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Entscheidungen von 2019

Erklärung des Kfz-Haftpflichtversicherers hinsichtlich des Unfallhergangs mit Nichtwissen

Erklärung des Kfz-Haftpflichtversicherers hinsichtlich des Unfallhergangs mit Nichtwissen

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs
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Assessorexamen

K klagt nach einem Autounfall mit E gegen Haftpflichtversicherung V. Versicherungsnehmer N hatte seinen PKW vor dem Unfall an E verkauft, der unter falschem Namen auftrat. K kann nur den Namen des Unfallgegners nennen, den dieser vor Ort angab. V kann E unter keinem dieser Namen erreichen und bestreitet den Unfall mit Nichtwissen.

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Einordnung des Falls

Erklärung des Kfz-Haftpflichtversicherers hinsichtlich des Unfallhergangs mit Nichtwissen

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 11 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Ansprüche gegen den Unfallgegner nach einem Verkehrsunfall kann der Geschädigte auch direkt gegenüber dem Haftpflichtversicherer geltend machen.

Ja, in der Tat!

Gemäß § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG kann ein Geschädigter Schadensersatzansprüche auch gegenüber dem Versicherer geltend machen, wenn es sich bei der Versicherung um eine Haftpflichtversicherung handelt, die das Pflichtversicherungsgesetz verbindlich vorschreibt. Halter von Kraftfahrzeugen sind gemäß § 1 S. 1 PflVG grundsätzlich dazu verpflichtet, für sich selbst, den Eigentümer und den Fahrer des Fahrzeugs eine Haftpflichtversicherung abzuschließen. Für einen Ausnahmetatbestand ist nichts ersichtlich. Somit liegt eine Haftpflichtversicherung im Sinne des § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG vor.
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2. Da nur N einen Versicherungsvertrag mit V geschlossen hat, muss V für Schäden nach der Veräußerung an E nicht mehr einstehen.

Nein!

Gemäß § 122 i.V.m. § 95 Abs. 1 VVG tritt der Erwerber einer Sache, die Gegenstand einer Pflichtversicherung ist, mit dem Erwerb in die Rechte und Pflichten des veräußernden Versicherungsnehmers ein. N hat den PKW als Versicherungsnehmer an E veräußert. Somit ist E in Bezug auf den PKW in die Rechte und Pflichten des N aus dem (Pflicht-)Versicherungsvertrag mit V eingetreten. V muss deshalb grundsätzlich weiterhin für Schäden einstehen, die der Betrieb des PKW verursacht.

3. K muss grundsätzlich hinsichtlich aller in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen das Unfallereignis darlegen und beweisen.

Genau, so ist das!

Im Zivilprozess gilt im Grundsatz, dass eine Partei, die sich auf eine für sie günstige Rechtsnorm beruft, deren Tatbestandsvoraussetzungen darlegen und beweisen muss. Etwas anderes gilt nur ausnahmsweise, etwa im Falle einer gesetzlich angeordneten oder durch richterliche Rechtsfortbildung geschaffenen Beweislastumkehr. Als Anspruchsgrundlagen des K kommen vor allem §§ 7, 18 StVG und § 823 BGB in Betracht. Hinsichtlich jeder dieser Anspruchsgrundlagen ist ein schädigendes Ereignis – hier der Unfall – eine für den Anspruchssteller günstige Tatbestandsvoraussetzung. Insoweit existiert auch keine gesetzliche oder richterrechtliche Beweislastumkehr. Folglich muss K den Unfall darlegen und beweisen.

4. K muss den Beweis über das Unfallereignis aber nur führen, wenn V dieses wirksam bestreitet.

Ja, in der Tat!

Das folgt aus §§ 138 Abs. 3, 288 Abs. 1 ZPO: Gemäß § 288 Abs. 1 ZPO muss eine Partei eine behauptete Tatsache nicht beweisen, wenn die gegnerische Partei sie zugesteht. Gemäß § 138 Abs. 3 ZPO ist auch jede nicht ausdrücklich bestrittene Tatsache als zugestanden anzusehen, sofern sich nicht aus dem sonstigen Vorbringen der Partei ergibt, dass sie die Tatsache bestreiten will. Achte also in der Klausur darauf, dass Du nur die Beweislage von Tatsachen prüfst, zu denen der Gegner wenigstens konkludent etwas gesagt hat.

5. Wenn K den Unfallhergang substanziiert darlegt, muss V diesen im Grundsatz auch substanziiert bestreiten, um die Beweisbedürftigkeit herbeizuführen.

Ja!

Gemäß § 138 Abs. 2 ZPO muss sich jede Partei zu den von der gegnerischen Partei behaupteten Tatsachen erklären. Dabei gilt der Grundsatz, dass die Anforderungen an die Substanziierung (also den Detailreichtum) einer Gegendarstellung davon abhängen, wie substanziiert der ursprüngliche Parteivortrag ist: Je substanziierter die Behauptung einer Partei, desto substanziierter muss auch der Gegner sich zu der behaupteten Tatsache erklären, um sie wirksam bestreiten zu können (BGH NJW-RR 2020, 1320). Das Vorbringen eines Klägers ist substanziiert, wenn er Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einer Rechtsnorm geeignet sind, das geltend gemachte Recht als entstanden erscheinen zu lassen.

6. Die bloße Erklärung, eine Tatsache nicht zu kennen, die substanziiert vorgetragen wurde, ist ausgeschlossen.

Nein, das ist nicht der Fall!

Auch substanziiert vorgetragenen Tatsachen kann der Gegner unter bestimmten Voraussetzungen die Erklärung des Nichtwissens entgegenhalten (§ 138 Abs. 4 ZPO). Dies erfordert aber, dass die Tatsache keine Handlung der Partei betrifft und auch nicht Gegenstand ihrer eigenen Wahrnehmung gewesen ist. Bei juristischen Personen kommt es insoweit auf die Wahrnehmungen ihrer Organe an (BGH NJW-RR 202, 612).Achte auf die Terminologie! § 138 Abs. 4 ZPO spricht von der „Erklärung mit Nichtwissen“. In der Praxis wird oftmals ungenau vom „Bestreiten mit Nichtwissen“ gesprochen. Dies ist fehlerhaft, da die Parteien die prozessuale Wahrheitspflicht trifft (§ 138 Abs. 1 ZPO). Fehlt ihnen also die konkrete Kenntnis über eine Tatsache, so dürfen sie nicht behaupten, dass die Tatsache nicht vorläge (=bestreiten). Vielmehr dürfen sie nur ihre Unkenntnis erklären.

7. Obwohl V bzw. ihre Organe den Unfallhergang nicht wahrgenommen haben, trifft sie insoweit über § 138 Abs. 4 ZPO hinaus eine Erkundigungspflicht.

Ja, in der Tat!

Die bestreitende Partei trifft über § 138 Abs. 4 ZPO hinaus eine Erkundigungspflicht, wenn eine Tatsache Personen bekannt ist, die unter der Anleitung, Aufsicht oder Verantwortung der Partei tätig geworden sind. BGH: Außerdem seien Erklärungen mit Nichtwissen insoweit unzulässig, als Kenntnisse und Einlassungen der Partei zu einer bestimmten Tatsache zu erwarten seien (RdNr. 19). E hat als neue Versicherungsnehmerin den Unfallhergang womöglich wahrgenommen. BGH: Zum einen stünden Versicherer und Versicherter im selben Lager; zum anderen sei es dem Versicherer in der Regel ohne Weiteres möglich, vom Versicherten Informationen über ein Schadensereignis einzuholen. V treffe deshalb grundsätzlich eine Erkundigungspflicht gegenüber E (RdNr. 18f.).

8. Wenn V ihrer Erkundigungspflicht nachkommt, aber keine Informationen über den Unfallhergang erhält, darf sie diesbezüglich trotzdem ihr Nichtwissen erklären.

Ja!

BGH: Die Anforderungen an die Erkundigungspflicht dürften nicht überspannt werden. Die Informationspflicht der Partei bestehe deshalb nur im Rahmen des Zumutbaren. Seien die Nachforschungen gänzlich erfolglos oder erhalte die Partei widersprüchliche Informationen, deren Wahrheitsgehalt sie nicht einschätzen könne, dürfe sie trotz ihrer Erkundungspflicht bezüglich der betreffenden Tatsachen weiterhin ihr Nichtwissen erklären (RdNr. 11).

9. V hat ihrer Erkundigungspflicht genügt, indem sie versucht hat, E unter den von K und N genannten Namen zu kontaktieren.

Genau, so ist das!

BGH: V habe aufgrund der Mitteilung des alten Versicherungsnehmers N versucht, E als neue Versicherungsnehmerin und mögliche Unfallbeteiligte zu kontaktieren. Auch unter den von K genannten Personendaten habe N versucht, Kontakt zum Unfallgegner als möglichem Mitversicherten aufzunehmen. Damit habe sie alle zumutbaren Informationsquellen vergeblich ausgeschöpft. Weitere Nachforschungen seien ihr nicht zumutbar (RdNr. 21).

10. V darf bezüglich des Unfalls ihr Nichtwissen erklären. K muss nunmehr Beweis über den Unfallhergang führen.

Ja, in der Tat!

Noch einmal zusammengefasst: Grundsätzlich muss K als Anspruchssteller darlegen und beweisen, dass und wie sich der Unfall ereignet hat, da dieser als Schadensereignis zu den Tatbestandsvoraussetzungen der möglichen Anspruchsgrundlagen gehört (§§ 7, 18 StVG, § 823 BGB). Die Beweisobliegenheit entfällt nur dann, wenn V den Unfall nicht wirksam bestreiten bzw. ihr Nichtwissen erklären kann. Da V sich aber vorliegend trotz Bestehens einer Informationspflicht nicht in zumutbarer Weise Informationen über den Unfall beschaffen kann, darf sie ihr Nichtwissen erklären (§ 138 Abs. 4 ZPO). Es bleibt deshalb dabei, dass K Beweis über den Unfallhergang führen muss, wenn die Klage Erfolg haben soll.

11. Erklärt eine Partei ihr Nichtwissen über eine relevante Tatsache, ist das im Urteil in den Tatbestand aufzunehmen.

Ja!

Grundsätzlich ergibt sich im Tatbestand eines Urteils die Streitigkeit einer Tatsache daraus, dass sie im Tatbestand beim streitigen Vorbringen der darlegungsbelasteten Partei aufgeführt ist. Die Erwähnung im Vorbringen der gegnerischen Partei wäre deshalb eine überflüssige Wiederholung. Allerdings ist die Erklärung mit Nichtwissen nur unter den Voraussetzungen des § 138 Abs. 4 ZPO prozessual zulässig und deshalb regelmäßig in den Entscheidungsgründen zu erörtern. Deshalb gehört es in das streitige Vorbringen der bestreitenden Partei. In der Klausur solltest Du die Formulierung des Gesetzes „Erklärung mit Nichtwissen“ benutzen. Vorliegend könnte die Darstellung wie folgt lauten: „Die Beklagte erklärt sich zu dem Unfall mit Nichtwissen.“
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Isabell

Isabell

5.3.2022, 19:08:51

Tipp, um sich Diskussionen mit dem Korrektor zu sparen: die Stelle der Akte in einer Klammer zitieren, wegen der man ein Nichtbestreiten/nachträgliches Unstreitigstellen annimmt. Hab das mehr als einmal gehabt, dass sich etwas entsprechendes in der Akte fand und der Lösungshinweis nicht darauf ausgerichtet war.

PPAA

Philipp Paasch

9.5.2022, 16:36:32

Gehört das zum Assessorexamen?

Isabell

Isabell

9.5.2022, 17:26:00

Genau ☺️

PPAA

Philipp Paasch

10.5.2022, 08:30:04

Hatte mich schon gewundert bei Akte. 😄 okay, super danke für den Hinweis Isabell. 😊

MTT

MTT

28.7.2022, 08:02:46

Auch wenn dieser Sachverhalt nicht so komplex ist, fände ich es sehr hilfreich, wenn ihr in Mehrpersonenverhältnissen (so, wie ihr es zum Teil schon macht) immer eine Skizze beifügen würdet, aus der sich die Beziehungen der Personen zueinander ergeben. Dann lässt sich der Sachverhalt schneller und einfacher erfassen. 😃

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

3.8.2022, 13:21:05

Vielen Dank für den Hinweis, MTT. Da werden wir zukünftig gerne noch verstärkt darauf achten :-) Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

frausummer

frausummer

16.5.2023, 14:05:28

Der Kläger muss den Unfall beweisen. An welchem Punkt wird denn die Beweislastumkehr der §§ 7, 18 StVG relevant?

Carl Wagner

Carl Wagner

21.5.2023, 10:19:16

Vielen Dank für deine Frage frausummer! Die Beweislastumkehr in § 18 I 2 StVG gilt nur für das Verschulden (negative Formulierung "gilt nicht"). § 7 StVG hat gar keine Verschuldenshaftung, sondern eine reine Gefährdungshaftung. Das äußert sich darin, dass es schon gar kein Kriterium "Verschulden" im § 7 StVG gibt. Ein Fahrer kann versuchen, die Vermutung des Verschuldens zu widerlegen (Beweislast). Ein Halter hat schon gar nicht diese Möglichkeit. Daher ist die Gefährdungshaftung (Halter) stärker als die Fahrerhaftung, die "nur" auf vermuteten Verschulden basiert. Viele Grüße - Carl für das Jurafuchs-Team

IS

IsiRider

26.1.2024, 20:18:19

Wohl eher für das 2. Examen von Relevanz?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

28.1.2024, 15:24:31

Hallo IsiRider, das kann man in der Gründlichkeit wohl annehmen! Die grundsätzliche Frage, ob die Ansprüche gegenüber der Versicherung noch geltend gemacht werden können, ist aber auch fürs erste Examen relevant. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

ALE

Aleks_is_Y

23.5.2024, 12:54:36

Nach dem zweiten Durchgehen durch die Aufgabe find ich, dass es sich anbieten würde diese Frage "Die bloße Erklärung, eine Tatsache nicht zu kennen, die substanziiert vorgetragen wurde, ist ausgeschlossen." um grundsätzlich zu ergänzen, da doch § 138 IV eine Abweichung vom Grundsatz der Unzulässigkeit des Bestreitens mit Nicht-Wissen darstellelt, oder? (Bei Erledigung gerne löschen)


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