Kopftuch 5: Referendarin mit Kopftuch

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Rechtsreferendarin R trägt als Ausdruck ihrer individuellen Glaubensüberzeugung ein Kopftuch. Oberstaatsanwalt O verbietet R, gestützt auf einen entsprechend auslegungsbedürftigen ministeriellen Erlass des Landes L, im Rahmen ihrer Ausbildung bei Gericht als Vertreterin für die Staatsanwaltschaft aufzutreten.

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Einordnung des Falls

Kopftuch 5: Referendarin mit Kopftuch

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Referendare, die wie R in einem öffentlich-rechtlichen Ausbildungsverhältnis stehen, können sich auf die Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) berufen.

Ja, in der Tat!

Hinsichtlich der Anwendbarkeit von Grundrechten ist anerkannt, dass diese auch in sogenannten Sonderrechtsverhältnissen gelten, also in Fällen, in denen der Grundrechtsberechtigte in einem besonderen Näheverhältnis zum Staat steht. Rechtsreferendarin R steht durch ihr öffentlich-rechtliches Ausbildungsverhältnis mit Land L in einem besonderen Näheverhältnis zum Staat, wodurch ihre Grundrechtsberechtigung jedoch nicht infrage gestellt wird. R kann sich daher auf die Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) berufen.
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2. Die Glaubensfreiheit schützt das Tragen eines Kopftuchs in der Öffentlichkeit nur insofern, als dass im Islam Konsens über diese Verpflichtung besteht.

Nein!

Ein Verhalten fällt unter die religiöse Betätigungsfreiheit, wenn es nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild eine religiös motivierte Handlung. Ob dies der Fall ist, richtet sich auch nach dem Selbstverständnis der betroffenen Religion. Das bedeutet, das jeweilige Verhalten muss nach geistigem Gehalt und äußerer Erscheinung als Glaubensregel der betreffenden Religion plausibel erscheinen. Es reicht jedoch aus, dass ein Verhalten unter verschiedenen Richtungen einer Religionsgemeinschaft verbreitet ist. Es muss kein uneingeschränkter Konsens innerhalb der Gemeinschaft bestehen. Das Kopftuchtragen wird von der Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) geschützt. Dem steht nicht entgegen, dass im Islam kein uneingeschränkter Konsens über die Verpflichtung des Tragens eines Kopftuchs in der Öffentlichkeit besteht.

3. Der Verbotserlass stellt keinen Eingriff in die Glaubensfreiheit dar, da R ihr Kopftuch weiterhin jederzeit außerhalb ihrer Arbeit bei Gericht tragen kann.

Nein, das ist nicht der Fall!

Der Schutzbereich der Glaubensfreiheit ist betroffen, wenn der Staat eine der von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützten Verhaltensweisen in irgendeiner Weise regelt oder faktisch behindert. Notwendig ist nicht, dass die Ausübung des Grundrechts vollständig unmöglich wird. Vielmehr reicht bereits eine zeitliche, örtliche oder sonstige Beschränkung der Ausübung aus, damit ein Schutzbereichs-Eingriff vorliegt. Das Kopftuch-Verbot für R hindert sie an der Befolgung der Kleidungsvorschriften ihrer Religion, da sie das Kopftuch in ihrer Funktion als Rechtsreferendarin bei Gericht nicht tragen darf. Dieser Beurteilung steht nicht entgegen, dass R ihr Kopftuch weiterhin anderweitig tragen darf. Der Erlass stellt somit einen Eingriff in den Schutzbereich von Rs Glaubensfreiheit dar.

4. Ein ministerieller Erlass ist als Akt der Exekutive generell dazu geeignet, die Glaubensfreiheit zu beschränken.

Ja, in der Tat!

Die Glaubensfreiheit enthält keinen Gesetzesvorbehalt, sondern ist ausschließlich auf Grundlage konkurrierenden Verfassungsrechts einschränkbar. Diese Einschränkung muss jedoch aufgrund des Vorbehalts des Gesetzes auf Grundlage eines seinerseits verfassungsmäßigen formellen Gesetzes oder eines darauf basierenden materiellen Gesetzes erfolgen. Ein ministerieller Erlass stellt als Akt der Exekutive somit generell eine taugliche Ermächtigungsgrundlage für den Eingriff in die Glaubensfreiheit dar, sofern er verfassungsmäßig ist.

5. Der ministerielle Erlass ist auslegungsbedürftig und damit zu unbestimmt, um als Rechtsgrundlage für den Eingriff zu taugen.

Nein!

Eine Einschränkung der Glaubensfreiheit muss aufgrund des Vorbehalts des Gesetzes auf Grundlage eines seinerseits verfassungsmäßigen formellen Gesetzes oder eines darauf basierenden materiellen Gesetzes erfolgen, die ihrerseits sowohl formell als auch materiell verfassungsmäßig sind. Die notwendige Bestimmtheit einer Rechtsgrundlage fehlt jedoch nicht schon deshalb, weil eine Norm auslegungsbedürftig ist. Vielmehr ist die Grundlage bestimmt genug, wenn sie einer Auslegung mit herkömmlichen juristischen Methoden zugänglich ist.

6. Das Kopftuchtragen durch Referendarin R bei Gericht stellt eine Beeinträchtigung des staatlichen Neutralitätsgrundsatzes dar, der gegen die Glaubensfreiheit der R abzuwägen ist.

Genau, so ist das!

Der Grundsatz staatlicher Neutralität verbietet die staatliche Vor-oder Benachteiligung einzelner ausgewählter Religionen durch staatliche Amtsträger. Jedoch sind nicht alle religiös motivierten Handlungen oder Bekenntnisse dem Staat auch zurechenbar. So kann nicht schon aus der Duldung religiös motivierter Kleidung im staatlichen Bereich auch ein staatliches Bekenntnis abgeleitet werden. Nimmt der Staat jedoch auf das Äußere einer Amtshandlung Einfluss, wie etwa durch den Robenzwang für einzelne Akteure vor Gericht, so sind ihm abweichende Verhaltensweisen einzelner Amtsträger auch eher zurechenbar. Besonderes bei Gericht handelt es sich um eine von Distanz und Gleichmaß geprägte formalisierte Situation, die dem einzelnen Amtsträger eine klar definierte Rolle zuweist. Diese wird auch mithilfe von Kleidungsvorschriften gekennzeichnet. Das Tragen eines islamischen Kopftuchs durch die Rechtsreferendarin R bei Gericht kann dem Staat als Beeinträchtigung des staatlichen Neutralitätsgrundsatzes zugerechnet werden, steht gerade in diesem Bereich eine unter anderem durch Kleidungsvorschriften betonte formalisierte staatliche Rolle des Amtsträgers im Vordergrund. Dessen Gewicht muss gegen Rs Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) abgewogen werden.

7. Neben dem Grundsatz der staatlichen Neutralität ist auch die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege als widerstreitend mit Rs Glaubensfreiheit in Einklang zu bringen.

Ja, in der Tat!

Die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege gehört zu den Grundbedingungen des Rechtsstaats und setzt voraus, dass gesellschaftliches Vertrauen in die Justiz als Ganzes, unabhängig vom Personal im Einzelnen, existiert. Der Staat hat auf dessen Förderung, etwa durch durch den Erlass von Formalisierungsbestimmungen, die die Neutralität der Justiz aus Sicht eines objektiven Dritten unterstreichen, hinzuwirken. Darunter fallen etwa auch Verbote religiöser und weltanschaulicher Bekundungen, die im besten Fall zur Stärkung des Vertrauens in die Neutralität der Justiz insgesamt beitragen. Sie stehen in Widerstreit mit der Glaubensfreiheit des Einzelnen (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) und in einen entsprechend schonenden Ausgleich zu bringen.

8. Die negative Glaubensfreiheit der Verfahrensbeteiligten ist mit der positiven Glaubensfreiheit der R in Einklang zu bringen.

Ja!

Die negative Glaubensfreiheit ist die Freiheit, keine religiöse oder weltanschauliche Überzeugung zu bilden bzw. diese ablehnen zu dürfen. Nicht geschützt ist das Recht, überhaupt nicht mit der Religion oder den Überzeugungen anderer konfrontiert zu sein, es gibt also keinen Konfrontationsschutz. Anders zu beurteilen ist dies jedoch im staatlichen Bereich, wie der Justiz, wo der Staat dem Bürger klassisch-hoheitlich und daher mit größerer Beeinträchtigungswirkung gegenübertritt. Verbietet der Staat religiöse Symbole hier nicht, ist der Bürger diesen unausweichlich ausgesetzt, sodass die negative Glaubensfreiheit berührt ist. Die negative Glaubensfreiheit der Verfahrensteilnehmer bei Gericht ist durch das Kopftuchtragen der R betroffen, können diese sich einer Ladung in der Regel nicht entziehen. Sie ist daher mit der positiven Glaubensfreiheit der R in Einklang zu bringen.

9. Ist das Verbot des Kopftuchtragens von Referendarin R bei Gericht im Ergebnis verfassungsrechtlich gerechtfertigt?

Genau, so ist das!

Im Wege der praktischen Konkordanz müssen die widerstreitenden Güter von Verfassungsrang und Grundrechte Dritter, wie die negative Glaubensfreiheit, der staatliche Neutralitätsgrundsatz sowie die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege mit der Glaubensfreiheit in einen schonenden und gerechten Ausgleich gebracht werden. Auf der einen Seite stehen die negative Glaubensfreiheit der Verfahrensteilnehmer sowie der staatliche Neutratlitätsgrundsatz, die durch das Kopftuchtragen der R bei Gericht berührt werden. Auch hat der Staat bestmöglich darauf hinzuwirken, die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege durch die Stärkung von Vertrauen in das Justizsystem, etwa durch Neutralitätsverpflichtungen, zu optimieren. Demgegenüber steht die Glaubenfreiheit der R, deren Ausbildung als Juristin auch gewahrt werden kann, wenn sie keine Sitzungsvertretung der Staatsanwaltschaft ausübt, sondern anderweitig ausgebildet wird. Ein Kopftuchverbot im Rahmen der Staatsanwaltschaft- und Gerichtsstation stellt lediglich einen eher kleinen Teil ihrer Gesamtausbildung dar, sodass Rs Glaubensfreiheit hinter den widerstreitenden Verfassungsgütern zurücksteht und das Kopftuchverbot insgesamt verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann. Details zur Begründung des BVerfG findest Du im Urteil, welches in den Quellen angegeben ist!
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