Zivilrecht

Examensrelevante Rechtsprechung ZR

Entscheidungen von 2019

Substantiierung des Sachvortrags bei Behauptung lediglich vermuteter Tatsachen

Substantiierung des Sachvortrags bei Behauptung lediglich vermuteter Tatsachen

21. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs
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Assessorexamen

Kläger K arbeitet nahe der Metallverarbeitungsfabrik der Beklagten B. Der kerngesunde K und vier Kollegen erkranken an Berylliose und verlangen Schmerzensgeld. B bestreitet die Vermutung des K, die B emittiere Beryllium. Unstreitig war vor Kurzem Bs Luftfilteranlage defekt.

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Einordnung des Falls

Substantiierung des Sachvortrags bei Behauptung lediglich vermuteter Tatsachen

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Ob K gegen B einen Anspruch auf Schmerzensgeld hat (§§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB), lässt sich ohne eine Beweisaufnahme nicht beurteilen.

Genau, so ist das!

§ 823 Abs. 1 BGB setzt voraus: (1) Rechtsgutsverletzung, (2) Verletzungshandlung, (3) haftungsbegründende Kausalität (4) Rechtswidrigkeit, (5) Verschulden, (6) Schaden, (7) haftungsausfüllende Kausalität. Mittelbare Verletzungshandlungen und Unterlassen sind nur im Fall einer Verkehrssicherungspflicht tatbestandsmäßig. B bestreitet, Beryllium zu emittieren. Eine Verletzungshandlung wird auch nicht vermutet. Der haftungsbegründende Tatbestand steht ohne Beweisaufnahme nicht fest. In Betracht kämen auch Ansprüche aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. (Neben-)Strafgesetzen, Umweltrecht oder -auflagen, die zugleich Verkehrssicherungspflichten der B aus Herrschaft über eine Gefahrenquelle konkretisieren könnten.
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2. Eine Beweisaufnahme findet nur statt, wenn K seinen Anspruch auf Schmerzensgeld schlüssig vorgetragen hat (§§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB, § 138 Abs. 1 ZPO).

Ja, in der Tat!

Ist die Klage unschlüssig, so wird sie ohne Beweisaufnahme als unbegründet abgewiesen. Sachvortrag ist schlüssig, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, das geltend gemachte Recht als in ihrer Person entstanden erscheinen zu lassen (RdNr. 11). In diesem Sinne geeignet sind nur Tatsachen, die dem jeweils erforderlichen Maß an Substantiierung genügen. Der Vortrag zum gesamten Tatbestand ist nur schlüssig, wenn jede einzelne Tatsache hinreichend substantiiert dargelegt ist. Das „Maß erforderlicher Substantiierung“ ist identisch mit der „Reichweite der Darlegungslast“ (§ 138 Abs. 1 ZPO).

3. Ks Vortrag ist hinreichend substantiiert, obwohl er lediglich vermutet, B emittiere Beryllium. K hat seinen Anspruch aus §§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB also insgesamt schlüssig vorgetragen.

Ja!

Das Maß erforderlicher Substantiierung bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Es reduziert sich, soweit eine Partei mangels Sachkunde oder Einblicks in die Sphäre des Prozessgegners keine sichere Kenntnis von Einzeltatsachen haben kann. Insoweit genügt der Kläger seiner Darlegungslast bereits durch Vortrag bloßer Vermutungen in Verbindung mit hinreichenden Indizien (RdNr. 13). Unsubstantiiert ist dagegen Sachvortrag ins Blaue hinein oder aufs Geratewohl. K trägt vor, vier weitere Kollegen seien an Berylliose erkrankt, die Luftfilteranlage der B sei lange defekt und er selbst bis dato kerngesund gewesen. BGH: Dieser Vortrag ergebe eine hinreichende Indizienkette, die auf eine Verletzungshandlung nach § 823 Abs. 1 BGB schließen lasse (RdNr. 13).

4. B trifft eine sekundäre Darlegungslast.

Genau, so ist das!

Den Prozessgegner trifft eine sekundäre Darlegungslast, wenn (1) der primär Darlegungsbelastete außerhalb des von ihm vorzutragenden Geschehensablaufs steht, (2) ihm eine nähere Substantiierung unmöglich oder unzumutbar ist, (3) der Prozessgegner jedoch alle wesentlichen Tatsachen kennt oder unschwer in Erfahrung bringen kann und (4) ihm deren Offenlegung zumutbar ist. Schließlich setzt eine sekundäre Darlegungslast voraus, dass (5) der Vortrag des primär Darlegungsbelasteten seinerseits hinreichend substantiiert ist (BGH NJW-RR 2019, 467 RdNr. 18). K hat keine Einblicke in den Betrieb der B. Sein Vortrag ist den Grundsätzen der eingeschränkten Darlegungslast entsprechend hinreichend substantiiert. Auch die übrigen drei Voraussetzungen liegen vor.

5. Wenn B im Prozess ihrer sekundären Darlegungslast genügt, wird der Vortrag des K unsubstantiiert. K muss dann seinen Vortrag ergänzen, um eine Klageabweisung zu verhindern.

Nein, das trifft nicht zu!

Die sekundäre Darlegungslast setzt tatbestandlich einen hinreichend substantiierten Vortrag des primär Darlegungsbelasteten voraus. Dessen Substanz entfällt aber nicht dadurch, dass der Prozessgegner seiner sekundären Darlegungslast genügend erwidert (vgl. RdNr. 13). Vielmehr wird in diesem Fall der primäre Vortrag beweiserheblich. Genügt der Prozessgegner seiner sekundären Darlegungslast dagegen nicht so gilt der primäre Vortrag als zugestanden (§ 138 Abs. 3 ZPO). Der Vortrag des K ist und bleibt hinreichend substantiiert. Da B den Anspruch weiterhin bestreitet, ist eine Beweisaufnahme erforderlich.

6. Ist die Vermutung des K, die B emittiere Beryllium, dem Beweis zugänglich?

Ja!

Beweisgegenstand kann jeder substantiierte Sachvortrag sein. Daher sind auch vermutete Tatsachen dem Beweis zugänglich. Unzulässig ist erst der auf unsubstantiierten Sachvortrag gestützte Ausforschungsbeweis, der einen substantiierten Sachvortrag überhaupt erst ermöglichen soll. K hat, wie gesehen, seine Vermutung eines Einsatzes von Beryllium bei B durch eine Indizienkette hinreichend substantiiert. Kontrollüberlegung: K könnte seine Vermutung auch als „Tatsache“ vortragen. Die Wahrheitspflicht (§ 138 Abs. 1 ZPO) stünde dem nicht entgegen, denn diese verbietet nur die bewusste Lüge.

7. K tritt für seine Vermutung, die B verwende Beryllium, Beweis an durch urkundliche Auswertung von Materialbeschaffungslisten im Besitz der B. Ist dieser Beweisantrag zulässig (§§ 421, 422, 424 ZPO)?

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Zulässigkeit eines Beweisantrags nach §§ 421 ff. ZPO setzt voraus, dass der Gegner zur Vorlage der Urkunde verpflichtet ist. Das ist der Fall, wenn der Kläger gegen den Gegner einen materiell-rechtlichen Herausgabeanspruch (§ 422 ZPO) oder sich dieser selbst auf die Urkunde bezogen hat (§ 423 ZPO). Die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen ergeben sich aus §§ 424, 425 ZPO. Ein materiell-rechtlicher Anspruch des K gegen die B auf Herausgabe der Materialbeschaffungslisten ist nicht ersichtlich. Ein solcher Anspruch kann sich zum Beispiel aus § 259 BGB, § 402 BGB oder §§ 666, 667 BGB ergeben.

8. K beantragt, die Vorlage der Materialbeschaffungslisten der B von Amts wegen anzuordnen (§ 142 Abs. 1 S. 1 ZPO). Muss das Gericht über diesen Antrag entscheiden?

Ja, in der Tat!

Das Gericht muss über einen Antrag nach § 142 Abs. 1 S. 1 ZPO eine begründete Ermessensentscheidung nur dann treffen, wenn dessen Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen (BGHZ 173, 23 RdNr. 20, 22). Diese sind: (1) Bezugnahme einer Partei auf die Urkunde; (2) substantiierter Vortrag des Antragstellers zu deren Relevanz; (3) Bestimmbarkeit der Urkunde; (4) Besitz des Antragsgegners an der Urkunde (vgl. RdNr. 15). Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 142 Abs. 1 S. 1 ZPO liegen vor. Die Untersuchungsmaxime tritt in diesen Grenzen neben den Beibringungsgrundsatz. Je eingeschränkter die primäre Darlegungslast ist, desto eher muss das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen ermitteln (BGH NJW 2019, 2399 RdNr. 9). Wie die §§ 421 ff. ZPO erfüllt auch § 142 ZPO eine unmittelbare Beweisfunktion, setzt im Gegensatz zu § 422 ZPO jedoch keinen materiell-rechtlichen Herausgabeanspruch voraus (RdNr. 15) und geht insoweit über §§ 421 ff. ZPO hinaus.

9. K tritt für seine Vermutung, die B emittiere Beryllium, Beweis an durch Parteivernehmung der Geschäftsführerin der B (§ 445 ZPO). Muss das Gericht diesem Beweisantrag stattgeben?

Ja!

Die Zulässigkeit eines Antrags auf Vernehmung der gegnerischen Partei setzt voraus (§ 445 ZPO): (1) Beweislast beim Antragsteller; (2) Gegenbeweis noch nicht geführt (Abs. 2); (3) Keine Subsidiarität. Subsidiär ist die Parteivernehmung nur, wenn noch nicht alle zulässig angetretenen Beweise erfolglos erhoben wurden. K trägt die Beweislast dafür, dass B tatsächlich Beryllium emittiert. B hat das Gegenteil noch nicht bewiesen. Die Parteivernehmung ist das einzige von K zulässigerweise angebotene Beweismittel und daher auch nicht subsidiär (vgl. RdNr. 3, 14).

10. Das Gericht weist die Anträge des K zurück (§§ 142, 445 ZPO) und die Klage als unschlüssig ab. Ist K in seinem Recht auf rechtliches Gehör verletzt (Art. 103 Abs. 1 GG)?

Genau, so ist das!

Das grundrechtsgleiche Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verpflichtet das Gericht, schlüssigen Sachvortrag in prozessrechtlich gebotener Weise zur Kenntnis zu nehmen und die angebotenen Beweise zu erheben. K hat zum Einsatz von Beryllium hinreichend substantiiert und damit insgesamt schlüssig vorgetragen, sodass seine Anträge nicht auf einen unzulässigen Ausforschungsbeweis gerichtet sind. Das Gericht hätte daher jedenfalls nach § 445 ZPO Beweis erheben müssen (RdNr. 12). Die Ablehnung des Antrags nach § 142 Abs. 1 S. 1 ZPO kann dagegen je nach Begründung ermessensfehlerfrei gewesen sein (vgl. RdNr. 15).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

FJE

Friedrich-Schiller-Universität Jena

27.7.2023, 07:21:31

Sehr coole Idee mit den JuraFuchs Fällen! Macht weiter so! Allerdings habe ich zum Prüfungsschema des § 823 I BGB noch etwas hinzuzufügen. Zwischen Rechtswidrigkeit und Schaden wird noch der Punkt des Verschuldens gemäß

§ 276 BGB

geprüft.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

31.7.2023, 19:30:35

Vielen Dank für den guten Hinweis! Das ist hier bei der Übertragung leider abhanden gekommen. Wir haben das ergänzt. Beim Verweis auf

§ 276 BGB

musst Du nur ein wenig aufpassen. Dass die Haftung Verschulden (=

Vorsatz

und Fahrlässigkeit) voraussetzt, ergibt sich unmittelbar aus § 823 Abs. 1 BGB. In § 276 Abs. 1 BGB wird dagegen definiert, was unter Vertretenmüssen zu verstehen ist. Das Vertretenmüssen bildet gegenüber dem Verschulden den Oberbegriff. Während Verschulden lediglich

Vorsatz

und Fahrlässigkeit umfasst, so ist vom Begriff des Vertretenmüssens auch eine schärfere (=verschuldensunabhängige Haftung, vgl. zB § 287 BGB) bzw. leichtere Haftung (zB begrenzt auf

Vorsatz

und grobe Fahrlässigkeit, vgl. § 599 BGB) umfasst. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

ENU

ehemalige:r Nutzer:in

13.2.2024, 09:03:34

Der beste Fall! Das ganze Prozessrecht innerhalb von 10 Minuten

SY

sy

30.3.2024, 22:28:22

liebes Team, könntet ihr bitte zu dem Thema neben dem Zöllner, den wir im Examen nicht haben, auch due Fundstellen im Putzo nennen? gerade, wenn es darum geht, wann eine sekundäre Beweislast anzunehmen ist etc ? das wäre sehr hilfreich


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