Öffentliches Recht

Staatsorganisations-Recht

Gesetzgebungsverfahren

Verkappte Regierungsvorlage (Art. 76 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 GG)

Verkappte Regierungsvorlage (Art. 76 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 GG)

5. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Die Bundesregierung will als nächstes die Erbschaftssteuer abschaffen. Da sie einen öffentlichen Aufschrei befürchtet, will sie das Gesetzgebungsverfahren möglichst schnell hinter sich bringen. Daher schreibt die Bundesregierung eine „Formulierungshilfe“ für eine Gesetzesvorlage. Auf Grundlage dieser Formulierungshilfe bringt die F-Fraktion, welche die Regierung stützt, eine Gesetzesvorlage beim Bundestag ein.

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Einordnung des Falls

Verkappte Regierungsvorlage (Art. 76 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 GG)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Gesetzesvorlagen der Bundesregierung müssen zunächst dem Bundesrat zugeleitet werden.

Ja!

Gesetzesvorlagen der Bundesregierung sind dem Bundesrat zuzuleiten (Art. 76 Abs. 2 S. 1 GG). Der Bundesrat kann grundsätzlich innerhalb von sechs Wochen dazu Stellung nehmen (Art. 76 Abs. 2 S. 2 GG). Er ist aber nicht zur Stellungnahme verpflichtet („ist berechtigt“). Sinn und Zweck dieses Vorverfahrens ist es, den Bundesrat frühzeitig am Gesetzgebungsverfahren zu beteiligen.
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2. Die Bundesregierung hat die Gesetzesvorlage beim Bundestag eingebracht, weil sie die Gesetzesvorlage erarbeitet hat.

Nein, das ist nicht der Fall!

Diese Frage ist strittig. Nach überwiegender Ansicht ist für Art. 76 Abs. 1 GG entscheidend, wer die Gesetzesvorlage offiziell in den Bundestag eingebracht hat („formelle Urheberschaft“) und nicht, wer die Gesetzesvorlage erarbeitet hat („materielle Urheberschaft“). Es ist schon rein praktisch äußerst schwer, im politischen Betrieb die ¥materielle Urheberschaft“ zu ermitteln, weil die verschiedenen Akteure informell eng zusammenarbeiten. Diese Rechtsunsicherheit lässt sich durch die formelle Perspektive vermeiden (Telos). Der „Mitte des Bundestages“ wird zudem ein Aneignungsrecht in Bezug auf (vermeintlich) geistig fremde Gesetzesvorlagen zugeschrieben. Die F-Fraktion hat die Gesetzesvorlage beim Bundestag eingebracht. Die Gesetzesvorlage stammt gemäß § 76 Abs. 1 GO-BT also aus der Mitte des Bundestages“ im Sinne des Art. 76 Abs. 1 Var. 2 GG. Die formelle Urheberschaft ist maßgeblich. Daher musst Du den Sachverhalt mit pedantischer Genauigkeit wiederholen, wenn dort gesagt wird, von wem die Gesetzesvorlage kommt: Es macht beispielsweise einen Unterschied, ob eine Gesetzesvorlage von den Abgeordneten einer Fraktion (§ 76 Abs. 1 Var. 2 GO-BT) oder von einer Fraktion (§ 76 Abs. 1 Var. 1 GO-BT) eingereicht wird! Hier darfst du nicht einfach so die „Abgeordneten einer Fraktion“ als „Fraktion“ behandeln.

3. Ein Verstoß gegen die Pflicht zur Zuleitung von Gesetzesvorlagen der Bundesregierung an den Bundesrat (Art. 76 Abs. 2 S. 1 GG) führt grundsätzlich zur formellen Verfassungswidrigkeit des Gesetzes.

Ja, in der Tat!

Die Stellungnahme des Bundesrates ist nicht rechtlich bindend, oder zwingend vorgeschrieben. Zudem wird der Bundesrat später noch am Gesetzgebungsverfahren beteiligt (Art. 77 Abs. 2-4 GG). Der strenge Wortsinn des Art. 76 Abs. 2 S. 1 GG („sind zuzuleiten“) spricht jedoch dagegen, dass die Norm nur eine Ordnungsvorschrift ohne Auswirkung auf die formelle Verfassungsmäßigkeit ist. Auch würde durch die Unbeachtlichkeit der Sinn und Zweck der Norm vereitelt, den Bundesrat frühzeitig am Gesetzgebungsverfahren zu beteiligen.

4. Die Gesetzesvorlage der F-Fraktion ist mangels Zuleitung an den Bundesrat (Art. 76 Abs. 2 S. 1 GG) formell verfassungswidrig.

Nein!

Da Art. 76 Abs. 2 S. 1 GG nur bei Gesetzesvorlagen der Bundesregierung greift (Wortsinn) und die Gesetzesvorlage bei der verkappten Regierungsvorlage aus der Mitte des Bundestages eingebracht wird, liegt kein Verstoß gegen Art. 76 Abs. 2 S. 1 GG vor. Dass durch diese Praxis eine Norm, die allein für die Bundesregierung gilt (Art. 76 Abs. 2 S. 1 GG), umgangen werden könnte, berührt die formelle Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes nicht. Denn die „Mitte des Bundestages“ ist eine von der Bundesregierung zu unterscheidende Akteurin, die nur ihr eigenes Gesetzesinitiativrecht ausübt (Art. 76 Abs. 1 Var. 2 GG). Die Gesetzesvorlage wurde aus der Mitte des Bundestages beim Bundestag eingebracht. In diesen Fällen ist kein Vorverfahren nach Art. 76 Abs. 2-3 GG durchzuführen. Diese Verfahrenspraxis wird verkappte Regierungsvorlage genannt. Sie dient der Beschleunigung des Gesetzgebungsverfahrens. Nach einer anderen Ansicht ist die verkappte Regierungsvorlage wegen der Umgehung formeller Verfahrensvorschriften verfassungswidrig.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

BEBE

Benni Bertelmann

3.11.2022, 18:05:56

Ggf. könnte hier ergänzt werden, dass es sich um einen Meinungsstreit handelt. Zwar wird hier die (sehr) h.M. dargestellt, allerdings geht eine m.M. davon aus, dass die Umgehung der vorherigen Zuleitung in dieser Form rechtsmissbräuchlich ist, sodass ebenfalls formelle Verfassungswidrigkeit vorläge.

Nora Mommsen

Nora Mommsen

4.11.2022, 10:40:04

Hallo TorgeU, willkommen im Forum. Danke für die Anregung! Einen entsprechenden Vertiefungshinweis haben wir aufgenommen. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team


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