Dimensionen des Meinungsbegriffs: Tatsachenbehauptungen, die nicht zur Meinungsbildung Dritter beitragen
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Die Bundesregierung (B) erhebt im Rahmen einer bundesweiten Volkszählung Daten über Arbeitsplatz und Wohnort aller Bürger. Nörglerin N fragt sich, ob sie diese statistische Erhebung in ihrer negativen Meinungsfreiheit beeinträchtigt.
Einordnung des Falls
Dimensionen des Meinungsbegriffs: Tatsachenbehauptungen, die nicht zur Meinungsbildung Dritter beitragen
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Im Rahmen der Eröffnung des sachlichen Schutzbereichs der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) ist zwischen Werturteilen und Tatsachen zu differenzieren.
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Ja, in der Tat!
2. Tatsachenbehauptungen fallen generell aus dem sachlichen Schutzbereich der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG).
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Nein!
3. Tatsachenbehauptungen sind vom sachlichen Schutzbereich der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) erfasst, wenn sie geeignet sind, zur Meinungsbildung beizutragen.
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Genau, so ist das!
4. Der Kreis der Tatsachenbehauptungen, die zur Meinungsbildung beitragen und deshalb unter den sachlichen Schutzbereich der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) fallen, ist eng zu fassen.
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Nein, das trifft nicht zu!
5. Die rein statistische Erhebung im Rahmen der Volkszählung ist als meinungsbildende Tatsache vom sachlichen Schutzbereich der (negativen) Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) erfasst.
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Nein!
Fundstellen
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Ferdinand
17.6.2021, 09:20:24
Bzgl. der Vertiefung: Es kann doch nicht ausreichend sein, dass ohne jeden tatsächlichen Hinweis die bloße Möglichkeit, dass Tatsachen Grundlage eines Werturteils werden könnten, die Einbeziehung in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit rechtfertigt. Dann wäre die Unterscheidung zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteil ja völlig überflüssig, wenn im Ergebnis doch alles erfasst wird.
WillezurGerechtigkeit
17.6.2021, 18:24:49
In der Tat gibt es eine in der Literatur vertretene Mindermeinung, die die Unterscheidung für obsolet hält. So beispielsweise Michael/Morlok, Grundrechte, § 9 RdNr. 209. Auch Schmidt argumentiert in seinem Lehrbuch, dass die Unterscheidung letztlich überflüssig wird, wenn man die Geeignetheit zur Meinungsbildung Dritter nur weit genug versteht. Meines Erachtens gibt es genug akademische Gründe, die gegen eine strenge Unterscheidung sprechen. Weshalb die wohl hM noch an der Unterscheidung festhält lieg mMn nach an der (eher überholten) Rechtsprechung des BverfG im Volkszählungsurteil und an dem (starken) Wortlautargument aus Art. 5 Abs. 1 GG. Ich hoffe Dir hat diese Erklärung weitergeholfen :)

Lukas_Mengestu
18.6.2021, 02:17:04
Hallo ihr beiden, die Grenzen sind hier natürlich fließend, insbesondere wenn Meinung und Tatsache in einer Aussage vermischt werden. Die von der Rechtsprechung getroffene Abgrenzung führt aber jedenfalls im Hinblick auf unrichtige Tatsachen noch zu Einschränkungen des Schutzbereiches. Anders als eine Meinung ist eine Tatsache dem Beweis zugänglich und kann widerlegt werden. Unrichtige Tatsachen tragen jedoch nichts sinnvolles zur Meinungsbildung bei und sind insofern nicht schützenswert (vgl. v.Mangoldt/Klein/Starck/Starck/Paulus, 7. A 2018, GG, Art. 5 Rn. 82). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
WillezurGerechtigkeit
18.6.2021, 12:00:50
Lesenswert in diesem Kontext auch Ipsen, Grundrechte, RdNr 416-418, der die Unterscheidung auch für überflüssig hält. Er geht sogar so weit, dass selbst unwahre Tatsachenbehauptungen der Meinungsfreiheit unterhalten und kommt zum selben Ergebnis auf Rechtfertigungsebene. Seine Argumente finde ich nicht von der Hand zu weisen, aber auch nicht zwingend: "Insofern muss streng zwischen der Frage getrennt werden, ob sich ein Grundrechtsträger ggü staatlichen Maßnahmen auf ein Grundrecht berufen kann, sein Verhalten also unter den Tatbestand des Grundrechts fällt, und der Frage, ob das Grundrechz ein bestimmtes Verhalten im Ergebnis auch schützt. Das BVerfG muss sich seiner abweichenden Rspr. entgegentreten lassen, dass es die Frage, ob ein Grundrecht einschlägig ist, bereits von Wertungen abhängig macht, die erst im Zusammenhang mit den Grundrechtsschranlem - und somit auf Rechtfertigungsebene - ihren Platz haben.
QuiGonTim
1.2.2022, 17:54:53
Im vorliegenden Fall ist mir nicht ersichtlich, wie die Mindermeinung einen hinreichende Verbindung zwischen Werturteil und Meinungsbildung herleiten will. Die Daten werden von Millionen von Bürgern erhoben. Erst in ihrem anonymen Zusammenwirken ermöglichen sie eine Meinungsbildung. Die Tatsachenbehauptung des einzelnen Bürgers ist für den sich an die Volkszählung anschließenden Meinungsbildungsprozess völlig irrelevant.
L123
18.8.2022, 11:12:32
Bei der vorletzten Frage stimmt glaube ich die Antwort mit der Lösung nicht überein.