+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Erzieherin E ist muslimischen Glaubens und trägt während ihrer Arbeit in einer kommunalen Kindertagesstätte aus religiösen Gründen ein Kopftuch. Chef C mahnt E mit Verweis auf § 7 des Kindertagesbetreuungsgesetzes ab, welches ein Neutralitätsgebot für Kindertagesstätten postuliert. E klagt erfolglos auf Entfernung der Abmahnung aus ihrer Akte und zieht sodann vor das BVerfG.
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Einordnung des Falls
Kopftuch 4: Erzieherin mit Kopftuch
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Das BVerfG überprüft als letzte Instanz die ordnungsgemäße Anwendung des einfachen Rechts durch die Fachgerichte.
Nein, das trifft nicht zu!
Die Anwendung des einfachen Rechts ist Aufgabe der Fachgerichte. Das BVerfG überprüft deren ordnungsgemäße Anwendung des einfachen Rechts nicht, kontrolliert jedoch im Einzelfall, ob die Fachgerichte in ihren Entscheidungen die Bedeutung und Tragweite der betroffenen Grundrechte ausreichend beachtet haben. Ein Grundrechtsverstoß liegt dann vor, wenn die Fachgerichte bei Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts Grundrechte gar nicht oder nicht ausreichend beachtet haben. Wichtig: Das BVerfG ist keine Superrevisionsinstanz der Anwendung und Auslegung des einfachen Rechts, sondern ausschließlich dafür zuständig, einfachgerichtliche Entscheidungen auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz zu überprüfen.
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2. Die Abmahnung E gegenüber stellt einen Eingriff in den Schutzbereich ihrer Glaubensfreiheit dar.
Ja!
Die Glaubensfreiheit schützt in ihrer Ausprägung der Bekenntnisfreiheit die Freiheit des Einzelnen, seinen Glauben im Wege religiös geprägter Meinungsäußerung in Wort, Schrift oder symbolisch nach außen kundzutun. Dieser Schutzbereich ist, angelehnt an den modernen Eingriffsbegriff betroffen, wenn der Staat eine der geschützten Verhaltensweisen in irgendeiner Weise regelt oder faktisch behindert. Die Abmahnung an E, ihr Kopftuch aufgrund des Neutralitätsgebots während ihrer Arbeit als Erzieherin nicht mehr zu tragen, hindert sie an der Befolgung der Kleidungsvorschriften ihrer Religion und damit in ihrer Bekenntnisfreiheit. Die Abmahnung stellt somit einen Eingriff in den Schutzbereich von Es Glaubensfreiheit dar.
3. Die Untersagung des Tragens eines Kopftuchs im Dienst stellt laut BVerfG einen schwerwiegenden Eingriff in Es Glaubensfreiheit dar.
Genau, so ist das!
Die Abmahnung stellt aufgrund des von E als verpflichtend empfundenen religiösen Bedeckungsgebots laut BVerfG einen schwerwiegenden Eingriff in ihre Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) dar. Denn das islamische Bedeckungsgebot ist keine religiöse Empfehlung, deren Befolgung individuell disponibel oder aufschiebbar ist, sondern vielmehr ein imperatives religiöses Gebot. Verbietet der Arbeitgeber das Kopftuchtragen am Arbeitsplatz, kann ein solches Verbot vor dem Hintergrund der persönlichen Identität des Grundrechtsträgers den Zugang zum Beruf potentiell verstellen (Art. 12 Abs. 1 GG). Daher greift das Verbot trotz seiner zeitlichen und örtlichen Begrenzung auf die Kindertagesstätte laut BVerfG mit erheblich großem Gewicht in die Glaubensfreiheit ein.
4. § 7 des Kindertagesbetreuungsgesetzes, welches ein Neutralitätsgebot für Kindertagesstätten postuliert, stellt eine taugliche Ermächtigungsgrundlage für den Eingriff in Es Glaubenfreiheit dar.
Ja, in der Tat!
Ein Eingriff in die Glaubensfreiheit kann auf Grundlage konkurrierenden Verfassungsrechts gerechtfertigt werden. Eine Einschränkung der Glaubensfreiheit muss jedoch aufgrund des Vorbehalts des Gesetzes auf Grundlage eines seinerseits verfassungsmäßigen formellen Gesetzes, wie etwa § 7 Kindertagesbetreuungsgesetz, erfolgen.
5. Das BVerfG muss im Rahmen der Rechtfertigung Es Glaubensfreiheit mit der negativen Glaubensfreiheit der betreuten Kinder, dem staatlichen Neutralitätsgebot und dem elterlichen Erziehungsrecht in Einklang bringen.
Ja!
Das Tragen eines Kopftuchs durch die Erzieherin im Rahmen ihres Tätigkeitsbereichs in der Kindertagesstätte steht im Widerstreit zu verschiedenen kollidierenden Verfassungsgütern, darunter dem durch den Gesetzgeber verfolgten Grundsatz staatlicher Neutralität, der negativen Glaubensfreiheit der betreuten Kinder (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) sowie dem elterlichen Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG). Diese widerstreitenden Interessen hat das BVerfG im Rahmen einer Abwägung in einen schonenden und gerechten Ausgleich zu bringen (praktische Konkordanz).
6. Der Eingriff in Es Glaubensfreiheit wiegt so schwer, dass eine Abwägung im Einzelfall nicht notwendig ist.
Nein, das ist nicht der Fall!
Im Rahmen der Rechtfertigung gilt es, die widerstreitenden Schutzgüter durch eine Abwägung in einen möglichst schonenden und gerechten Ausgleich zu bringen. Dabei ist eine sorgfältige Abwägung im Einzelfall unverzichtbar vorzunehmen, auch für den Fall, dass ein bestimmter Eingriff besonders schwer wiegt. Nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz müssen die widerstreitenden Positionen durch die Einzelfallabwägung so in einen Ausgleich gebracht werden, dass beide Positionen jeweils ihre größtmögliche Geltung entfalten. In die Abwägung darf und muss natürlich einfließen, wenn ein erfolgter Eingriff besonders schwer wiegt. Ein solcher ersetzt jedoch niemals die Abwägung im Einzelfall, sondern stellt lediglich einen Aspekt der Abwägung dar, welcher die Anforderungen an eine Rechtfertigung verschärft!
7. Die negative Glaubensfreiheit der Kinder ist durch das Kopftuchtragen der E betroffen, da sie vor Konfrontation mit anderen Religionen schützt.
Nein, das trifft nicht zu!
Die negative Glaubensfreiheit ist die Freiheit, keine religiöse oder weltanschauliche Überzeugung zu bilden bzw. diese ablehnen zu dürfen. Nicht geschützt ist das Recht, überhaupt nicht mit der Religion oder den Überzeugungen anderer konfrontiert zu sein. Es gibt keinen Konfrontationsschutz, jedoch einen Schutz vor übergriffigem Verhalten und Zwang durch andere. Die negative Glaubensfreiheit der Kinder, die die Kindertagesstätte besuchen, ist durch das Kopftuchtragen der E nicht betroffen. Dies gilt, solange E nicht verbal für ihre Position oder für ihren Glauben wirbt und die betreuten Kinder über ihr Auftreten hinausgehend zu beeinflussen versucht. Denn ein Schutz vor Konfrontation mit anderen Religionen besteht im Rahmen der negativen Glaubensfreiheit nicht. Diese Erwägungen gelten spiegelbildlich auch für das Elterngrundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, welches die Pflege und Kindeserziehung als natürliches Recht, auch in religiöser Hinsicht, garantiert. Auch hieraus ergibt sich jedoch kein Anspruch der Eltern, ihre Kinder generell von Erzieherinnen fernzuhalten, die einer verbreiteten religiösen Bedeckungsregel folgen, von denen jedoch kein beeinflussender Effekt ausgeht.
8. Der Grundsatz staatlicher Neutralität verbietet die Zurschaustellung jedweder Religionen im staatlichen Bereich, wie etwa einer kommunalen Kindertagesstätte.
Nein!
Der Grundsatz staatlicher Neutralität verbietet sowohl die Einführung einer Staatskirche, als auch die Privilegierung bestimmter Religionen und die damit verbundene Ausgrenzung anderer. Der Grundsatz verpflichtet den Staat, auf eine Gleichbehandlung aller Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu achten und hinzuwirken. Das BVerfG versteht den Grundsatz als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung, die es gebietet, Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung zu halten. Der Grundsatz staatlicher Neutralität verbietet somit gerade nicht die gleichberechtigte Zurschaustellung verschiedener Religionen, sondern vielmehr eine staatliche Vor-oder Benachteiligung einzelner ausgewählter Religionen.
9. Die Abmahnung der E ist im Ergebnis verfassungsrechtlich gerechtfertigt.
Nein, das ist nicht der Fall!
Der Glaubensfreiheit muss bei der Abwägung der widerstreitenden Positionen nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz größtmögliche Geltung zukommen. Dabei muss ein Eingriff verhältnismäßig sein, das heißt eine die Glaubensfreiheit einschränkende Maßnahme darf nicht außer Verhältnis zum verfolgten Zweck stehen. Wird ein religiöses Kleidungsstück im Dienst getragen und besteht dadurch keine konkrete Gefahr für die staatliche Neutralität oder die Grundrechte Dritter, ist ein Eingriff in die Glaubensfreiheit des Grundrechtsträgers unverhältnismäßig und damit ungerechtfertigt. Die Rechtsprechung hat entschieden, dass allein der Umstand, dass eine Erzieherin ein Kopftuch im staatlichen Erziehungsdienst trägt, nicht ausreicht, um von einer solch konkreten Gefahr auszugehen. Es einziger vermeintlicher Fehltritt am Arbeitsplatz liegt nach Chef C im Tragen eines Kopftuchs. Vom Kopftuchtragen allein geht jedoch noch keine konkrete Gefahr für den Grundsatz der staatlichen Neutralität oder Grundrechte Dritter aus. Auch sind weder die negative Glaubensfreiheit anderer noch der Grundsatz staatlicher Neutralität berührt, weshalb die Abmahnung der E nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Das BVerfG erreicht dieses Ergebnis unter anderem durch eine einschränkende Auslegung der einfachgesetzlichen Norm (§ 7). Mehr dazu im Urteil selbst in Randnummer 71!