Zivilrecht

Examensrelevante Rechtsprechung ZR

Entscheidungen von 2020

Erkrankung eines sich selbst vertretenden Rechtsanwalts

Erkrankung eines sich selbst vertretenden Rechtsanwalts

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Anwalt A vertritt sich selbst. Am Tag vor Ablauf der Frist zur Begründung seiner Berufung erkrankt A plötzlich. A beantragt eine Fristverlängerung, die der Gegner ablehnt. Die Frist wird nicht verlängert. Weitere Maßnahmen trifft A nicht. A begehrt Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

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Einordnung des Falls

Erkrankung eines sich selbst vertretenden Rechtsanwalts

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Bei der Versäumung bestimmter Fristen kann die säumige Partei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragen.

Ja, in der Tat!

Allgemeine Folge der Versäumung von Prozesshandlungen ist, dass die Partei mit der vorzunehmenden Prozesshandlung ausgeschlossen wird (§ 230 ZPO). Ausnahmsweise kann der Partei aber Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden (§ 233 ZPO).
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2. Ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hat Erfolg, wenn er zulässig und begründet ist.

Ja!

Ein Antrag auf Wiedereinsetzung ist zulässig, wenn er statthaft (§ 233 S. 1 ZPO) ist und formgerecht (§ 236 Abs. 1 ZPO) sowie fristgerecht (§ 234 ZPO) eingereicht wird. Er ist begründet, wenn die Fristversäumung unverschuldet war (§ 233 S. 1 ZPO) und der Antragsteller die zugrundeliegenden Tatsachen glaubhaft macht (§ 236 Abs. 2 S. 1 ZPO). Innerhalb der zweiwöchigen Antragsfrist muss auch die versäumte Prozesshandlung nachgeholt werden. Wird sie noch vor der Antragsstellung nachgeholt, kann Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auch ohne Antrag - also von Amts wegen - gewährt werden (§ 236 Abs. 2 S. 2 Hs. 2 ZPO).

3. Es fehlt bereits an der Statthaftigkeit von As Antrag. Denn die Wiedereinsetzung ist nur bei Versäumung sogenannter Notfristen möglich, nicht bei der Berufungsbegründungsfrist.

Nein, das ist nicht der Fall!

Gemäß § 233 S. 1 ZPO ist ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand statthaft bei der Versäumung aller dort ausdrücklich aufgeführten Fristen. Dazu gehört nicht nur die Notfrist, sondern auch die Frist zur Begründung der Berufung, der Revision, der Nichtzulassungsbeschwerde oder der Rechtsbeschwerde sowie die Frist des Wiedereinsetzungsantrags. Notfristen sind nur diejenigen Fristen, die in der ZPO als solche bezeichnet sind (§ 224 Abs. 1 S. 2 ZPO). Die Berufungsbegründungsfrist, die A hier versäumt hat, ist von der Aufzählung des § 233 S. 1 ZPO erfasst. As Antrag auf Wiedereinsetzung ist somit statthaft. Im vorliegenden Fall hatte A hat den Antrag auch form- und fristgerecht gestellt. Diese Anforderungen sind oft unproblematisch. Der Antrag ist somit insgesamt zulässig. Auch für den Wiedereinsetzungsantrag gilt: Das Vorliegen unproblematischer Voraussetzungen kannst Du im Urteilsstil einfach feststellen.

4. As Antrag ist jedoch unbegründet, da A die Frist schuldhaft versäumt hat. Denn A wurde erst kurz vor Fristablauf krank. Wer eine Frist bis zum letzten Tag ausreizen will, hat Pech.

Nein, das trifft nicht zu!

Eine Frist darf bis zu ihrem Ablauf (24 Uhr) ausgeschöpft werden, ohne dass dem Beteiligten hieraus Nachteile erwachsen. Es ist nicht erforderlich, dass ein Anwalt ohne konkreten Anlass vorsorglich einen Vertreter bestellt, nur weil er die Frist bis zum letzten Moment ausnutzen möchte (BGH NJW 2015, 171 Rdnr. 18). A durfte die Frist bis zum letzten Tag ausschöpfen. Dies führt nicht ohne Weiteres dazu, dass er die Fristversäumung zu verschulden hat. Der BGH verlangt allerdings die Anwendung einer erhöhten Sorgfalt, wenn der Anwalt die Frist bis zum letzten Tag ausnutzt, weil dann das Risiko einer Fristversäumung erfahrungsgemäß höher ist(BGH NJW 1998, 2677; NJW-RR 2004, 1502). Welche konkreten Maßnahmen dafür erforderlich sind, hängt vom Einzelfall ab. Beispiele: Funktioniert der Drucker des Anwalts nicht, muss er auf andere im Büro verfügbaren Drucker zurückgreifen (BGH NJW 2006, 2637, 2368). Scheitert eine Faxsendung an die Zweigstelle eines Gerichts, muss er das Fax an die Hauptstelle senden (BGH NJW-RR 2021, 54, 56).

5. Wenn das Gericht As Antrag auf Fristverlängerung hätte stattgeben müssen, hätte A die Fristversäumung nicht zu verschulden gehabt. Ist die Gewährung der Fristverlängerung hier abhängig von der Einwilligung des Gegners?

Ja!

Die zweimonatige Berufungsbegründungsfrist kann auf Antrag vom Vorsitzenden verlängert werden, wenn der Gegner einwilligt (§ 520 Abs. 2 S. 2 ZPO). Die Frist ist zulässigerweise nicht verlängert worden, da der Gegner nicht eingewilligt hat. Ohne Einwilligung kann die Berufungsbegründungsfrist bis zu einen Monat verlängert werden, sofern der Rechtsstreit durch die Verlängerung nicht verzögert wird oder der Berufungskläger erhebliche Gründe darlegt (§ 520 Abs. 2 S. 3 ZPO).In der Klausur würde diese Konstellation eindeutig im Sachverhalt angelegt sein, dass der Ausnahmefall des § 520 Abs. 2 S. 3 ZPO nicht greift.

6. Ob ein Anwalt eine Frist schuldhaft versäumt, ist regelmäßig davon abhängig, ob er Vorkehrungen zur Einhaltung seiner Fristen getroffen hat.

Genau, so ist das!

Ein Rechtsanwalt muss allgemeine Vorkehrungen dafür treffen, dass zur Fristwahrung erforderliche Handlungen unternommen werden, wenn er unvorhergesehen verhindert ist. Dazu gehören z.B. dem Personal entsprechende Anweisungen zu geben und eine Absprache mit einer Kollegin zu treffen, die im Verhinderungsfall allgemein zur Vertretung bereit ist.

7. Diese strengen Sorgfaltspflichten gelten auch, wenn sich der Anwalt im Prozess selbst vertritt. Denn auch dann ist er nicht als Beteiligter, sondern weiterhin als Anwalt zu behandeln.

Ja, in der Tat!

BGH: Der sich selbst vertretende Rechtsanwalt ist im Prozess als Rechtsanwalt und nicht als Beteiligter zu behandeln (Rdnr. 8). Der BGH begründet dies nicht weiter. Für diese Sichtweise sprechen aber die besonderen Anforderungen, die das anwaltliche Berufsrecht an die Führung der Geschäfte von Rechtsanwälten stellt.

8. A hat die Fristversäumung vorliegend verschuldet. Denn nachdem sein Antrag auf Fristverlängerung abgelehnt wurde, hätte er eine Kollegin mit seiner Vertretung beauftragen müssen.

Nein!

Ein Anwalt hat die Fristversäumung trotz fehlender Maßnahmen nicht zu verschulden, wenn die Frist selbst bei sorgfaltsgemäß getroffenen Vorkehrungen versäumt worden wäre. Vorliegend ist unschädlich, dass sich A nie um eine mögliche Vertretung bemüht hat. Denn A wurde am Tag vor Fristablauf krank. Eine Berufungsbegründung ist jedoch zu komplex, als dass die vertretungsbereite Kollegin sie innerhalb eines Tages hätte verfassen können. Somit wäre eine Fristwahrung im konkreten Fall selbst mit einer allgemein vertretungsbereiten Kollegin nicht möglich gewesen. Die Fristversäumung war mithin unverschuldet.

9. Sofern A die Tatsache, dass er am Tag vor Fristablauf krank geworden ist, im Prozess glaubhaft macht, ist ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Genau, so ist das!

Die Glaubhaftmachung ist gemäß § 236 Abs. 2 S. 1 ZPO erforderlich. Eine Glaubhaftmachung kann mittels aller präsenter Beweismittel erfolgen, auch die eidesstattliche Versicherung ist zulässig (§ 294 ZPO). Präsente Beweismittel meinen alle Beweismittel, die im Verhandlungstermin mitgebracht werden und nicht erst beschafft oder geladen werden müssen (vgl. § 294 Abs. 2 ZPO). In der Praxis ist häufig die anwaltliche Versicherung ausreichend. As Antrag auf Wiedereinsetzung ist zulässig und - die Glaubhaftmachung vorausgesetzt - begründet. Ihm ist somit Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
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