Gebietsverträglichkeit einer Gastwirtschaft im allgemeinen Wohngebiet
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Bauherrin B erhält eine Baugenehmigung für eine Gaststätte mit ca. 300 Plätzen, die von 9 Uhr bis 1 Uhr betrieben werden soll. Nachbarin N ist empört. Sie hält dies im allgemeinen Wohngebiet (§ 4 BauNVO) für unzulässig und beruft sich auf den „Gebietserhaltungsanspruch“.
Einordnung des Falls
Gebietsverträglichkeit einer Gastwirtschaft im allgemeinen Wohngebiet
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. N möchte gegen die Baugenehmigung vorgehen. Statthafte Klageart ist die Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Var. 1 VwGO).
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Ja!
2. N ist klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO), wenn zumindest die Möglichkeit besteht, dass die Baugenehmigung rechtswidrig ist.
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Nein, das ist nicht der Fall!
3. Die Festsetzung im Bebauungsplan als allgemeines Wohngebiet (§ 4 BauNVO) ist drittschützend. N ist somit klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO).
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Ja, in der Tat!
4. Im Rahmen der Drittanfechtungsklage der N ist B notwendig beizuladen (§ 65 Abs. 2 VwGO).
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Ja!
5. Die Klage der N ist begründet, soweit die Baugenehmigung rechtswidrig und N dadurch in ihren Rechten verletzt ist (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).
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Genau, so ist das!
6. In allgemeinen Wohngebieten (§ 4 BauNVO) sind Schank- und Speisewirtschaften generell unzulässig.
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Nein, das trifft nicht zu!
7. Eine Schank- und Speisewirtschaft dient der Gebietsversorgung (§ 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO), wenn sie sich dem allgemeinen Wohngebiet, in dem sie liegt, funktional zuordnen lässt.
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8. Auch eine allgemein zulässige Regelnutzung (§ 4 Abs. 2 BauNVO) kann bauplanungsrechtlich unzulässig sein, wenn sie der allgemeinen Zweckbestimmung des Baugebiets (§ 4 Abs. 1 BauNVO) widerspricht.
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9. Obwohl die Gaststätte der Versorgung des Gebiets dient (§ 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO), ist sie aufgrund der Größe und des Störungspotentials im allgemeinen Wohngebiet generell gebietsunverträglich.
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Nein, das trifft nicht zu!
10. Eine Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs der N scheidet aus. Die Klage ist somit unbegründet.
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Ja!
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Elisabeth
19.8.2020, 15:14:03
Hierzu hätte ich eine Frage: Gebietsprägungserhaltungsanspruch ist doch nicht identisch mit Gebietsunverträglichkeit, bzw. die Begriffe schließen sich inhaltlich aus? Ich meine Gebietsunverträglich ist ein Vorhaben, wenn die Nutzungsart zulässig ist, aber grundsätzlich den Zweck des Gebiets untergraben würde (im konkreten Fall vom BVerwG ja verneint), aber Gebietsprägungserhaltungsanspruch ist für mich eher, dass eine Nutzungsart nur ausnahmsweise zulässig ist, weil es aber das Gebiet „prägt“, also quasi ein positiver Anspruch durch gefestigte Baugenehmigungspraxis. Die Materie ist wirklich sehr verwirrend, und im vorliegenden Fall war es wohl nicht nötig die Begriffe scharf abzugrenzen, aber nach welchen Kriterien würde ich dann abgrenzen?

Hamburger Michel
21.9.2020, 19:59:19
Hallo Elisabeth, mir hat bei dieser schwierigen Abgrenzung immer wieder der Artikel "Nachbarschutz im öffentlichen Baurecht" von David Ullenboom auf juraexamen.info weitergeholfen - sehr lesenswert; anbei sende ich dir den Link: http://www.juraexamen.info/nachbarschutz-im-offentlichen-baurecht/ Liebe Grüße

Jana-Kristin
3.12.2020, 17:22:52
Hallo Elisabeth, auch wenn deine Frage schon etwas her ist, antworte ich dennoch auf deinen Post, weil die Abgrenzung mich auch sehr interessiert hat. Die Prüfung etwaiger Nachbarrechtsverletzungen bzgl. der Art der baulichen Nutzung kann in folgender Form auftreten: 1. Allgemeiner Gebietserhaltungsanspruch = Schutzanspruch auf die Bewahrung der jeweiligen Gebietsart 2. Gebot der Rücksichtnahme 3. Spezieller Gebietsprägungserhaltungsanspruch = verleiht dem Dritten einen Schutzanspruch auf die Bewahrung der typischen Prägung der jeweiligen Gebietsart

Jana-Kristin
3.12.2020, 17:26:58
Der Unterschied zwischen 1. und 3. ist, dass der Gebietsprägungserhaltungsanspruch dann greift, wenn ein Bauvorhaben bauplanungsrechtlich in dem entsprechenden Gebiet zwar an sich mit der Gebietsart vereinbar wäre, es aber gleichwohl (generell) gebietsunverträglich ist, weil es der allgemeinen Zweckbestimmung des maßgeblichen Baugebietstyps widerspricht. Im Ergebnis kommt dieser Gebietsprägungserhaltungsanspruch erst zum Zuge, wenn eine Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs verneint worden ist (z.B. weil das Vorhaben über 31 I BauGB ausnahmsweise zulässig war). Die Abgrenzung ist mE sehr schwierig und nicht unbedingt für die Klausur im 1. Examen (höchstens mal in einer Hausarbeit) geeignet.
Florian
11.11.2022, 23:23:02
Ich halte den Obersatz: „Die Klage der N ist begründet, soweit die Baugenehmigung rechtswidrig und N dadurch in ihren Rechten verletzt ist“ zumindest für problematisch… Man sollte doch den Korrektoren nicht gleich Anlass liefern, daran zu zweifeln, dass man hier die besondere Drittanfechtungslage stets im Blick hat, was meint ihr? :) Ich würde das glaube ich mit dem Zusatz formulieren, dass N in subjektiven, gleichsam drittschützenden, Normen verletzt sein muss

Nora Mommsen
12.11.2022, 11:57:22
Hallo Florian, ein guter Punkt den du da anbringst. Grundsätzlich ist es nie verkehrt, mit einem allgemeingültigen Obersatz in die Anfechtungsklage zu starten. In Drittanfechtungskonstellationen bietet es sich an in einem zweiten Satz zu präzisieren inwiefern die Baugenehmigung rechtswidrig ist. Es wird allerdings auch vertreten, dass zunächst eine allgemeine Rechtswidrigkeitsprüfung vorzunehmen ist und erst in einem zweiten Schritt unter Rechtsverletzung die subjektive Rechtsstellung im Wege der Schutznormtheorie zu ermitteln ist. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team