Öffentliches Recht

Examensrelevante Rechtsprechung ÖR

Entscheidungen von 2022

Hinreichende Personalausstattung an Gerichten als Bestandteil des Rechts auf den gesetzlichen Richter (BVerfG, Beschl. v. 10.11.2022 - 1 BvR 1623/17)

Hinreichende Personalausstattung an Gerichten als Bestandteil des Rechts auf den gesetzlichen Richter (BVerfG, Beschl. v. 10.11.2022 - 1 BvR 1623/17)

23. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

B beantragt vor dem vor dem Landessozialgericht (LSG) Prozesskostenhilfe. Das Gericht lehnt ihren Antrag ab. An dem Beschluss wirkt ein an das LSG abgeordneter Richter mit, der eigentlich am Sozialgericht tätig ist.

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Einordnung des Falls

Hinreichende Personalausstattung an Gerichten als Bestandteil des Rechts auf den gesetzlichen Richter (BVerfG, Beschl. v. 10.11.2022 - 1 BvR 1623/17)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. B sieht sich in ihrem Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) verletzt. Ist die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) statthaft?

Ja, in der Tat!

Die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) ist statthaft, wenn sich die Beschwerdeführerin durch die öffentliche Gewalt in einem ihrer Grundrechte oder der in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a genannten grundrechtgleichen Rechte verletzt sieht. B sieht sich durch die gerichtliche Entscheidung in ihrem Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) verletzt. Dabei handelt es sich um eines der in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG genannten grundrechtsgleichen Rechte. Die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) ist statthaft. Das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) gehört zu den sog. Justizgrundrechten. Weitere Justizgrundrechte sind z.B. das Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), das strafrechtliche Analogieverbot (Art. 103 Abs. 2 GG) und das Doppelbestrafungsverbot (Art. 103 Abs. 3 GG).
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2. Der Grundsatz richterlicher Unabhängigkeit verlangt, dass Richter sachlich und persönlich unabhängig sind (Art. 97 GG).

Ja!

Sachliche Unabhängigkeit meint, dass Richter allein an das Gesetz gebunden und keinen Weisungen der Exekutive oder höherer Gerichte unterworfen sind (Art. 97 Abs. 1 GG). Persönliche Unabhängigkeit bedeutet, dass planmäßig und endgültig angestellte Richter gegen ihren Willen vor Ablauf ihrer Amtszeit nur kraft richterlicher Entscheidung und nur auf gesetzlicher Grundlage entlassen, dauernd oder zeitweise seines Amtes enthoben oder versetzt werden können ( Art. 97 Abs. 2 GG).

3. Gerichte sind grundsätzlich mit hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellten und damit i.S.d. Art. 97 Abs. 2 GG persönlich unabhängigen Richtern zu besetzen.

Genau, so ist das!

Die Bedeutung der richterlichen Unabhängigkeit für den Rechtsschutzauftrag der Gerichte und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz erfordert, dass die Gerichte grundsätzlich mit hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellten Richtern zu besetzen sind. Die Verwendung von Richtern ohne diese Garantie der persönlichen Unabhängigkeit muss die Ausnahme bleiben. Denn das Grundgesetz setzt als Normalfall Richter voraus, die unversetzbar und unabsetzbar sind (RdNr. 11).

4. Das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) gewährleistet, dass bei einer Entscheidung nur Richter mitwirken, die hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellt sind.

Ja, in der Tat!

Das Recht auf gesetzlichen Richter verlangt eine Entscheidung durch sachlich und persönlich unabhängige Richter. BVerfG: „Richter, die nach dem Maßstab des Art. 97 Abs. 2 GG nicht in vollem Umfang persönliche Unabhängigkeit genießen – insbesondere Richter auf Probe und Richter kraft Auftrags – dürfen nur aus zwingenden Gründen und auf das unverzichtbare Maß beschränkt herangezogen werden (RdNr. 12).“ Hier war ein Richter des Sozialgerichts bei der Entscheidung tätig, der an das LSG abgeordnet worden war. Dadurch könnte Bs Recht aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 verletzt sein, wenn keine rechtfertigenden Gründe vorliegen.

5. Ein Eingriff in das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) ist nie gerechtfertigt.

Nein!

Zwingende Gründe können einen Eingriff in Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG rechtfertigen. Zu diesen zählen nach der Rspr. des BVerfG z.B. die Notwendigkeit, Nachwuchs heranzubilden (Rechtfertigung für die Mitwirkung von Richtern auf Probe), oder die Einberufung von Richtern zur Eignungserprobung. Ferner können zwingende Gründe bestehen, wenn vorübergehend ausfallende planmäßige Richter durch die im Geschäftsverteilungsplan bestimmten Vertreter nicht hinreichend ersetzt werden können oder wenn ein zeitweiliger außergewöhnlicher Arbeitsanfall aufzuarbeiten ist (RdNr. 12). Der Einsatz nicht vollständig persönlich unabhängiger Richter ist allerdings nicht gerechtfertigt, wenn die Arbeitslast des Gerichts nicht bewältigt werden kann, weil die Justizverwaltung es versäumt hat, offene Planstellen binnen angemessener Frist zu besetzen oder weil das Gericht unzureichend mit Planstellen ausgestattet ist (RdNr. 12). Von Dir wird nicht erwartet, diese Rechtsprechung auswendig zu kennen! In der Klausur bestünde in der Herleitung zwingender sachlicher Gründe zur Rechtfertigung von Eingriffen in Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ein Schwerpunkt.

6. Diese vom BVerfG entwickelten Grundsätze finden auf die auf Lebenszeit ernannten Richter, die an ein anderen Gericht abgeordnet werden, keine Anwendung.

Nein, das ist nicht der Fall!

Zwar verfügen solche Richter bezogen auf ihre Stammdienststelle über persönliche Unabhängigkeit im Sinne des Art. 97 Abs. 2 GG. Soweit das Abgeordnetenverhältnis betroffen ist, sind sie durch diese aber nicht geschützt. Denn der Umstand, dass die Entscheidung über eine Abordnung sowie über sich ggf. anschließende Folgeabordnungen der Justizverwaltung obliegt, eröffnet dieser den kontrollierenden Zugriff darüber, ob der Richter seine Tätigkeit an dem anderen Gericht aufnehmen oder dort fortführen darf (RdNr. 14). Durch die Begrenzung solcher Einwirkungsmöglichkeiten soll der Gefahr des „Belohnens“ und „Abstrafens“ für ein bestimmtes Entscheidungsverhalten begegnet werden.

7. Die Abordnung eines Richters an ein höheres Gericht kann bei einer unzureichenden Ausstattung des Gerichts mit planmäßigen Richtern gerechtfertigt sein.

Nein, das trifft nicht zu!

Die unzureichende Ausstattung eines Gerichts mit planmäßigen Richtern rechtfertigt keine Abordnung von Richtern an höhere Gerichte. Es ist die Aufgabe des Haushaltsgesetzgeber, für eine zureichende Personalausstattung der Justiz insgesamt zu sorgen, und die Aufgabe der Justizverwaltung, die im Stellenplan des Haushaltsgesetzes ausgebrachten Planstellen den einzelnen Gerichten bedarfsgerecht zuzuweisen und zu besetzen (RdNr. 15 f.). Achtung: Im Einzelfall ist eine Abgrenzung erforderlich, ob eine unzureichende Personalausstattung des Gerichts vorliegt oder ein zeitweilig außergewöhnlicher Arbeitsaufwand. Letzterer kann nämlich eine vorübergehende Abordnung von Richtern rechtfertigen (RdNR. 15).

8. In diesem Fall erfolgte der mehrjährige Einsatz des abgeordneten Richters aufgrund einer unzureichenden Planstellenausstattung des LSG. Ist der Eingriff in Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG GG gerechtfertigt?

Nein!

Nach dem obigen Maßstab stellt eine unzureichende Personalausstattung des Gerichts keinen zwingenden Grund dar, der den Einsatz nicht vollständig persönlicher Richter rechtfertigen kann. Der Eingriff in Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ist somit vorliegend nicht gerechtfertigt.

9. Ist B in ihrem Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) verletzt?

Genau, so ist das!

Der zur Entscheidung berufene Senat des LSG war nach aus den oben genannten Gründen bei der Entscheidung über Bs Antrag auf Prozesskostenhilfe nicht ordnungsgemäß besetzt. B ist somit durch den versagenden Beschluss in ihrem Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt. Die Verfassungsbeschwerde der B hätte somit Erfolg gehabt, wurde aber im Originalfall nicht zur Entscheidung angenommen. Denn Bs Antrag wurde nachträglich noch stattgegeben, nachdem das Bundessozialgericht (BSG) B Recht gegeben und die Sache an das LSG zurückverwiesen hat. Dadurch sei Bs Rechtsschutzbedürfnis nachträglich entfallen und die Verfassungsbeschwerde unzulässig geworden. In Klausuren spielt das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) vor allem dann eine Rolle, wenn ein Gericht eine notwendige Vorlage an ein anderes Gericht, z.B. den EuGH nach Art. 267 Abs. 4 AEUV, unterlässt. Klausurthema ist die fehlerhafte Besetzung eines Gerichts vor allem im Assessorexamen.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

DAV

david1234

14.7.2024, 16:55:56

Danke für diese schöne Aufarbeitung! Die

Justizgrundrechte

sind mir noch nicht so auf dem Schirm gewesen, dazu ist dieser Fall perfekt. Ich hätte mir noch eine dogmatische Ergänzung/Vertiefung gewünscht, wieso dieses Recht eingeschränkt werden kann - im Vergleich m

it Grundrecht

en findet sich ja kein Möglichkeit der Einschränkung im Normtext.


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