaltanwendung voraus, die nach Ausmaß und Wirkung ("scale and effects") über die des Art. 2 Nr. 4 UN-Charta hinausgeht. Ein einzelner Anschlag überschreitet diese Schwelle trotz immenser Personen- und Sachschäden nicht. Nach der sog. accumulation of events-Doktrin können mehrere niedrigschwellige Angriffe über einen längeren Zeitraum zu einem Angriff zusammengefast werden, wenn diese in einem engen zeitlichen und sachlichen Zusammenhang stehen und deshalb als Gesamttat betrachtet werden können. Dies ist nicht nur bei Militäroperationen, sondern auch bei terroristischen Kampagnen der Fall (str.!).

7. Angesichts der täglich verübten Anschläge ist von einer unmittelbar bevorstehenden Fortsetzung weiterer schwerer Anschläge auszugehen. Der bewaffnete Angriff ist damit gegenwärtig.

Genau, so ist das!

Folgt man der accumulation-of-events-Doktrin und verklammert die einzelnen Anschläge zu einem fortdauernden Angriff, finden auch künftige Anschläge Beachtung, ohne auf die präventive Selbstverteidigung abstellen zu müssen. Das Kriterium der Gegenwärtigkeit ist damit erfüllt.

8. Es liegt eine Selbstverteidigungslage vor. Es ist allerdings strittig, ob B ein Selbstverteidigungsrecht gegen private Akteure zusteht und A daher Selbstverteidigungsmaßnahmen durch B dulden muss.

Ja, in der Tat!

Die Anwendbarkeit des Selbstverteidigungsrechts bei bewaffneten Angriffen nicht-staatlicher Akteure ist sehr umstritten. Dafür wird angeführt, dass nicht-staatliche Akteure ähnliche Gefahren wie Staaten schaffen können und es betroffenen Staaten nicht zuzumuten ist, tatenlos Angriffe Privater zu dulden. Dagegen wird die Verankerung des Selbstverteidigungsrechts in der staatlichen Souveränität angeführt. B kann sein Selbstverteidigungsrecht gegen die Al-Akhdir nur ausüben, indem er die Gebietshoheit des A verletzt. A selbst ist jedoch mangels Zurechenbarkeit nicht richtiger Adressat der Selbstverteidigungsmaßnahme ist. Dass er sie dulden muss, sei ihm wiederum nicht zuzumuten.

9. Unterstellt man, dass das Selbstverteidigungsrecht auf bewaffnete Angriffe nicht-staatlicher Akteure keine Anwendung findet, so waren die Angriffe des B auf die Ausbildungscamps in A völkerrechtswidrig.

Ja!

Unilaterale Selbstverteidigungshandlungen gegen Private auf dem Territorium eines anderen Staates und ohne dessen Einwilligung sind sehr umstritten und nach einer starken Ansicht in Rechtsprechung und Wissenschaft nicht vom Selbstverteidigungsrecht des Art. 51 S. 1 UN-Charta gedeckt. Hierfür wird auch die gewaltmonopolisierende Funktion des Sicherheitsrates angeführt. Das UN-Sicherheitssystem stellt angegriffene Staaten nicht schutzlos, sondern macht eine militärische Intervention von einem Mandat des Sicherheitsrats nach Art. 39, 42 UN-Charta abhängig.

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