+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
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Corona & Recht
Einzelhändlerin M hat von V Räume zur „Nutzung als Verkaufs- und Lagerräume eines Einzelhandelsgeschäfts“ angemietet. Aufgrund der COVID-19-Pandemie muss M ihr Geschäft im April 2020 auf behördliche Anordnung einen Monat schließen. M zahlt deshalb keine Miete. V verlangt den Mietzins.
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Einordnung des Falls
Als unmittelbare Reaktion auf die COVID-19-Pandemie mussten im März 2020 die Einzelhändler ihre Läden schließen. Da viele Händler ihre Geschäftsräume lediglich angemietet hatten, stellte sich die Frage, ob sie verpflichtet waren, für den Zeitraum Miete zu zahlen. Die Instanzgerichte kamen hier zunächst zu unterschiedlichen Ergebnissen. Mit der hier behandelten Entscheidung äußerte sich der BGH erstmalig zu dieser Frage und sorgte für Klarheit. Er bediente sich hierfür eines Instituts, welches seine Anfänge in der Hyperinflation 1923 nahm: Der Störung der Geschäftsgrundlage!
Dieser Fall lief bereits im 1./2. Juristischen Staatsexamen in folgenden Kampagnen
Examenstreffer Mecklenburg-Vorpommern 2022
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 14 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Ist die Anspruchsgrundlage für die Zahlung der Miete § 535 Abs. 2 BGB?
Ja!
Der Mieter ist verpflichtet, dem Vermieter die vereinbarte Miete zu entrichten (§ 535 Abs. 2 BGB). Diese Mietzahlungspflicht des Mieters steht im Gegenseitigkeitsverhältnis mit den Pflichten des Vermieters, nämlich insbesondere der Pflicht zur Gebrauchsgewährung (§ 535 Abs. 1 S. 1 BGB), zur Erhaltung der Mietsache im vertragsgemäßen Zustand (§ 535 Abs. 1 S. 2 BGB) und zur Gewähr für Sach- und Rechtsmängel (§§ 536ff. BGB).A und O einer gelungenen Fallprüfung ist der saubere Einstieg mit der entsprechenden Anspruchsgrundlage. Beherzige das auch in Deiner Klausur!
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2. Liegt ein Mangel der Mietsache vor, kann der Mieter durch Minderungserklärung die Miete mindern (§ 536 BGB)?
Nein, das ist nicht der Fall!
Weist die Mietsache einen Mangel auf, so ist der Mieter ganz oder teilweise von der Pflicht zur Mietzahlung befreit (§ 536 Abs. 1 BGB). Anders als im Kaufrecht tritt die Minderung im Mietrecht kraft Gesetzes ein. Es handelt sich also nicht um ein Gestaltungsrecht, das ausgeübt werden müsste. Ein Verschulden des Vermieters ist nicht erforderlich. Die Höhe der Minderung hängt vom Mangel ab: Ist die Tauglichkeit der Mietsache aufgrund des Mangels vollständig aufgehoben, so ist der Mieter ganz von der Pflicht zur Mietzahlung befreit (§ 536 Abs. 1 S. 1 BGB). Im Übrigen ist die Miete angemessen herabzusetzen (§ 536 Abs. 1 S. 2 BGB).Dass die Minderung im Mietrecht kraft Gesetzes greift, wird häufig verkannt. Das passiert Dir nun nicht mehr! 3. Gilt im Mietrecht primär der subjektive Mangelbegriff?
Ja, in der Tat!
Ein Mangel liegt vor, wenn die tatsächliche Beschaffenheit der Mietsache (Ist-Beschaffenheit) von der vertraglich geschuldeten (Soll-)Beschaffenheit abweicht (subjektiver Mangelbegriff). Die Soll-Beschaffenheit bestimmt sich primär nach den Vereinbarungen der Parteien; hilfsweise wird sie unter Berücksichtigung des vereinbarten Nutzungszwecks nach der Verkehrsanschauung bestimmt. Der Mangel kann sich auch aus der Beziehung der Mietsache zur Umwelt ergeben. Voraussetzung ist aber stets, dass der Mangel die Tauglichkeit der Sache zu dem vertragsgemäßen Gebrauch aufhebt oder nicht unerheblich mindert (§ 536 Abs. 1 S. 1, S. 3 BGB).
Damit laufen der kaufrechtliche und der mietrechtliche Mangelbegriff weitgehend gleich.
4. Können öffentlich-rechtliche Beschränkungen des Gebrauchs der Mietsache einen Mietmangel begründen?
Ja!
Auch öffentlich-rechtliche Gebrauchsbeschränkungen können zu einem Mangel führen. Voraussetzung ist aber, dass die Beschränkung der konkret vermieteten Sache ihre Ursache gerade in deren Beschaffenheit und Beziehung zur Umwelt habt und nicht in den persönlichen oder betrieblichen Umständen des Mieters. Das ist nur dann der Fall, wenn die Gebrauchsbeschränkung unmittelbar mit der konkreten Beschaffenheit, dem Zustand oder der Lage der Mietsache in Zusammenhang steht. Maßnahmen, die nur den geschäftlichen Erfolg des Mieters beeinträchtigen, fallen im Grundsatz in dessen Risikobereich. Denn das Verwendungsrisiko trägt allein der Mieter. Die Einigung über die Risikoverteilung ist Ausdruck der Privatautonomie der Parteien.
5. Stellt die coronabedingte Ladenschließung einen Mangel dar, da die Mietsache infolgedessen nicht die physischen Eigenschaften aufweist, die für den Betrieb erforderlich sind?
Nein, das ist nicht der Fall!
Ein Mangel liegt vor, wenn die tatsächliche Beschaffenheit der Mietsache (Ist-Beschaffenheit) von der vertraglich geschuldeten (Soll-)Beschaffenheit abweichtBGH: Die coronabedingte Ladenschließung knüpfe nicht an die konkrete Beschaffenheit der Mietsache, sondern an den Betrieb des Mieters an. Es gehe dabei nicht etwa um bauliche Aspekte der Räumlichkeiten, sondern nur um die Nutzungsart der Mietsache durch den Mieter, bei der Publikumsverkehr in der Mietsache stattfinde, was Infektionen begünstigt. Die Beschränkung der Mietsache habe ihre Ursache daher nicht in deren Beschaffenheit, sondern in betrieblichen Umständen der M.
6. Stellt die coronabedingte Ladenschließung einen Mangel dar, da der Vertragszweck („Nutzung als Verkaufs- und Lagerräume“) nicht mehr realisiert werden kann?
Nein, das trifft nicht zu!
Ein Mangel liegt vor, wenn die tatsächliche Beschaffenheit der Mietsache (Ist-Beschaffenheit) von der vertraglich geschuldeten (Soll-)Beschaffenheit abweichtBGH: M hätte nicht davon ausgehen können, dass V mit der Vereinbarung des konkreten Mietzwecks eine unbedingte Einstandspflicht auch für den Fall einer hoheitlich angeordneten, pandemiebedingten Öffnungsuntersagung übernehmen wollte. Da somit die Verwendungsmöglichkeit der Mietsache im Falle einer globalen Pandemie nicht vertraglich geschuldet war, liegt auch kein Mietmangel vor. Rechtsfolge: Da kein Mangel vorliegt, scheidet eine Minderung gemäß § 536 Abs. 1 S. 1 BGB aus. Maßgeblich ist an dieser Stelle die Auslegung der konkreten Vereinbarung: Welche Partei sollte welches Risiko tragen? Ja!
Liegen die Voraussetzungen des § 313 Abs. 1 BGB vor, ist eine Vertragsanpassung möglich. Dies setzt voraus, dass sich (1) Umstände, die zur Vertragsgrundlage geworden sind, nach Vertragsschluss geändert haben (reales Element) und (2) diese Änderung so schwerwiegend ist, dass die Parteien den Vertrag nicht oder nicht so geschlossen hätten, wenn sie diese Änderung vorausgesehen hätten (hypothetisches Element). Außerdem muss (3) einer Vertragspartei unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung, ein Festhalten am Vertrag unzumutbar sein (normatives Element).Die Störung der Geschäftsgrundlage ist eine absolute Ausnahmevorschrift. Denn hierdurch wird von dem Grundsatz der Vertragstreue („pacta sunt servanda“) abgewichen. 8. Setzt die Vertragsanpassung aufgrund der Störung der Geschäftsgrundlage zunächst voraus, dass sich ein Umstand ändert, der zur Geschäftsgrundlage geworden ist (reales Element)?
Genau, so ist das!
Für die Anwendung der Rechtsfolgen des § 313 Abs. 1 BGB muss zunächst die Geschäftsgrundlage betroffen sein. Geschäftsgrundlage sind nach h.M. die nicht zum eigentlichen Vertragsinhalt erhobenen, bei Vertragsabschluss aber zutage getretenen gemeinsamen Vorstellungen beider Vertragsparteien oder die dem Geschäftsgegner erkennbaren und von ihm nicht beanstandeten Vorstellungen der anderen Vertragspartei von dem Vorhandensein oder dem künftigen Eintritt bestimmter Umstände, auf denen der Geschäftswille der Parteien sich aufbaut. Dem Vertrag zugrunde liegende Vorstellungen sind insbesondere die Erwartung der vertragschließenden Parteien, dass sich die grundlegenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen eines Vertrags nicht ändern und die Sozialexistenz nicht erschüttert werde (große Geschäftsgrundlage). Arbeite - gerade bei Normen, die nicht dauernd dran kommen - so eng am Gesetz wie möglich. Bei § 313 Abs. 1 BGB ist das sehr wichtig.
9. Haben sich durch die COVID-19-Pandemie Umstände geändert, die zur Vertragsgrundlage geworden sind (reales Element des § 313 Abs. 1 BGB)?
Ja, in der Tat!
Zu der sogenannten großen Geschäftsgrundlage gehört die Erwartung der vertragschließenden Parteien, dass sich die grundlegenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen eines Vertrags nicht ändern und die Sozialexistenz nicht erschüttert werde.
BGH: Aufgrund der vielfältigen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie wie Geschäftsschließungen, Kontakt- und Zugangsbeschränkungen und der damit verbundenen massiven Auswirkungen auf das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben in Deutschland während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 sei vorliegend die große Geschäftsgrundlage betroffen.
10. Stellt die COVID-19-Pandemie eine schwerwiegende Änderung der Geschäftsgrundlage dar (hypothetisches Element des § 313 Abs. 1 BGB)?
Ja!
Eine Änderung der Umstände ist schwerwiegend, soweit die Parteien den Vertrag nicht oder anders geschlossen hätten, wenn sie die Änderung vorausgesehen hätten (hypothetisches Element).BGH: Die pandemiebedingten Betriebsschließungen stellten offenkundig eine schwerwiegende Änderungdar. BGH: Für die schwerwiegende Änderung spreche auch die neu geschaffene Vorschrift des Art. 240 § 7 EGBGB: Die Norm ist anwendbar (1) auf vermietete Grundstücke oder vermietete Räume, sofern diese keine Wohnräume sind. (2) Die Objekte müssen infolge staatlicher Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie für den Betrieb des Mieters nicht oder nur mit erheblicher Einschränkung verwendbar sein. Liegen beide Voraussetzungen vor, so wird nach Art. 240 § 7 EGBGB vermutet, dass eine schwerwiegenden Änderung der Geschäftsgrundlage im Sinne des § 313 Abs. 1 BGB vorliegt.Artikel 240 EGBGB ist mit Ablauf des 30.09.2022 außer Kraft getreten.
11. Ist für M ein Festhalten am Vertrag unter Berücksichtigung aller Umstände zumutbar (normatives Element des § 313 Abs. 1 BGB)?
Nein, das trifft nicht zu!
Unzumutbar ist das Festhalten am Vertrag, wenn ansonsten untragbare, mit Recht und Gerechtigkeit schlechthin unvereinbare Folgen drohen. Bei der Bewertung der Rechtsfolgen kommt der vertraglichen Risikoverteilung besondere Bedeutung zu. BGH: Die enttäuschte Gewinnerwartung des Mieters beruhe nicht auf einer fehlerhaften Geschäftsentscheidung, sondern auf der hoheitlich angeordneten Betriebsschließung zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie. Die in diesem Zusammenhang beschlossenen Maßnahmen gingen über das gewöhnliche Verwendungsrisiko des Mieters hinaus. Ohne entsprechende vertragliche Regelung könne das durch die Maßnahmen verwirklichte Risiko keiner Vertragspartei allein zugewiesen werden.Auch hier zeigt sich der Vorrang der Privatautonomie. Hätten V und M eine vertragliche Regelung getroffen, so wäre § 313 BGB nicht anwendbar.
Die Ausgangsinstanz (LG Chemnitz) wollte wegen der Kürze der Schließung die Unzumutbarkeit nur annehmen, wenn die wirtschaftliche Existenz auf dem Spiel stehe. Dies lehnt der BGH ab. 12. Muss M aufgrund des Wegfalls der Geschäftsgrundlage für April gar keine Miete zahlen?
Nein!
Liegen die Voraussetzungen der Störung der Geschäftsgrundlage vor, kann die benachteiligte Partei die Anpassung des Vertrages verlangen. Ziel ist dabei, den Vertrag so zu ändern, dass ein weiteres Festhalten am Vertrag wieder zumutbar ist. Die Anpassung erfolgt nicht automatisch. Kann eine einvernehmliche Vertragsanpassung auch im gerichtlichen Verfahren nicht herbeigeführt werden, ist das Gericht verpflichtet, die entsprechende Vertragsanpassung vorzunehmen.M kann hier zunächst nur die Anpassung des Vertrages verlangen und diese nicht einseitig vornehmen. Mit Blick darauf, dass keine Partei das Risiko für die COVID-19-Pandemie trifft, kommt ein völliger Ausschluss der Miete nicht in Betracht. 13. Ist die Miete zwischen M und V pauschal hälftig zu teilen, da das Risiko der COVID-19-Pandemie keiner Partei zugewiesen werden kann?
Nein, das ist nicht der Fall!
Ziel der Vertragsanpassung ist es, den Vertrag so zu ändern, dass ein weiteres Festhalten am Vertrag wieder zumutbar ist.
BGH: Zwar trage keine Partei das Risiko der Pandemie. Eine pauschale hälftige Teilung komme mit Blick auf das normative Tatbestandsmerkmal der Zumutbarkeit aber nicht in Betracht. Vielmehr bedürfe es einer umfassenden und auf den Einzelfall bezogenen Abwägung. Dabei müssten sowohl die Nachteile des Mieters (z.B. entgangene Einnahmen), als auch seine Vorteile (z.B. ersparte Aufwendungen) berücksichtigt werden. Ebenfalls zu berücksichtigen sei, welche Maßnahmen der Mieter getroffen habe, um die Verluste zu minimieren. Staatliche Unterstützungsmaßnahmen, die nur auf Basis eines zurückzuzahlenden Darlehens gewährt wurden, müssten dagegen außer Betracht bleiben.Damit klärt der BGH eine Rechtsfrage, die zwischen den Instanzgerichten bislang streitig war.
14. Ist die Rechtslage für Mieter und Vermieter durch die Entscheidung des BGH nun abschließend geklärt, sodass es in den noch anhängigen Prozessen flächendeckend Vergleiche geben wird?
Nein, das trifft nicht zu!
Die zentrale Bedeutung der Entscheidung liegt darin, dass der BGH bezüglich der Schwelle der Unzumutbarkeit für Klarheit gesorgt hat. Er hat sich dabei gegen die Stimmen gewandt, die die Unzumutbarkeit auf Fälle der Existenzgefährdung beschränken möchten (z.B. LG Frankfurt, s. hier!). Vielmehr wählt er die quotale Lösung auf Ebene der Rechtsfolge. Dabei betont er, dass sich schematische Lösungen verbieten. Die Tatsacheninstanzen müssen daher in jedem Einzelfall prüfen, welche Vor- und Nachteile die Mieter erlitten haben, um den Umfang der Anpassung zu ermitteln. Auch hier steckt also noch erhebliches Konfliktpotential! In der Klausur enthielte der Sachverhalt deshalb konkrete Angaben zu Kosten und ersparten Aufwendungen. Im Einzelfall sind hier Vergleiche natürlich nicht ausgeschlossen.