Nachträgliche Gesamtstrafenbildung

23. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

A wird zu einem Monat Freiheitsstrafe verurteilt. Vor der Verhandlung sperrte er seine Frau im Keller ein (§ 239 Abs. 1 StGB) und lässt sie erst nach der Verkündung wieder frei. Dafür wird er in einem neuen Prozess zu zwei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Das bislang nicht vollstreckte frühere Urteil erwähnt das Gericht nicht.

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Einordnung des Falls

Nachträgliche Gesamtstrafenbildung

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Eine Gesamtstrafenbildung kann ausschließlich dann erfolgen, wenn mehrere Taten gleichzeitig abgeurteilt werden (§ 55 StGB).

Nein, das trifft nicht zu!

Unter den Voraussetzungen des § 55 StGB wird auch dann, wenn die Taten in unterschiedlichen Verfahren abgeurteilt werden, nachträglich eine Gesamtstrafe nach den §§ 53, 54 StGB gebildet. Dies soll vermeiden, dass es vom Zufall abhängt, ob eine Gesamtstrafe gebildet wird, weil mehrere Taten in einem einheitlichen Verfahren abgeurteilt werden, oder nicht. Der Umstand der einheitlichen oder getrennten Aburteilung soll weder zugunsten, noch zulasten des Beschuldigten wirken. Zugunsten des Beschuldigten würde dies wirken, wenn er durch die Einzelstrafen in den Genuss einer Bewährungsaussetzung käme, die ihm mit der Gesamtstrafe versagt bliebe (vgl. § 56 Abs. 2 StGB). Zu seinen Lasten würde die bloße Addition der Einzelstrafen unterschiedlicher Verfahren wirken.
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2. Die (unterbliebene) nachträgliche Gesamtstrafenbildung kann mit der Revision angegriffen werden.

Ja!

§ 55 Abs. 1 StGB verweist auf die §§ 53, 54 StGB und ist damit ebenso mit der Revision auf Rechtsfehler überprüfbar wie die reguläre Gesamtstrafenbildung. Die Norm ordnet auch zwingend die Bildung einer Gesamtstrafe an, wenn ihre Voraussetzungen vorliegen. Unterlässt das Tatgericht die Bildung der nachträglichen Gesamtstrafe, ist dies also ebenso revisibel.

3. Die nachträgliche Gesamtstrafenbildung setzt eine frühere rechtskräftige Verurteilung voraus (§ 55 Abs. 1 StGB).

Genau, so ist das!

Nur wenn die jetzt abzuurteilende Tat vor der früheren Verurteilung begangen wurde, hätte sie theoretisch in demselben Prozess verhandelt und abgeurteilt werden können. Verurteilung ist deshalb das Urteil in dem früheren Verfahren, in dem die zugrundeliegenden tatsächlichen Feststellungen letztmals geprüft werden konnten (§ 55 Abs. 1 S. 2 StGB). Dies kann ein erstinstanzliches Urteil, ein Strafbefehl, das Berufungsurteil oder die Entscheidung nach Zurückverweisung durch das Revisionsgericht sein, nicht aber das Revisionsurteil.

4. Die frühere Verurteilung darf nicht erlassen, verjährt oder vollstreckt sein (§ 55 Abs. 1 StGB).

Ja, in der Tat!

Zum Zeitpunkt des Erlasses des neuen Urteils darf sich das erste Urteil nicht erledigt haben: (1) Eine Freiheitsstrafe ist vollstreckt, wenn sie verbüßt wurde, eine Geldstrafe, wenn sie bezahlt oder die Ersatzfreiheitsstrafe verbüßt (§ 43 StGB) wurde oder sich durch Leistung freier Arbeit (Art. 293 EGStGB) erledigt hat. Als verbüßte Strafe gilt auch die auf sie angerechnete Freiheitsentziehung (§ 67 Abs. 4 StGB). (2) Die Vollstreckungsverjährung richtet sich nach §§ 79ff. StGB. (3) Ein Straferlass liegt bei endgültiger Begnadigung oder Amnestie vor.

5. Die jetzt abzuurteilende Tat muss vor der früheren Verurteilung nur vollendet sein, wohingegen es auf die Beendigung nicht ankommt.

Nein!

Der Angeklagte muss vor der Verkündung des früheren Urteils eine Straftat „begangen” haben. Die rechtshängige Tat muss damit vor Verkündung dieser Entscheidung nicht nur vollendet, sondern auch beendet gewesen sein. Nur dann war der Taterfolg in seinem vollen Umfang eingetreten und wäre einer vollständigen rechtlichen Bewertung durch das Tatgericht zugänglich gewesen. Nur dann hätte die Tat auch theoretisch in demselben Prozess verhandelt werden können.

6. Das Urteil ist rechtsfehlerhaft, wenn das Gericht eine zwingende Gesamtstrafenbildung unterlässt. Hätte das Tatgericht hier eine nachträgliche Gesamtstrafe bilden müssen (§ 55 StGB)?

Nein, das ist nicht der Fall!

Die nachträgliche Gesamtstrafe ist zwingend zu bilden, wenn die Freiheitsberaubung (§ 239 StGB) „begangen”, also beendet war, bevor das frühere Urteil verkündet wurde, die gegen den Täter verhängte frühere Strafe rechtskräftig ist und sich nicht vollständig erledigt hat. Problematisch ist hier, ob A die Tat vor der Verkündung des früheren Urteils „begangen” hat. Die Freiheitsberaubung war mit dem Einsperren der Ehefrau bereits vor dem Urteil vollendet. Jedoch ist die Freiheitberaubung als Dauerdelikt erst mit dem Freilassen der Ehefrau beendet. Da die Beendigung erst nach der Urteilsverkündung eintrat, ist das erste Urteil nicht gesamtstrafenfähig. Das hiesige Urteil ist nicht rechtsfehlerhaft, da keine nachträgliche Gesamtstrafe zu bilden war.
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