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Anspruch auf Öffentlichkeit des Verfahrens (Pechstein) (BVerfG, Beschl. v. 12.06.2022 - 1 BvR 2103/16)

Anspruch auf Öffentlichkeit des Verfahrens (Pechstein) (BVerfG, Beschl. v. 12.06.2022 - 1 BvR 2103/16)

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Sportlerin P wurde vom Sportverband (S) wegen angeblichen Dopings von einem Wettbewerb ausgeschlossen. P hielt die Sperre für rechtswidrig und ging vor dem Sportschiedsgericht (CAS), später auch vor deutschen Gerichten dagegen vor. P rügte, im CAS-Verfahren mangle es an Rechtsstaatlichkeit.

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Einordnung des Falls

Anspruch auf Öffentlichkeit des Verfahrens (Pechstein) (BVerfG, Beschl. v. 12.06.2022 - 1 BvR 2103/16)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Ps Klage wurde letztinstanzlich vom BGH abgelehnt. Er sei unzuständig, da P mit S eine Schiedsvereinbarung eingegangen sei, die die Zuständigkeit des CAS bestimme. Kann P gegen das BGH-Urteil Verfassungsbeschwerde erheben?

Ja!

Gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG und §§ 13 Nr. 8a, 90ff BVerfGG ist das BVerfG zuständig und der Rechtsweg zu ihm eröffnet bei Individualverfassungsbeschwerden von jedermann (tauglicher Beschwerdeführer) gegen einen Akt der öffentlichen Gewalt (tauglicher Beschwerdegegenstand). P ist als natürliche Person „jedermann“ und damit taugliche Beschwerdeführerin. Sie wendet sich gegen das letztinstanzliche Urteil des BGH im Verfahren gegen S. Bei dem Urteil handelt es sich um einen Akt öffentlicher (Judikativ-)Gewalt, also um einen tauglichen Beschwerdegegenstand. P kann Individualverfassungsbeschwerde zum BVerfG erheben.
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2. P rügt: das CAS-Verfahren habe grundlegende rechtsstaatliche Mängel und die Schiedsvereinbarung daher nichtig. In Deutschland sei ihr staatlicher Rechtsschutz verweigert worden. Ist P beschwerdebefugt?

Genau, so ist das!

Ein Beschwerdeführer ist beschwerdebefugt, wenn er geltend machen kann, durch den Akt öffentlicher Gewalt möglicherweise selbst, gegenwärtig und unmittelbar in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt zu sein. P rügt Verletzungen ihres Justizgewährungsanspruch (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) und ihres Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG), da ihr in Deutschland staatlicher Rechtsschutz gegen die rechtswidrige Dopingsperre verweigert werde (RdNr. 24). Das Urteil des CAS leide wegen fehlender Öffentlichkeit des Verfahrens und wegen fehlerhafter Auswahl der Schiedsrichter an rechtsstaatlichen Mängeln. Es scheint zumindest möglich, dass der BGH dies missachtet und P daher in ihren Rechten auf einen gesetzlichen Richter und auf Justizgewährung verletzt hat. P ist beschwerdebefugt.

3. P hatte bereits im Verfahren vor dem CAS einen Antrag auf öffentliche Verhandlung gestellt. Zivilgerichtlich hat sie die Mängel des CAS-Verfahrens gerügt. Hat P die Subsidiaritätsanforderungen gewahrt?

Ja, in der Tat!

Der Grundsatz der Subsidiarität des BVerfG besagt, dass eine Verfassungsbeschwerde nur dann zulässig ist, wenn (1) der Beschwerdeführer alle zumutbaren prozessualen Maßnahmen ergriffen hat, um die Verletzung zu beseitigen, und (2) bereits im fachgerichtlichen Verfahren substantiiert zu der Verletzung vorgetragen hat. Unabhängig davon, ob die Subsidiaritätsanforderungen sich nur auf den ordentlichen Rechtsweg vor staatlichen Gerichten beziehen, oder sich auch auf das schiedsgerichtliche Verfahren erstrecken, hat P die Anforderungen gewahrt (RdNr. 31): sie hatte im CAS-Verfahren die Herstellung der Öffentlichkeit beantragt und deren Fehlen im fachgerichtlichen Verfahren gerügt. Andere prozessualen Möglichkeiten hat P nicht mehr. Der Subsidiarität wurde genügt. Alle anderen Zulässigkeitsvoraussetzungen sind unproblematisch gegeben. Ps Verfassungsbeschwerde ist zulässig.

4. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn das letztinstanzliche BGH-Urteil P in einem ihrer Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt.

Ja!

Eine Urteilsverfassungsbeschwerde ist begründet, wenn das letztinstanzliche Gericht, hier der BGH, die Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte des Beschwerdeführers verletzt hat. Die Grundrechte strahlen durch Generalklauseln als objektive verfassungsrechtliche Wertentscheidungen auch in das Zivilrecht ein. Daher wird das Urteil durch das BverfG auf grundlegende Verfassungsverstöße überprüft: (1) Nichtbeachtung eines in Betracht kommenden Grundrechts, (2) Fehlbewertung der Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts, (3) Verletzung von Justizgrundrechten. Die Anwendung und Auslegung einfachen Rechts prüft das BVerfG nicht, denn es ist keine Superrevisionsinstanz. Der BGH hatte in seiner Prüfung Ps Justizgewähranspruch berücksichtigt und den prüfungsumfang richtig erfasst (RdNr. 43). Fraglich ist allein eine Fehlbewertung durch den BGH.

5. Ob Ps Grundrechte verletzt wurden hängt davon ab, welchen Anforderungen ein schiedsgerichtliches Verfahren genügen muss. Muss es rechtsstaatliche Standards, zum Beispiel effektiven Rechtsschutz, erfüllen?

Genau, so ist das!

Ein rechtsstaatliches Gerichtsverfahren erfasst die Garantie effektiven Rechtsschutzes, also den allgemeinen Justizgewährungsanspruch (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) und das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG). Die Zuständigkeit staatlicher Gerichte ist abdingbar durch eine vertragliche Schiedsvereinbarung. Das Recht auf Wahl eines Schiedsgerichts wird von Art. 2 Abs. 1, 12 Abs. 1 GG (Vertragsfreiheit) geschützt (RdNr. 39). Die Zuständigkeit von Schiedsgerichten hat allerdings Grenzen: Es muss ebenso rechtsstaatlichen Grundsätzen genügt wie ein staatliches Gerichtsverfahren (RdNr. 40). Das bedeutet auch, dass Schiedsgerichtsverfahren den Gewährleistungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) genügen müssen (RdNr. 35). P hatte nach dem CAS-Urteil wegen der fehlenden Öffentlichkeit Klage zum EGMR erhoben und dieser hatte einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK festgestellt (RdNr. 43).

6. Aufgrund der Vertragsfreiheit zur Schiedsabrede (Art. 2 Abs. 1, 12 Abs. 1 GG) kann die Ausgestaltung des Schiedsverfahrens einseitig von einem der Vertragspartner vorgegeben werden.

Nein, das trifft nicht zu!

Das Schiedsverfahren muss rechtsstaatliche Mindeststandards einhalten. Daher muss die Vertragsfreiheit eingeschränkt werden, sodass nicht einer der beiden Vertragspartner den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen kann (RdNr. 41). Es müsse verhindert werden, dass für einen Vertragsteil die Selbstbestimmung (Vertragsfreiheit) zur Fremdbestimmung (durch den stärkeren Vertragsteil) werde. Es brauche daher eine normative Ausgestaltung des Verfahrens, die die kollidierenden Grundrechtspositionen in Ausgleich bringt (praktische Konkordanz). P rügte ein Ungleichgewicht zwischen den Vertragspartnern der Schiedsabrede: S und P. P argumentierte, sie sei zur Ausübung ihres Berufs darauf angewiesen, die Schiedsvereinbarung zu unterzeichnen (RdNr. 43). Dabei handle es sich um ein faktisch einseitiges Diktat der Vereinbarung aufgrund der beherrschenden Stellung des S.

7. Das Schiedsverfahren vor dem CAS findet ohne Beteiligung der Öffentlichkeit statt. Ist es normativ so ausgestaltet, dass es das Rechtsstaatsprinzip hinreichend wahrt?

Nein!

Das Öffentlichkeitsprinzip ist wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips. Die Gerichtsöffentlichkeit stellt eine öffentlichen Kontrolle zum Schutz vor Geheimjustiz dar und soll die Wahrung formellen und materiellen Rechts gewährleisten (RdNr. 44). Das ergibt sich auch aus Art. 6 Abs. 1 EMRK, die als Auslegungshilfe heranzuziehen ist (RdNr. 45). Schon das EGMR-Urteil, das CAS-Verfahren wahre nicht Art. 6 Abs. 1 EMRK, indiziert, dass das Verfahren auch rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht genügt, denn die beiden Anforderungsmaßstäbe decken sich (RdNr. 46). Ein Ausnahmefall, in dem von einer mündlichen Verhandlung sowohl nach EMRK als auch nach staatlichem Recht abgesehen werden kann, lag nicht vor (RdNr. 48). Die CAS-Statuten sahen eine öffentliche Verhandlung nicht vor. Folglich war das Verfahren normativ nicht rechtsstaatlich ausgestaltet (RdNr. 49).

8. Die CAS-Richter werden zu zwei Teilen von den Parteien ernannt, der dritte Teil stammt aus einem Gremium, welches durch Sportverbände wie S gewählt wurde. Auch dies verstößt gegen das Rechtsstaatsprinzip.

Genau, so ist das!

Die Benennung der Schiedspersonen muss neutral erfolgen: die richterliche Tätigkeit ist von unbeteiligten Dritten auszuüben (RdNr. 53). Diese Anforderung werde von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG als Teil des Rechtsstaatsprinzips gewährleistet. Auch die Ausgestaltung von Schiedsgerichten muss rechtsstaatlichen Grundsätzen gerecht werden (RdNr. 53). Da im CAS der dritte Richter aus einem Gremium ernannt wird, welches durch S und andere Verbände bestimmt wird (RdNr. 3f), steht die Kammer einer Partei (S) näher als der anderen Partei (P). Dies verstößt gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. Im Originalfall hatte das BVerfG diese Frage angesprochen aber offengelassen, da ein Verstoß gegen das Öffentlichkeitsgebot schon ausreichte, um einen Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip festzustellen. In Deiner Klausur schreibst du ein Gutachten und musst den Fall unter allen in Betracht kommenden Gesichtspunkten untersuchen. Du kannst alles vertreten.

9. Weil das CAS-Verfahren gegen Mindestverfahrensgrundsätze des Rechtsstaatsprinzips verstößt, ist die Schiedsvereinbarung nichtig (§ 134 BGB) und Ps Verfassungsbeschwerde begründet.

Ja, in der Tat!

Die Schiedsvereinbarung zwischen P und S war nach § 134 i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3, 2 Abs. 1, 101 Abs. 1 S. 2 GG) nichtig. Folglich ist die Zuständigkeit der deutschen Zivilgerichtsbarkeit nicht vertraglich ausgeschlossen. Der BGH hat eine verfassungsrechtliche Fehlbewertung von Ps Grundrechten vorgenommen. Durch das Urteil wurde P in ihren Grundrechten verletzt. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet und erfolgreich. In der Folge wird das Verfahren an das OLG zurückverwiesen (RdNr. 52) und P kann Schadensersatz und Schmerzensgeld wegen der mutmaßlich rechtswidrigen Dopingsperre verlangen. Im Originalfall gab das BVerfG der Verfassungsbeschwerde durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung statt (§ 93 c Abs. 1 S. 1 BVerfGG). Das geht dann, wenn die Verfassungsbeschwerde zulässig und offensichtlich begründet ist und wenn das BVerfG die entscheidungserheblichen Fragen bereits vorher entschieden hatte (RdNr. 30).
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